Wege aus der Gewalt - vier Vorschläge
Rede von Pfarrer Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh beim Ostermarsch 2001 in Kassel
Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Weggefährtinnen und Weggefährten des diesjährigen Ostermarsches,
seit 1993 lädt das Komitee für Grundrechte und Demokratie unter dem Motto "Ferien vom Krieg" Kinder aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien zu einem gemeinsamen Sommercamp an der Adria ein. Inzwischen haben über 10000 vom Krieg traumatisierte Jungen und Mädchen, Kroatinnen und Serben, Albaner und Bosnierinnen daran teilgenommen. Sie leben zwei Wochen zusammen, spielen, reden, basteln, malen, schwimmen. Eine deutsche Betreuerin schreibt: "Als ich eine Gruppe aus Gornji Vakuf, einer zwischen Muslimen und Kroaten geteilten Stadt, vor drei Jahren besuchte, lagerten die kroatischen und muslimischen Kinder am Strand weit voneinander entfernt, saßen im Speisesaal getrennt, usw. Damals dachte ich, wenn da ein Kind ertrinken würde, würden sie erst fragen, wo es herkommt, ehe sie es retten." Im letzten Sommer schlossen zumindest die Kinder schon Freundschaft, wenn auch die Betreuerinnen und Betreuer sich noch getrennt hielten, dieses Jahr war auch unter ihnen kaum noch auszumachen, wer von welcher Seite kam.
Gewalt läßt sich überwinden! Das ist das erste, was mir heute morgen hier wichtig ist. Selbst unter solch schwierigen Bedingungen, selbst wenn Menschen so schreckliche Erfahrungen miteinander gemacht haben wie im ehemaligen Jugoslawien, ist das möglich. Allerdings müssen wir es wollen und etwas dafür tun: Wir dürfen nicht belohnen, dass Menschen sich von einander abgrenzen, wir dürfen die an einem Konflikt Beteiligten nicht möglichst schnell in gut und böse einteilen und dementsprechend unterstützen oder bestrafen. Gewalt läßt sich überwinden, wenn wir Zeit, Kraft und Geld dafür einsetzen, wenn wir Raum für Begegnungen schaffen.
Der Weltrat der Kirchen hat beschlossen, sich von 2001 bis 2011 darum zu bemühen: "Gewalt zu überwinden". Zehn Jahre lang wollen, sollen, werden die christlichen Kirchen dieses Thema in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen, sollen Kirchen überall auf der Welt gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppen danach fragen: Was ist Gewalt? Wie kann es gelingen, Gewalt zu überwinden? Was können wir dazu beitragen?
Heute beim Ostermarsch haben wir vor allem militärische Gewalt im Blick. Die gibt es immer noch, auch wenn der Kommentar auf der ersten Seite der HNA gestern so tat, als sei das kein Problem mehr, als gäbe es keinen Anlaß mehr, sich kritisch mit militärischer Gewalt auseinander zu setzen. Die Konflikte sind unübersichtlicher geworden, aber die Anwendung von militärischer Gewalt zwischen Staaten und in inner-staatlichen Auseinandersetzungen hat nicht abgenommen.
Im Gegenteil: nach dem Ende des Ost-West Gegensatzes scheint militärische Gewalt wieder hoffähig zu werden. Kriege werden zu Interventionen verharmlost und durch ihren guten Zweck gerechtfertigt. Das beste Beispiel war der Krieg gegen Jugoslawien 1999. Eine humanitäre Katastrophe sollte abgewendet werden, ein Mindeststandard an Menschenrechten für alle Menschen im Kosovo gesichert werden. Gute, ehrenwerte Ziele. Wieder einmal schien es leichter, auch in der Öffentlichkeit leichter durchzusetzen, Krieg zu führen, als Frieden zu stiften.
10 Jahre lang wurden Chancen zu einer nicht - militärischen Lösung des Konflikts zu kommen, nicht wahrgenommen, die Frage nach einem gerechten Ausgleich trat in den Hintergrund, die Moral in den Vordergrund. Hier die Guten Albaner, dort Milosevic, die Inkarnation des Bösen. Vor allem aber: die NATO hatte eigene Interessen am Ausgang und Verlauf dieses Konfliktes. Auch wenn viele Verantwortliche ehrenwerte, moralische Motive hatten, diese Eigeninteressen der NATO waren für alle Entscheidungen mindestens ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger als der eigentliche Konflikt um die Rechte und Lebensbedingungen der Albaner in Jugoslawien. Man wollte zeigen, dass die NATO als Bündnis glaubwürdig ist - dass sie überall auf der Welt im Sinne ihrer Interessen militärisch intervenieren kann.
So kam es zu einem Krieg, in dem viele Menschen getötet und verletzt wurden, der Milliarden gekostet hat und dessen ökologische Folgen erst nach und nach ins Bewußtsein kommen. Von einem Rechtsfrieden und einem vernünftigen Ausgleich zwischen den Konfliktparteien sind wir weit entfernt, u.a. weil die Verbündeten, die UCK, nicht entwaffnet wurde. Der Haß ist nicht kleiner geworden, neue Konfliktpotentiale wurden geschaffen. Wer nüchtern Bilanz zieht, kann nur lernen: militärische Gewalt ist vielleicht manchmal eine Notbremse, aber sie löst keine Konflikte! Wer nüchtern Bilanz zieht, kann nur hoffen, dass dieser erste hoffentlich auch der letzte dieser neuen Kriege sein wird und deshalb appellieren: "Kriege verhindern - Einsatzkräfte auflösen".
An dieser Stelle möchte ich den Zusammenhang zwischen Interventionsstreitkräften und Raketenabwehr hervorheben. Vor dem Ende des Ost-West Gegensatzes hätte es aus Angst vor einem Atomkrieg keine offenen Interventionen der NATO in Staaten gegeben, die außerhalb ihrer Einflußzone lagen. Seit 1990 ist dies möglich, wenn irgendwo auf der Welt ihre vermeintlichen vitalen Interessen bedroht sind. Aber: je besser sich die NATO für Interventionskriege rüstet, um so größer ist der Anreiz für potentielle Kriegsgegner, sich Atomraketen zu beschaffen, die das einzige Mittel zu sein scheinen, um sich vor einem solchen Interventionskrieg zu schützen. China etwa hat das ganz deutlich gemacht. Umgekehrt kann nur ein Abwehrschirm dies verhindern. Hier zeichnet sich eine neue Spirale der Gewalt ab, die mindestens ebenso gefährlich ist wie der Ost-West-Gegensatz.
Bei all dem ist klar: militärische Gewalt ist genauso wie direkte, personale Gewalt nur die Spitze eines Eisberges. Sie ragt um so mehr aus dem Wasser je mehr strukturelle Gewalt unter der Wasseroberfläche treibt. Je mehr die Staaten miteinander so agieren, als hätten die einen das Recht, die herrschende Ordnung zu definieren, Reichtümer zu sammeln und die natürlichen Ressourcen zu verbrauchen, während die anderen Länder nur Interessengebiete sind, um so größer ist die Spitze militärischer Gewalt. Und im Inneren: Je mehr Ungerechtigkeit, je mehr Abgrenzung aus rassistischen oder sexistischen Motiven, je mehr Ausgrenzung und Bedrohung von Menschen, die als fremd, schwach oder als Außenseiter gesehen werden, eine Gesellschaft bestimmt, desto breiter die Spitze aus direkter Gewalt: in den letzten Jahren haben das viele tausend ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, aber auch behinderte Menschen oder Menschen ohne Obdach in Deutschland erlitten.
Gewalt überwinden! Wie kann das aussehen, was gehört dazu?
Gewalt überwinden ist ein Prozess. An seinem Anfang steht eine realistische Bestandsaufnahme, die die Augen vor den vielfältigen Formen der Gewalt nicht verschließt. Am Ende steht ein Ziel, eine Vision, mit einem biblischen Bild aus dem Propheten Micha 4,3: "Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen." Ein Ziel, das auch die DDR-Friedensbewegung vor Augen hatte, die damit der friedlichen Revolution wichtige Impulse gegeben hat. Zwischen Bestandsaufnahme und Ziel suchen wir einen Weg.
Was zeichnet diesen Weg aus?
1. An erster Stelle: Gewaltfreiheit
Es wird Zeit, dass wir gewaltfreie Formen der Konfliktlösung genau so ernst nehmen wie die Formen militärischer Konfliktlösung. Und das heißt vor allem, dass wir sie in der gleichen Weise fördern. (17 Mio für Friedensdienste) Stellen Sie sich vor, was es für unsere Gesellschaft bedeuten würde, wenn wir für die Kosten nur eines Eurofighters (200 Millionen DM) ein Trainigsprogramm für Kinder und Jugendliche als Streitschlichter an Schulen durchführen könnten!?
Gewaltfreiheit ist ein aktives Konzept, ist nicht Widerstandslosigkeit. Gewaltfreiheit kann und muß gelernt und eingeübt werden. Dann kann sie erfolgreich sein! So wie bei Gandhi, so wie bei Martin Luther King, so wie in Südafrika, so wie in der DDR. Sie wehrt sich gegen Unrecht, gegen die Gefährdung der Zukunft, so wie bei den Castor - Transporten. Ein gewaltfreier Protest ist Ausdruck der Meinungsfreiheit und darf nicht durch finanzielle oder rechtliche Sanktionen diskriminiert werden.
Auf der politischen Bühne hat Gewaltfreiheit Erfolg, wenn sie frühzeitig und nicht erst dann angewandt wird, wenn die (militärische) Gewalt schon eine eigene Dynamik gewonnen hat. Das läßt sich noch einmal am Kosovokrieg zeigen: Ab 1989, nach der Aberkennung der weitgehenden kulturellen Autonomie des Kosovo durch die großserbische Politik von Milosevic, haben die Albaner zunächst lange einen gewaltfreien Kampf um ihre Rechte geführt. Jahrelang haben sie damit keine Resonanz in den westlichen Demokratien gefunden, fast keine übrigens auch in der Friedensbewegung. Der UCK mit ihrem bewaffneter Kampf war diese Aufmerksamkeit sogleich sicher. Wäre schon Anfang der neunziger Jahre Geld, Personal und politische Kraft in die Unterstützung von Rugova, von Prävention, Vermittlung und Diplomatie gesteckt worden, vielleicht wäre es möglich gewesen, viel Leid zu verhindern, und eine wirkliche Konfliktlösung zu finden.
2. Gewalt kann überwunden werden, wenn die sozialen Bedingungen verändert werden!
Zu der Dekade: Gewalt überwinden gehört eine Kampagne: Friede für die Stadt! In Weltstädten wie Rio, Durban und Colombo arbeiten Kirchen, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, manchmal auch Polizei und Stadtverwaltung zusammen, um ein neues Klima in der Stadt entstehen zu lassen. In Boston haben drei große Zivilorganisationen Schulungsprogramme gegen häusliche und familiäre Gewalt ins Leben gerufen und eine intensive Gemeinwesenarbeit begonnen. Innerhalb von zwei Jahren ist die Rate der Gewalttaten Jugendlicher um ein Drittel zurückgegangen.
Um es auf unsere Region zuzuspitzen: Wenn Politikerinnen und Politiker Schulen heute wieder zuerst als Lern- statt als Lebensorte profilieren wollen, übersehen sie, welche enorme Bedeutung eine Schule wie z.B. die Offene Schule Waldau für das soziale Klima in einem Stadtteil haben kann. Da hilft es dann wenig, wenn stattdessen einige tausend Mark für freie Projekte oder Werbeaktionen gegen Gewalt zur Verfügung gestellt werden.
Zu diesen sozialen Bedingungen gehört es auch, dass das wirtschaftliche Gewicht der Rüstungsindustrie zurückgedrängt und ihre Konversion in Angriff genommen werden muß. Bei den Planungen für eine Raketenabwehr geht es um Aufträge im Wert von ca. 60 Milliarden Dollar. Das Gewicht, das hinter solchen Zahlen steckt, kennen wir in Kassel gut: angesichts der Zahlen der Arbeitslosenstatistik wird jeder Auftrag zur Produktion militärischer Güter begrüßt. Es ist wichtig, diese ökonomischen Bedingungen realistisch zu sehen. Aber wir dürfen sie nicht fortschreiben! Wir brauchen eine langfristige Strategie in Richtung auf eine Konversion, wir brauchen einen runden Tisch, der über konkrete Abrüstungsschritte vor Ort nachdenkt und sie verabredet.
3. Gewalt läßt sich nur überwinden, wenn wir in der Lage sind, uns in die Gegenseite hineinzuversetzen, die unterschiedlichen Interessen realistisch wahrnehmen.
Im Kosovokrieg war allzu schnell entschieden, wo gut und böse liegen. Ein kleines Beispiel: wir haben in der Zeit des Krieges regelmäßig Friedensgebete gehalten. Im An-schluß daran haben wir neben Friedensarbeitern u.a. auch Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien eingeladen, die in Deutschland leben, um mit ihnen über die Situation zu sprechen. Als eine mit einem Deutschen verheiratete serbische Frau bei uns war, war es nicht mög-lich darüber in den Medien zu berichten. Das passte nicht ins Schema!
4. Wer Gewalt überwinden will, muss lernen mit Niederlagen zu leben
Das ist sozusagen die Nagelprobe auf die eigene Fähigkeit, auf Gewalt zu verzichten und nicht selbst das Schwert in die Hand zu nehmen.
Die Friedensbewegung und mit ihr die Ostermarschbewegung, die sich ja inzwischen seit über 40 Jahre für den Frieden einsetzt, hat in den letzten zehn Jahren manche Niederlage einstecken müssen; sie hat aber auch manches erreicht, diese Erfolge aber, wie ich finde, zu wenig gefeiert - denken sie nur, wie sich das Ansehen militärischer Gewalt und das Verhältnis von Wehrdienst und Zivildienst in unserem Land in dieser Zeit verändert hat.
Dennoch: Wer die Gewalt mit anschauen muß, die ausländischen Menschen in unserem Land begegnet, wer die militärischen Potentiale sieht, die Staaten immer noch und wieder gegeneinander richten, kann resignieren, zynisch werden, das Ziel aus den Augen verlieren. Dass da dennoch immer der lange Atem war, hat für mich als Christen viel mit dem Termin dieses 'Marsches', mit Ostern zu tun. Mit diesem Fest, an dem wir feiern, dass der Tod seine Macht verloren hat, an dem Gewaltfreiheit und Feindesliebe ins Recht gesetzt werden.
In manchen Jahren, etwa Anfang der Siebziger, waren nur wenige unterwegs; sie haben dann stellvertretend an das Ziel militärische Gewalt zu überwinden erinnert, daran, dass Schwerter zu Pflugscharen werden sollen. Zehn Jahre später waren viel froh, dass sie das so durchgehalten haben. Ich bin dankbar, dass ich mit Ihnen und Euch heute unterwegs bin, damit militärische Gewalt nicht wieder zu einem selbstverständlichen, normalen Mittel der Politik wird, damit wir gemeinsam Wege für eine gerechte und gewaltfreie Politik finden.
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