"Wir leben in Orwell'schen Zeiten"
Rede von Clemens Ronnefeldt* beim Ostermarsch 2001 in Saarbrücken
* Clemens Ronnefeldt ist Referent für Friedensfragen bei Internationalen Versöhnungsbund, deutscher Zweig. Die hier dokumentierten Thesen lagen der Ostermarschrede, die im Wesentlichen aber frei gehalten wurde, zu Grunde. Auf den Anmerkungsapparat haben wir hier verzichtet, ebenso auf den Abdruck des Gedichts "Lob der Dialektik" von Bert Brecht, mit dem Clemens Ronnefeldt seine Rede beendete.
Wann Krieg beginnt, das kann man wissen,
aber wann beginnt der Vorkrieg?
Falls es da Regeln gäbe, müßte man sie weitersagen.
In Ton, in Stein eingraben, überliefern.
Was stünde da. Da stünde, unter andern Sätzen:
Laßt Euch nicht von den Eignen täuschen.
Christa Wolf, aus "Kassandra"
1. Wir leben in Orwell´schen Zeiten
Wer die beiden Bücher von Heinz Loquai (Der Kosovo-Konflikt - Wege in einen vermeidbaren
Krieg, Baden-Baden 2000) und Jürgen Elsässer (Kriegsverbrechen. Die tödlichen Lügen der
Bundesregierung und ihre Opfer im Kosovo-Konflikt, Hamburg 2000) gelesen hat, braucht
sehr viel guten Willen, um noch Reste von funktionierender Demokratie in Deutschland
entdecken zu können: Den Scharping´schen Hufeisenplan gab es nicht, das sog. Massaker von
Racak war nach Kämpfen inszeniert, ein Völkermord fand - laut OSZE-Bericht (As seen/As
told, http://www.osce.org) - nicht statt.
Das Orwell´sche an dem Buch von Brigadegeneral a.D. Heinz Loquai ist, daß
Enthüllungsjournalismus vielleicht kurz beachtet und von einigen SpezialistInnen zur
Kenntnis genommen wird, aber offenbar keine politischen Konsequenzen mehr hat - außer dem
Verlust des Arbeitsplatzes für diejenigen, die die Lügen aufdecken, wie z.B. Heinz
Loquai. Ähnliches gilt für die USA, wo z.B. die jüngst enthüllten Massaker des US-Generals Barry
McCaffrey während des 2. Golfkrieges 1991 in Irak (Vgl. Darmstädter Echo, 20.5.2000), der
für die US-Regierung jetzt in Kolumbien als "Drogenbeauftragter" tätig ist, folgenlos
bleiben.
2. Die OSZE wurde von der NAT0 im Jugoslawienkrieg offensiv bekämpft
Die OSZE-Mission wurde von der NATO massiv "gemobbt". Hätte sie ihre zivile
Konfliktbearbeitung ungestört zu Ende (und möglicherweise zu einem Erfolg) bringen
können, wäre sie aufgewertet worden und hätte künftig mehr Geld erhalten. Umgekehrt wäre
die NATO in Legitimationsschwierigkeiten für ihre nationalen Budgets geraten. Diese
"Gefahr" wurde von der NATO rechtzeitig erkannt und daher die OSZE konsequenterweise
ausgeschaltet. Das Risiko, das Herr Walker, Leiter der OSZE-Mission, und einige andere
eingingen, als sie Teile der OSZE-Mission als trojanisches Pferd für die spätere
Bombardierung instrumentalisierten, war für alle anderen zivilen OSZE-MitarbeiterInnen
lebensgefährlich hoch.
Die Inszenierung von Racak, wo Herr Walker die Toten "mediengerecht positionieren"
ließ, dürfte der bis dato schwärzeste Tag in der Geschichte der OSZE gewesen sein.
Die Empörung sitzt bei denjenigen tief, die eine zivile Lösung anstrebten. Das
Kernproblem einer künftig zivileren OSZE besteht darin, daß die NATO-Staaten innerhalb
der OSZE das Sagen haben.
3. Die USA setzen auf Dominanz und Faust- statt Völkerrecht
Von US-Präsident Theodor Roosevelts Aussage im Jahre 1901: "Am Ende wird der zivilisierte
Mensch begreifen, daß er Frieden nur bewahren kann, indem er seine barbarischen Nachbarn
unterdrückt, spannt sich ein Bogen bis US-Präsident Bill Clinton, 1995:
"Wenn Interessen unserer nationalen Sicherheit bedroht sind, werden wir, wie es Amerika
immer getan hat, uns diplomatischer Mittel bedienen, wenn wir können, jedoch auf
militärische Gewaltanwendung zurückgreifen, wenn wir müssen. Der Korrektur der
US-Regierung, die nun statt von "Schurkenstaaten" von "States of Concern" (Risikostaaten)
spricht, ist zu wünschen, daß "States of Concern" in Zukunft nicht länger wie
"Schurkenstaaten" behandelt werden.
Das Raketenabwehrprogramm NMD könnte noch zur euroatlantischen Zerreißprobe werden.
4. Deutschland sucht als stärkste europäische Macht seinen Platz an der Sonne
"Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, den anderen das
Meer und sich selber den Himmel reservierte, diese Zeiten sind vorüber. Wir betrachten es
als eine unserer vornehmsten Aufgaben, gerade in Ostasien die Interessen unserer
Schiffart, unseres Handels und unserer Industrie zu fördern und zu pflegen. ... Wir sind
gerne bereit den Interessen anderer Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren
Voraussicht, daß unsere eigenen Interessen gleichfalls die gebührende Würdigung finden.
Mit einem Wort: Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber verlangen auch unseren
Platz an der Sonneł, meinte der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und spätere
Reichskanzler Bernhard von Bülow 1897.
Weil damals auch noch andere "an die Sonne" wollten, wurde es 1914 sehr dunkel.
Seit 1992 gehören nach den Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr
"die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten
und Rohstoffen in aller Welt" - mit dem den Kreis quadratierenden Zusatz - "im Rahmen
einer gerechten Weltwirtschaftsordnung" zu den vitalen deutschen Interessen.
5. Die Gefahr eines neuen Weltkrieges wächst
Beim Kampf um die verbliebenen Ressourcen der Erde und die Neuverteilung politischer
Gewichte nach Ende des Ost-Westkonfliktes, insbesondere auch zwischen USA und Europa,
spitzt sich eine Situation zu, die sowohl derer vor 1914 wie auch derer in den 30er
Jahren nicht unähnlich ist: "Es ist offensichtlich, die 30er Jahre sind wieder da, und
das können wir nicht akzeptieren" (Joschka Fischer, Taz, 13.4.99).
"Washington fürchtet eine Kettenreaktion der Gewalt in Nahost" titelte die FR am
10.10.2000 und führte aus: "Der Vergleich, mit dem ein US-Beamter das Ziel des Gipfels beschrieben
hat, den Clinton noch in dieser Woche zustande bringen will, läßt an Deutlichkeit nicht
zu wünschen übrig. Es gehe darum, `nach etwas zu suchen, was eine Kettenreaktion wie im
August 1914 stoppen würde´. Damals glitt Europa in den ersten Weltkrieg".
Das Einzige, was wir aus der Geschichte lernen, ist, daß wir nichts aus der Geschichte
lernen - ich hoffe, daß wir diesen Satz widerlegen können und der Rubikon noch nicht
überschritten ist!
Im Gegensatz zu "Neuanfängen" 1918 und 1945 ist festzuhalten, daß bei einem Ausbleiben
eines sehr grundsätzlichen Richtungswechsels in den nächsten ein oder zwei Generationen
grundlegende Voraussetzungen insbesondere ökologischer Natur für einen "Neuanfang" nicht
mehr gegeben sein werden.
6. Die Globalisierung beruht auf struktureller Gewalt und führt zu Eskalation
Schon 1990 verdiente die undemokratische Elite Kuwaits mit westlichen Aktienpaketen (z.B.
25 % bei der Höchst AG in Frankfurt) mehr Gewinn als durch den Verkauf durch Erdöl. Ein
hoher Erdölpreis gefährdete die wichtigste Einnahmequelle - Geld durch Geldvermehrung.
Die Ölscheichs der arabischen Halbinsel verschleuderten bis vor kurzem den oft einzigen
Rohstoff und enthielten große Teile der Einnahmen der eigenen Bevölkerung vor, indem sie
diese im westlichen Ausland anlegten. Zur Stützung dieser strukturellen Gewalt müssen
Waffen importiert werden. Um diese Einkäufe leichter finanzierbar zu machen, wurde z.B.
10 Jahre irakisches Öl vom Markt per Embargo verknappt - und dabei rund eine Million
irakische Todesopfer in Kauf genommen.
Das christliche Abendland wundert sich angesichts dieser Sachverhalte über die
"fanatisierten islamischen Massen", die zum heiligen Krieg aufrufen. Diese Grobskizze mag
viele Lücken haben und interne arabische Konflikte unberücksichtigt lassen - dennoch
bleibt die Frage, wie lange eine solche Rahmenpolitik gut gehen kann, bis es zur
"Explosion" kommt.
7. Die internationalen Finanzmärkte sind Triebfeder der Beschleunigungskrise
"Die Generäle der Wallstreet lieben den Krieg", brachte Daniel Kadlec in der "Time" die
Kurssteigerungen nach dem 2. Golfkrieg auf den Punkt. Die Triebfeder der derzeitigen
"globalen Beschleunigungskrise" (Peter Kafka) sind m.E. nicht so sehr das Militär und
nicht die Politik (wobei beide auch davon profitieren), sondern die aus dem Ruder
gelaufenen internationalen Finanzmärkte. Die Eliten schicken heute kaum noch Armeen,
sondern Dollar, Euro und Yen zu ihren Eroberungsfeldzügen aus, weltweit derzeit 1,5
Billionen Dollar pro Börsentag.
"Das Volumen des Welthandels belief sich 1998 demgegenüber auf insgesamt 6,9 Billionen
US-Dollar. Um den weltweiten Handel zu finanzieren, würden also fünf Börsentage
ausreichen". Die Börsen der Welt tanzen auf dem Vulkan - ein Platzen der Seifenblasen scheint
näherzurücken. Nach Angaben des Human Development Report 1999 der Vereinten Nation (UNDP) ging die
Einkommensschere zwischen dem Fünftel der Weltbevölkerung, das in den reichsten Ländern
lebt, und dem ärmsten Fünftel im Jahre 1997 auf 74:1 auseinander, während das Verhältnis
1960 noch bei 30:1 lag.
"Ein freier Markt und eine nicht ganz so freie Gesellschaft gehen Hand in Hand", meint
der US-Ökonom Edward Luttwak in seiner Beschreibung des "Turbo-Kapitalismus".
Im Umkehrschluß gilt, daß ein etwas weniger freier Markt, wieder zu einer freieren - und
auch gerechteren - Gesellschaft führen kann. Wenn die Ursachen der Globalisierung nicht
angegangen werden, sind auch deren Auswüchse z.B. in Form des größten Um- und
Aufrüstungsprogramms der Bundeswehr seit deren Bestehen sowie neue Krisen und Kriege im
Kaukasus oder Nahen und Mittleren Osten nicht zu verhindern.
8. Die internationalen Finanzmärkte sind bei politischem Willen kontrollierbar
Vorschläge für eine Kontrolle sind:
-
Die Einführung einer Steuer auf internationale Finanztransaktionen (z.B. Tobin-Steuer)
- Die Schließung der Steuerparadiese und "Off-Shore-Zentren"
- Keine Privatisierung der Alterssicherung (z.B. Pensionsfonds)
- Das Verbot von spekulativen Derivaten und der hochspekulativen "Hedge-Funds"
- Schuldenstreichung für die Entwicklungsländer
- Strengere Banken- und Börsenaufsicht für die sog. institutionellen Anleger
- Stabilisierung der Wechselkurse zwischen den drei Hauptwährungen Dollar, Euro und Yen
- Die demokratische Umgestaltung internationaler Finanzinstitutionen
- Die stärkere Besteuerung von Kapitaleinkünften und großen Vermögen
(Quelle: www.share-online.de/Finanzmärkte).
Was derzeit wohl am meisten fehlt, nennt Peter Kafka "Strukturelle
Nichtausbeutungsfähigkeit". Erst als deren Folge ist m.E. überhaupt an eine "Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit" oder Auflösung der NATO zu denken, - zeitlich wohl kaum umgekehrt! Trotzdem fände ich es sinnvoll, die Erreichung beider (Fern-)Ziele gleichzeitig anzustreben und auf beiden
Feldern parallel und stärker als bisher vernetzt zu arbeiten. Auch WTO, IWF und Weltbank könnten im Zuge o.g. Strukturmaßnahmen reformiert werden. Vorschläge dazu wurden in Seattle, Davos und Prag gemacht.
9. Aufklärung ist - trotz und gerade wegen der Medienmacht - enorm wichtig
Ich stimme Peter Kafka zu: "Konjunkturkrisen, Finanzkrisen, wachsende Arbeitslosigkeit,
Drogenprobleme, öffentliche Armut, Flüchtlingsströme, Kriminalität, Terroranschläge,
örtliche ökologische Katastrophen und vermutlich auch gesellschaftliches Chaos,
Bürgerkrieg und Krieg in weiten Teilen der Erde - diese und andere Symptome werden uns
und unseren Medien zunächst eher dazu dienen, die Einsicht in das tiefer liegende,
umfassende Wesen der Krise weiter zu verdrängen. ... Daran müssen wir zunächst arbeiten:
Sehen helfen - das heißt Aufklärung.
Die Prediger am Rande des so schön gepflasterten Weges zur Hölle haben auf die Mehrheit
immer lächerlich gewirkt - aber bei der Annäherung an die Klimax der globalen
Beschleunigungskrise wächst nun auch die Zahl dieser Prediger sehr rasch! Sie werden hie
und da sogar schon von Wirtschaftskreisen zu Vorträgen eingeladen. Wir müssen also noch
nicht die Hoffnung verlieren, daß sie der Mehrheit die Augen öffnen, den Nebel vertreiben
und sie schließlich auf andere Ideen bringen könnten"!
10. Der Ausstieg aus der Beschleunigungskrise ist an Bedingungen geknüpft
Kafka nennt als Bedingung für einen Ausstieg: Vielfalt statt einfältiger Größe,
Gemächlichkeit statt rasender Beschleunigung, Selbstorganisation statt zentralistischer
Macht. Schon ein Konzern wie Daimler Benz mußte noch unter Edzard Reuter die schmerzliche
Erfahrung machen, daß Größe nicht alles ist, ebenso BMW mit Rover. Die geplatzten
Fusionen zwischen deutschen Großbanken sowie Londoner und Frankfurter Börse scheinen mir
erste Anzeichen, daß vereinzelt ein Umdenken einsetzt oder erzwungen wird.
Auch die kleine "Beschleunigungskrise" jeder einzelnen Person gilt es zu hinterfragen:
Wer von uns Computerbesitzenden hat noch nicht die wachsende Zahl täglich mehr
eingehender E-mails verflucht, deren Informationsgehalt überhaupt nicht mehr
sinnvollerweise verarbeitet werden kann? Wieviel Wissen ist genug, um handeln zu können?
Weitere zukunftsfähige Leitideen könnten - nach Kafka - sein: Verzicht auf aggressive
Techniken, die Raubbau und Ausbeutung der Natur betreiben, Aufhebung des Zinses,
Aufhebung des Eigentums an Grund und Boden durch befristete Pachtverträge. Die zuletzt
genannten Vorschläge dürften wohl die größten Widerstände hervorrufen. Da sich allerdings
m.E. genau an ihnen der Transmissionsriemen der globalen Beschleunigungskrise befindet,
macht es keinen Sinn, sie als Tabu einfach auszuklammern.
Silberstreifen am Horizont werden derzeit bereits sichtbar: Die Verteuerung des Heizöls
hat noch nie in so kurzer Zeit so viele Menschen z.B. nach dem nachwachsenden Rohstoff
Holz und anderen erneuerbaren Alternativen fragen lassen. Das neue
Energie-Einspeisegesetz führte in kürzester Zeit zu einem Ansturm auf Solarmodule und zum
Aufbau neuer Solarfabriken.
11. Die Verbesserung von Randbedingungen hat Vorrang vor Zielen
Mit Worten von Kafka möchte ich uns in der Friedensbewegung vor den Gefahren eines neuen
Machbarkeitswahns warnen:
"Lassen sich vielleicht im Wirrwarr der politisch-wirtschaftlichen Organisation ein paar
`Knackpunkte´ finden, von denen bei relativ geringen Eingriffen starke Steuerwirkungen
auf die künftige Selbstorganisation ausgehen würden? Steuern - wohin? Brauchen wir denn
nicht vor allem erst einmal ein Ziel? Nein! Ebendies ist ja der Grundirrtum: Eine Clique
von gescheiten Leuten guten Willens könne mit ihren Zielvorstellungen das `Wohl der
Massen´ organisieren ... Haben wir noch immer nicht begriffen, was dabei herauskommt - in
Moskau oder womöglch auch in Brüssel?
Die Entscheidung darf nicht so sehr zwischen Zielen gesucht werden, als vielmehr
zwischen `Randbedingungen´, das heißt selbstgesetzten Beschränkungen, die uns von
erkannten Fehlern fernhalten. Weg von dem, was wir als falsch erkannt haben! Das ist die
altbekannte Strategie gegen den Teufel. Das Bessere wächst dann `von allein´ aus der
Freiheit und Verantwortung vieler Beteiligter - wenn diese von `Sachzwängen´ unabhängiger
geworden sind. Bevor wir uns für die notwendigen Selbstbeschränkungen entscheiden, müssen
wir also noch einen schärferen Blick auf die Abhängigkeiten werfen. ... das sogenannte
Energieproblem .. besteht nicht etwa darin, daß die Menschheit nicht genügend Energie
zur Verfügung hätte, sondern gerade im Gegenteil: Es ist zu viel! - Wie bei jeder Sucht:
Das wirkliche Problem liegt nicht darin, daß einem die Droge ausgeht, sondern darin, daß
man einmal auf das Angebot hereingefallen ist. Bei einem Ausstieg aus der (Öl-)Sucht
gemäß Hermann Scheers "Sonnenstrategie" entfällt auch die bisherige
"Beschaffungskriminalität".
12. Mediengewalt und Kosumterror sind gesellschaftliche Grenzen zu setzen
Zur Rolle der Medien meint Kafka: "Die Selbstorganisation zur `Gleichschaltung´ des
politischen Mehrheitswillens kommt heute fast ohne Gewalt und sichtbare Bosheit zum Zuge.
In fortgeschrittenen Gesellschaften genügt dem Teufel das Geld - und es ist nicht einmal
mehr festlicher Götzendienst mit größeren Opferzeremonien nötig, um es einzusammeln. Die
Mehrheit opfert schon durch die Befriedigung der eigenen suchtartigen Bedürfnisse - und
obendrein organisiert sie sogar noch auf demokratischem Wege, daß die Großdealer ihren
Aufwand für Verdummung und Verführung als `Werbungskosten´ von der Steuer absetzen
dürfen. So läßt sich doch wenigstens ein Teil des Verbraucherpreises der Drogen auf die
Enthaltsameren umlegen"!
Das durchschnittliche Kind in den USA sitzt bis zum 18. Lebensjahr 36.000 Stunden vor dem
Fernseher und sieht dabei 15.000 Morde. Die Situation bei uns in Deutschland dürfte
nur wenig besser sein. Was bedeutet dies für die "psychosoziale Hygiene" von
Gesellschaften - und deren Gewaltbereitschaft?
Es ginge auch anders: "Sichtwechsel - Förderverein für das erste Gewaltfreie
Fernsehprogramm in Deutschland e.V." (Hildburgshauser Str. 48a, 12279 Berlin) heißt eine
Initiative, die ich unterstützenswert finde, weil sie interessante Fragen stellt und
Anregungen gibt. Wenn ich manchmal gefragt werde, wie es kommt, daß ich relativ gut informiert sei,
antworte ich: Weil ich seit mehr als 20 Jahren ohne Fernseher lebe - und viel Zeit für
Literatur und Stille zum "Verdauen" habe.
13. Die Innen- und Außenseite bei Individuen und Gesellschaften sind vergleichbar
Zwischen der Innenseite eines Menschen und seinen äußeren Taten besteht meist ein
deutlich erkennbares Verhältnis. Ähnliches gilt m.E. auch für Gesellschaften. In welchem
Verhältnis stehen die Todesurteile in den USA und die überfüllten Gefängnisse zur
US-Außenpolitik? In welchem Verhältnis steht die deutsche Kriegsbeteiligung am
Jugoslawieneinsatz zur deutschen Innenpolitik? Wieviel innerdeutsches
Aggressionspotenzial hat sich in diesem Krieg aufgrund von Projektion nach außen
abgeleitet und entladen?
In dem Spion-Thriller "Get Smart" fragt Agent 99: "Weißt du Max, manchmal denke ich, wir
sind nicht besser als sie sind; die Art, wie wir morden und töten und Leute zerstören.
Worauf Smart antwortet: "Warum?, Agent 99, Du weißt, daß wir morden, töten und zerstören
müssen, um alles was gut ist in der Welt zu bewahren".
Zur Überprüfung der eigenen Friedensfähigkeit empfehle ich die Übung, sich seinen größten
Feind oder Gegner vorzustellen, sich zu fragen, was es ist, was einem an ihm oder ihr
stört - und anschließend zu überprüfen, was die gefundenen Eigenschaften mit einem selbst zu tun
haben. Politische Arbeit "im Außen" und persönliche Bewußtseinsarbeit "im Innen" gehören meines
Erachtens zusammen. Bei der Bewältigung der derzeitigen Situation halte ich beide Aspekte
für grundlegend.
14. Die Überprüfung der christlichen Friedensfähigkeit ist ein Beitrag zum Frieden
"Sind Christen kriegsbereiter als Nichtchristen?", lautete ein Beitrag von Dr. Hans-E.
Bosse, Theologe und Soziologe, ehemaliger wissenschaftlicher Assistent bei der
Evangelischen Kirche Deutschlands. Darin schrieb er: "Eine Untersuchung des Kanadiers
Laulicht führte zu folgenden Ergebnissen: `Mitgliedschaft in Kirchen mit stark
entwickelter Dogmatik ist deutlich verbunden mit der Billigung größerer militärischer
Streitkräfte. Mitglieder solcher Kirchen stehen der Verbreitung von Atomwaffen oft
positiv, jedenfalls nicht ablehnend gegenüber.
Zu einer Politik der friedlichen Koexistenz verhalten sie sich in der Regel mißtrauisch,
manchmal ausgesprochen feindselig. Sowohl für die Elite wie für die allgemeine
öffentliche Meinung gilt, daß man Verfechter der Abrüstung zahlreicher unter den
Ungläubigen und nur nominellen Kirchengliedern findet als unter treuen Kirchgängern der
Kirchen mit reich entwickelter Dogmatik. Es ist auffallend, daß Christen, die eine
geringere Bindung an die Kirche (am Kirchenbesuch gemessen) aufweisen, stärker an eine
persönliche Verantwortung für den Frieden glauben als jene mit einer starken
Bindung".
Bosse zitiert aus einer weiteren kanadischen Studie, "daß Religiosität ebenso wie der
Nationalismus, Konservatismus und Militarismus eine besondere Affinität zur Gewalt hat.
Alle diese vier ideellen Einstellungen lassen `eine fast instinktive Bereitschaft´
erkennen, so heißt es in der Studie, `Gewalt anzuwenden oder mit Gewalt und Strafe zu
drohen. Beides soll dazu dienen, menschliches Verhalten zu kontrollieren und
Konfliktsituationen zu lösen´. ... Eine ähnliche Gewaltfixierung beobachteten die Autoren auch bei verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen: neurotische Züge, Extravertiertheit, Menschenhaß und strenge
Diszipliniertheit als Kindheitserbe lassen ebenfalls jeweils eine Gewalt- und
Strafbereitsschaft erkennen. ...
Beunruhigend ist ferner, daß im Rahmen der kanadischen Untersuchungen das Christentum -
die Religion der Liebe und Barmherzigkeit - hier gerade auf der Gegenseite, nämlich auf
der Seite der Zwangsfixierung (compulsion) erscheint, während Nichtchristlichkeit
zusammen mit Internationalismus, Kenntnis internationaler Angelegenheiten und sozialer
Verantwortung unter ihren Leitwerten `Mitleid´ (compassion) als Gegenbegriff zu Zwang
führen".
Sind diese ca. drei Jahrzehnte alten Sätze überholt und damit einfach abzutun?
Gibt es möglicherweise nach wie vor eine Beziehung zwischen den genannten Grundaussagen
und einigen kirchlichen Äußerungen während der Bombardierung Jugoslawiens 1999? Wo werden
diese Themen innerkirchlich behandelt und aufgearbeitet? Welche innerkirchlichen Institutionen, kirchennahen oder kirchenfernen Friedensorganisationen haben den Mut, die Kompetenz und das Fingerspitzengefühl, diese Fragen zu thematisieren?
War der "konziliare Prozeß" für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung
nur ein vorübergehendes kirchlich-friedenspolitisches Strohfeuer? Führt die Dekade zur
Überwindung der Gewalt zu einem neuen "Frühling"?
15. Auch die Friedensbewegung benötigt eine neue Kultur des Umgangs miteinander
"Erst allmählich ging den vielen frustrierten Linken auf, daß das Scheitern all der
neu-linken Organisationen im Laufe der achtziger Jahre sehr viel zu tun hatte mit der
Verdrängung des `subjektiven Faktors´. War nicht das menschliche Klima in den meisten der
ML-Organisationen von abweisender Kälte? War nicht die Vertagung der `Frauenfrage´ ein
bequemes Ausweichen der patriarchalen Genossen? Und mußte man nicht mit ansehen, daß
selbst in der Partei der Grünen, die mit einem Anspruch und mit dem ernsthaften Versuch
begannen, einen anderen, menschlicheren Politikstil zu entwickeln, nach und nach
dieselben selbstherrlichen Prestige- und Machtkämpfe zur Hauptsache wurden wie in den
`Altparteien´", fragt Gerhard Breidenstein. Wird die PDS die gleiche Geschichte wie
die Grünen mit zeitlicher Verzögerung durchlaufen?
"Wie soll persönliche Bewußtseinsveränderung bei vielen möglich sein, solange alle
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dem entgegenstehen und während inzwischen die
elementarsten Bedingungen des Lebens zerstört werden"?, fragt Breidenstein weiter.
Ich stimme ihm zu: Persönliche Veränderung und gesellschaftliche Veränderung gehen nicht
zeitlich nacheinder! Wieviele friedensbewegte Menschen wären jetzt vielleicht noch aktiv,
wenn sie Unterstützung gefunden hätten bei der Integration ihrer Erkenntnisse über
bedrohliche Entwicklungen und unfaßbares Unrecht in ihr persönliches Leben und
Möglichkeiten, z.B. mit dem "burn-out-syndrom" besser umzugehen?
Wieviele Friedensgruppen wären nicht an Richtungsstreitigkeiten zerbrochen, wenn sie
etwas z.B. von der Gewaltfreien Kommunikation nach Dr. Marshall Rosenberg gehört und
diese praktiziert hätten? Wo würden sie heute stehen, wenn sie Beobachtungen von
Bewertungen, Gefühle von Interpretationen und Bitten von Forderungen zu unterscheiden
gelernt hätten, wenn tief verankerte menschliche Grundbedürfnisse nach Wertschätzung,
Freiheit des Willens und Unabhängigkeit in unseren Friedensgruppen grundlegender
berücksichtigt worden wären? Bei meinen vielen Veranstaltungen ist mir aufgefallen, daß diejenigen Gruppen den längsten Atem haben, die sich auch menschlich am besten verstehen und miteinander feiern
können.
Die Friedensbewegung heute krankt an einem Mißverhältnis:
"Den einen, insgesamt ziemlich wenigen, platzt schier der Kopf von all dem Horrorwissen,
ohne daß sie es in Veränderungsenergie umsetzen könnten. Andere, wohl die meisten der
ansprechbaren Mitbürger, verdrängen dies Wissen alsbald, weil sie gar nicht die Kraft
haben, es auszuhalten... Und die bei weitem meisten aller Bundesbürger haben nicht einmal
unsere Flugblätter gelesen, unsere Demos allenfalls nur kurz im Fernsehen gesehen und
sind nie zu den mühsam vorbereiteten Informationsveranstaltungen gekommen. Ich vermute
heute, daß ihre `Bequemlichkeit´ auch ein instinktiver Selbstschutz war nach dem Motto
`Laß mich in Ruhe mit all dem Scheiß; ich kann eh nix dran ändern´".
Was ist heute zu tun angesichts der Tatsache, daß der Höhepunkt der Krise wohl erst noch
kommen wird? Wir stehen m.E. vor einer Durststrecke, die es auszuhalten gilt, ohne
zynisch oder sarkastisch zu werden. Wenn wir bei jedem Schritt sofort ein Ergebnis sehen
wollen und zu sehr auf schnelle "Erfolge" schielen, gehen wir dem neoliberalistischen
System auf den Leim. Die "Strukturelle Nichtausbeutungsfähigkeit" und die "Strukturelle
Nichtangriffs-fähigkeit" bzw. Auflösung der NATO sind Langzeitprojekte.
Der Verzicht auf Rechthaberei und die Stärkung der eigenen Kritikfähigkeit kann uns dabei
glaubwürdiger und einladender für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen.
Bei meinen vielen Veranstaltungen ist mir aufgefallen, daß diejenigen Gruppen den
längsten Atem haben, die sich auch menschlich am besten verstehen und zusammen feiern
können.
16. Die Stärkung widerstandsfähiger Menschen ist ein vielversprechender Ansatz
Ein Ansatz, den ich teile, stammt ebenfalls von Breidenstein:
"Alle Bürger sind im Blick, wenn es darum geht, die ideologische Vorherrschaft der heute
noch Mächtigen zu unterhöhlen. Nichts wäre wirkungsvoller dafür, als wenn viele Menschen
auf psychologisch-spirituellem Wege ihre Angst verlieren und ihr Selbstvertrauen
gewinnen. Denn wer keine Angst mehr hat oder besser: wer mit seiner Angst vertraut ist,
fällt weder auf die Feindbild-Propaganda noch auf die Sicherheitsideologien mehr herein.
Wer seinen inneren Wert kennt, ist nicht mehr verführbar. Und vor allem: wer in seinen
tieferen Bewußtseinsschichten wieder Anschluß gefunden hat an die Urkraft des Lebens, dem
kann keine Krise mehr die Hoffnung zerstören, die wird nicht mehr resignieren, der oder
die wird unerschöpfliche Kräfte gewinnen für die langwierige gesellschaftliche
Veränderung".
Dies schließt für mich Zeiten der Resignation und Erschöpfung nicht aus. Hoffnung ist
allerdings für mich etwas anderes als Optimismus. Optimistisch bin ich nicht, was die
nähere Zukunft betrifft - aber auch keineswegs hoffnungslos.
Je härter die Krise werden wird, desto mehr werden wir uns gegenseitig als Stütze und
Solidargemeinschaft brauchen.
17. Nichtregierungsorganisationen überwinden die Individualisierung und sind derzeit
Hoffnungsträger
Dorothee Sölle sieht uns in einem doppelten Gefängnis: "Eine der spirituellen
Schwierigkeiten in unserer Lage ist der innere Zusammenhang von Globalisierung und
Individualisierung. Je globaler die Weltwirtschaft sich organisiert, je desinteressierter
sie sich allen sozialen oder ökologischen Eingebundenheiten gegenüber gibt, desto mehr
benötigt sie als Ansprechpartner das Individuum ohne jede Beziehung, den homo
oeconomicus, jenes geschäfts- und genußfähige Einzelwesen, das - von Gott ganz zu
schweigen - auch an den Tretminen, die sein Autohersteller produziert, oder am Wasser,
das seine Enkelkinder benutzen werden, kein Interesse zeigt. ...
Die Religion des Konsumismus braucht die älteren und schwächeren Gestalten des Opiums
des Volkes nicht mehr. Es gibt überall bessere Opiate zu kaufen. ... Dieses Zusammenspiel
von Weltherrschaft der Konzerne in der Globalisierung und einer neuartig inszenierten
Individualisierung ohne Rest, ohne Bindung an die Geschwistergeschöpfe, erscheint
hoffnungslos, ein Weiterrasen auf den apokalyptischen Untergang hin, und wird von vielen
Nachdenklichen als unaufhaltsames Fatum angenommen. ... Wenn wir nur die `Herren dieser
Welt´ anstarren und die Masse der unschädlich gemachten Einzelnen, dann sehen wir noch
nicht mit den Augen des anderen Blickes. Die Weltangst umfängt uns dann und sperrt uns in
das besteingerichtete Gefängnis, das es je gab. ...
Die Hoffnungsträger im gegenwärtigen Szenario der `global players´ auf der einen und der
isoliert-amüsierten Individuen auf der anderen Seite sind Gruppen, die auf
Freiwilligkeit, Kritikfähigkeit und eigene Initiative setzen. Diese
Nichtregierungsorganisationen, zu denen ich auch die lebendigen Teile der christlichen
Kirche rechne, sind politisch gesprochen die Trägerinnnen von Widerstand. Spirituell
gesprochen verkörpern sie ein anderes Subjekt als das im Gefängnis des Konsumismus
eingeschlafene. Was trägt sie? Was hält sie wach? Warum geben sie nicht auf? Ich denke,
es sind Elemente von Mystik, die sich nicht auslöschen lassen. .. Das vernetzte und sich
verbindende Subjekt, das in den Widerstand hineinwächst, ist nicht zerstörbar".
Mehr zu den Ostermärschen 2001
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