Die neue deutsche Außenpolitik von Afrika bis zum Balkan - und wieder zurück
Rede von Peter Strutynski beim Ostermarsch 2001 in Dortmund
Liebe Friedensfreundinnen und -freunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer bei solchem Wetter an einem Feiertag freiwillig auf die Straße geht, muss entweder verrückt sein, oder er (und sie) muss ein wichtiges Anliegen haben. Und ich bin mir sicher, dass für uns letzteres zutrifft. Da mögen die Zeitungen sich noch so sehr darum besorgen, dass der Friedensbewegung die Themen abhanden gekommen sind, dass niemand mehr hören will, was die Friedensbewegung zu sagen hat. Wir wissen es besser und die veröffentlichte Meinung sollte doch einfach mal zur Kenntnis nehmen, dass die Friedensbewegung nicht unter einem Mangel an Themen leidet, sondern eher unter einem Zuviel an Themen und Problemen.
Ein einziger flüchtiger Blick auf die Zustände dieser Welt, diesseits und jenseits unserer Grenzen, reicht schon aus, um uns darauf hinzuweisen, dass es gar nicht genug Friedensmärsche und andere Aktivitäten der Friedensbewegung geben kann. Jeden Tag sterben Tausende von Menschen, meist Zivilisten, darunter vornehmlich Frauen und Kinder, infolge von Kriegen und Bürgerkriegen. Sie werden von Minen zerrissen, sie werden von marodierenden Kriegern massakriert und vergewaltigt, sie werden verschleppt oder in die Flucht getrieben. 40 Kriege, die meisten davon innerstaatliche Gewaltauseinandersetzungen und Bürgerkriege finden derzeit auf der Erde statt. Kein Kontinent ist frei davon - wenn wir einmal von Australien absehen.
Am schlimmsten ist die Situation zweifellos in Afrika.
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vierzehn afrikanische Länder sind derzeit in Kriege verstrickt;
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jeder fünfte Afrikaner lebt in einem Kriegs- oder Bürgerkriegsland;
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70 Prozent aller AIDS-Infizierten leben in Afrika;
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30 Millionen Menschen in Afrika sind von akuten Hungersnöten betroffen;
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jeder vierte Afrikaner - oder 180 Millionen - ist chronisch unterernährt;
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jedes zehnte Kind in Afrika stirbt vor seinem ersten Geburtstag;
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mehr als 50 Prozent der Afrikaner haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser;
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ein Drittel hat keinerlei medizinische Versorgung;
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fast die Hälfte der Afrikaner sind Analphabeten;
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mit einem Anteil von weniger als zwei Prozent am Welthandel gilt Afrika als abgekoppelt von der Weltwirtschaft.
Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Besonders entmutigend ist: Die meisten dieser Werte
haben sich in den vergangenen Jahren nicht etwa verbessert, sondern deutlich verschlechtert. So ist z.B. das Pro-Kopf-Einkommen in Afrika heute niedriger als 1960.
Doch hinter den nüchternen Zahlen verbirgt sich die Verzweiflung von Millionen Müttern, die ihre Kinder nicht ernähren können; von Kriegsopfern und Flüchtlingen, die alles verloren haben; von Jugendlichen ohne Chance, dem Elend zu entkommen.
Während die Not Afrikas wächst, geht die internationale Unterstützung zurück: 1994 betrug die Hilfe für die Länder südlich der Sahara nach UN-Angaben insgesamt 18,8 Milliarden US-Dollar, 1998 brachten die reichen Länder nur noch insgesamt 13,5 Milliarden auf. Auch die Bundesregierung hat die Entwicklungshilfe für Afrika deutlich zurückgefahren: Der Etat des Entwicklungsministeriums sah für 1999 noch bilaterale Zusagen über 669,2 Millionen Mark für Sub-Sahara-Afrika vor; im letzten Jahr waren es 593,5 Millionen - eine Kürzung um deutlich mehr als zehn Prozent. Der Eindruck, so scheint es, hat sich durchgesetzt, in Afrika sei ohnehin nichts mehr zu retten.
Doch halt. Unsere Bundesregierung hat begonnen, ein neues Afrika-Konzept zu entwerfen. In der vergangenen Woche hat das Auswärtige Amt ein erstes Kapitel zu einem, wie es heißt, "regionalisierten Afrika-Konzept" der Öffentlichkeit vorgestellt. Es bezieht sich auf das südliche Afrika und will wegkommen vom Klischee des "Katastrophen-Kontinents".
Über die Frage, wie Afrika zu helfen sei, gibt es viele Theorien. Und Ludger Volmer, der Staatsminister im Auswärtigen Amt, kennt sie natürlich alle. Da gibt es zum Beispiel den Vorschlag, wegen mangelnder Entwicklungsfortschritte nur noch Katastrophenhilfe zu leisten. Ansonsten sollten die Afrikaner sich selbst überlassen bleiben und mehr Eigenverantwortung wahrnehmen. Ein anderer Vorschlag besagt, es seien durchaus Erfolge zu erzielen, wenn nur die Hilfsprojekte verbessert würden, wenn gezielter auf die Bedürfnisse der Menschen eingegangen würde und die Hilfe tatsächlich auch unten ankäme. Und eine dritte Theorie behauptet, Ausgangspunkt allen Glücks müsse die Demokratisierung sein.
Für die deutsche auswärtige Politik rangiert die "Demokratie" an erster Stelle. Gefördert werden sollen das "staatsbürgerliche Bewusstsein" der Schwarzafrikaner und demokratische Wahlen. Gilt es doch allgemein als ermutigendes Zeichen für die Entwicklung des schwarzen Kontinents, dass seit 1990 in 42 von 48 afrikanischen Ländern südlich der Sahara Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen stattgefunden haben. Als wenn das eine Garantie für mehr Demokratie wäre! In Österreich haben vor eineinhalb Jahren auch Parlamentswahlen stattgefunden, die eine rechtsradikale Partei in die Regierung katapultiert haben. Und erinnern wir uns an das Fiasko der letzten Präsidentschaftswahlen in den USA. In der westlichen Musterdemokratie Nr. 1 wurde eine korrekte Stimmenauszählung gar nicht erst zugelassen. George Bush junior wurde nicht von den Wählern, sondern vom Obersten US-Gericht ins mächtigste politische Amt dieser Welt gehievt.
Mit der Durchführung von Wahlen allein - und mögen sie noch so frei sein - ist es eben noch längst nicht getan, insbesondere nicht in Ländern, denen jegliche ökonomischen Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens fehlen.
Natürlich will die Bundesregierung, so versprach Ludger Volmer, auch "humanitäre Hilfe" leisten. Bei diesem Wort zucke ich unwillkürlich zurück, weil unter diesem Label die NATO inzwischen auch Interventionskriege zu führen pflegt. Aber in diesem Fall ist wohl zunächst tatsächlich nur humanitäre Hilfe in Form von Katastrophenhilfe, Lebensmittelhilfe und medizinischer Versorgung gemeint. Volmer nennt das "die ethische Verpflichtung zur Solidarität in einer globalisierten Welt". Er sagt aber auch, dass Beistand darüber hinaus "utilitaristische Aspekte" habe, also Nützlichkeitserwägungen unterworfen sein müsse. Damit meint er zweierlei, und wir sollten ihm dankbar sein für die klaren Worte:
Erstens dürfe man das eigene wirtschaftliche Interesse "nicht negieren". Denn südlich der Sahara liegt in Form zahlreicher massenhaft vorkommender Rohstoffe "ein enormes, bislang nicht ausreichend genutztes Entwicklungspotenzial" und ein Markt von 600 Millionen Bürgern.
Und zweitens spricht Ludger Volmer von den möglichen Auswirkungen der "Migrationsströme" auf Europa und von den finanziellen Belastungen durch die Hilfsbudgets der internationalen Organisationen. Mit anderen Worten: Die Brosamen vom Tisch der Reichen sollen so geschickt verteilt und dosiert werden, dass die Menschen dort bleiben, "wo sie hingehören".
Eine neue Politik vermag ich in diesem Ansatz nicht zu erkennen. Es ist die sattsam bekannte Politik der Absicherung der Festung Europa. Dazu hat sich die Bundesregierung in den 90er Jahren eine restriktive und menschenverachtende Asyl- und Flüchtlingsgesetzgebung gegeben. Dazu wird die EU zu einem Militärbündnis mit Interventionsfähigkeit ausgebaut. Und dazu wird Hilfe nur soweit gewährt, als sie unbedingt erforderlich ist, um sich die Migrationsströme und anderes Unheil aus Afrika vom Leibe zu halten.
Freilich sind auch die Grenzen der Hilfe eng gesteckt. Geld ist knapp. Auch Afrika war zum Beispiel von den Botschaftsschließungen im Zuge des Sparkurses im Auswärtigen Amt betroffen. In unzerstörbarem Optimismus setzt Volmer allerdings auf einen Lerneffekt: "Wenn wir Botschaften schließen, dann tun wir das nur, um der Öffentlichkeit zu zeigen, dass man das eigentlich nicht tun darf."
Ludger Volmer hat auch schon intelligentere, mindestens aber witzigere Tage erlebt.
Aber vielleicht ist das ja ein Prinziup, nach dem die deutsche Außen- und Militärpolitik generell verfährt. Etwa nach dem Motto: Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien vor zwei Jahren, nun, das wissen wir, war nicht mit dem Völkerrecht, der UN-Charta und dem Grundgesetz vereinbar. Wir haben den Krieg trotzdem geführt, um der Weltöffentlichkeit - oder vielleicht auch nur den Nicht-NATO-Staaten zu zeigen: Das was wir hier tun, das dürft ihr aber nicht, denn es ist nicht Rechtens.
Aber nicht einmal zu einem solchen Eingeständnis hat sich die Bundesregierung bisher durchgerungen. Zwei Jahre nach dem Krieg, der die Friedensbewegung so geschockt hat, weil er eine tiefe Zäsur in der Entwicklung der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts darstellte, weil er der Welt demonstrieren sollte, dass die NATO und ihre Führungsmacht, die USA, selbst bestimmen, was als Recht und was als Unrecht zu gelten hat, weil das Faustrecht wieder an die Stelle des Völkerrechts getreten ist - zwei Jahre also nach diesem Krieg gibt es kein einziges Signal aus Berlin, wonach vielleicht doch den einen oder den anderen Abgeordneten Zweifel beschleichen, da wäre es nicht mit rechten Dingen zugegangen.
Wir verlangen ja keine großen Gesten des Bedauerns, der Zerknirschtheit, kein Abschwören und keine lautstarken Dementis. Wir brauchen auch keine Überläufer und keine Bellizisten, die nur um uns zu gefallen, mal schnell die Seiten wechseln und sich zu Pazifisten bekehren lassen. Ostern ist nicht die Zeit der Saulusse und Paulusse. Denn wie schnell lassen sich unsere Politiker wieder wenden, werden von Pazifisten zu Bellizisten, vergessen, was sie uns noch gestern gepredigt haben.
Wir sind bescheidener: Wir wollen eine wirkliche Diskussion über den NATO-Krieg. Wir wollen, dass die Übertreibungen, Unwahrheiten und offenkundigen Lügen aufgearbeitet werden. Es kann einfach nicht sein, dass die politische Klasse in Berlin schweigt, wenn ein Argument nach dem anderen, das damals für eine militärische Intervention ins Feld geführt wurde, wenn ein Argument nach dem anderen heute in sich zusammenfällt.
Ich erinnere nur an drei eklatante Fälle von Desinformation:
Beispiel 1:
Die "humanitäre Katastrophe", die mit dem militärischen Eingreifen "verhindert" werden sollte, hat es so nicht gegeben bzw. ist erst mit dem Krieg eingetreten. Die US-Diplomatin Norma Brown, die sich damals im Kosovo aufgehalten hatte, erklärte gegenüber dem WDR: "Jeder wusste, dass es erst zu einer humanitären Krise kommen würde, wenn die NATO bombardiert." Alle Lageberichte der Bundesregierung bis zum unmittelbaren Kriegsbeginn und alle Berichte unabhängiger OSZE-Beobachter aus dem Kosovo 1998/99 sprechen übereinstimmend von einer "bürgerkriegsähnlichen" Situation, in der serbische Sicherheitskräfte und albanische Separatisten (UCK) verwickelt waren. Von großflächigen oder gar systematischen Vertreibungen oder Massenmorden konnte keine Rede sein.
Beispiel 2:
Auch den "Hufeisenplan" hat es nicht gegeben. Verteidigungsminister Scharping präsentierte im April 1999 den Medien einen solchen angeblich von der serbischen Führung ausgearbeiteten operativen Plan zur systematischen Vernichtung und Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo. Bis heute konnte die Bundesregierung keinen Beweis für die Existenz solch eines Planes liefern. Experten vermuten indessen, dass der so genannte Hufeisenplan von einem deutschen Geheimdienst oder im Außenministerium hergestellt wurde.
Beispiel 3:
Die "Massaker" von Rugovo und von Racak, in denen albanische Zivilisten von Serben brutal ermordet worden sein sollen, hat es ebenfalls so nicht gegeben. OSZE-Mitarbeiter und unabhängige Gerichtsmediziner, die diese Vorfälle (im Januar bzw. Februar 1999) untersucht haben, kamen zum Ergebnis, dass es sich im ersten Fall (Rugovo) keineswegs um ein Massaker gehandelt hat, vielmehr seien die 24 toten Albaner (keine Zivilisten, sondern UCK-Kämpfer) bei einem Gefecht getötet und anschließend an einen Ort zusammen getragen worden. Im zweiten Fall (Racak) - hier waren über 40 tote Albaner zu beklagen - konnten die Gerichtsmediziner keine Anzeichen auf eine Erschießung feststellen. Wahrscheinlich sind die Toten ebenfalls Opfer eines Gefechts geworden und erst nachträglich an einem Ort nebeneinander gelegt worden.
Wissenschaftler des Hamburger Friedensforschungsinstituts haben vor einem Monat in einem Offenen Brief an die Bundestagsabgeordneten auf solche und weitere Ungereimtheiten des Kosovo-Krieges hingewiesen und eine offene Diskussion darüber angemahnt. Vor wenigen Tagen haben sie eine Antwort erhalten von Gernot Erler, dem in der SPD-Fraktion zuständigen Experten für Internationale Politik. Gernot Erler, so erinnere ich mich dunkel, gehörte einst zu den Linken in der SPD, zu denjenigen, die in den 80er Jahren immer auch gern als parlamentarische Freunde der Friedensbewegung aufgetreten sind - damals war die SPD ja noch in der Opposition. Damals war die SPD auch noch gegen Atomraketen, für einseitige Abrüstung, gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr und was nicht alles!
Gernot Erler wäre heute wohl nicht außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion, wenn er diese Positionen noch hochhielte. Nicht nur das: Er hat seine Lektion in politischem Opportunismus gründlich gelernt. In seiner Antwort geht er nicht etwa auf die Fakten der Friedensforscher ein, auf Racak, auf den Hufeisenplan, auf die angebliche "humanitäre Katastrophe", die es zu verhindern gegolten hätte. Nein, er dreht einfach den Spieß um und bezichtigt die Wissenschaftler - ich zitiere - einer "einseitigen und tendenziösen Fakteninterpretation", des Führens einer "Kampagne, die z. T. mit fragwürdigen Mitteln arbeitet", der Verwendung eines "feinen, wenn auch durchschaubaren Tricks", und er nennt die Wissenschaftler "Verleumder" und "selbsternannte Staatsanwälte und Chefankläger" und wirft ihnen vor, sie wollten sich nur Foren schaffen, "in denen Sie Ihren Hang zu öffentlichen Tribunalen austoben könnten".
Das nenne ich Rufmord. Von der gleichen Qualität waren die Angriffe aus der politischen Klasse gegen die Redakteure des Westdeutschen Rundfunks, die die Fernsehdokumentation "Es begann mit einer Lüge" hergestellt haben. Diese Sendung ist am 8. Februar in der ARD ausgestrahlt worden und hat einem Millionenpublikum gezeigt, wie schamlos die Öffentlichkeit vor und während des Krieges von Scharping und Fischer belogen worden war. Um die Gefühle und Köpfe der Bevölkerung für den Krieg gegen Jugoslawien zu gewinnen, wurden alle nur denkbaren Register der Propaganda gezogen.
Was der Film nicht zeigte - weil es nicht mehr sein Thema war -, das war ein weiterer Aspekt des Krieges, der bis heute unaufgearbeitet bleibt: Die NATO-Kriegsführung selbst verstieß gegen elementare Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts, nämlich gegen zahlreiche Bestimmungen der Genfer Konvention. Die meisten Opfer des Krieges waren Zivilpersonen. Mit dem verharmlosenden Begriff der "Kollateralschäden" kann dies nicht abgetan werden. Neben Menschen wurden viele zivile Objekte und Infrastruktureinrichtungen wie Brücken, Industriebetriebe, Krankenhäuser, Kraftwerke, Rundfunk- und Fernsehsender zerstört. Auch der Einsatz uranhaltiger Munition verursacht bleibende Schäden bei Mensch und Natur und stellt einen Skandal dar, bevor ruchbar geworden ist, dass vielleicht auch eigene Soldaten dadurch in Gefahr geraten sein könnten.
Aber auch auf dem Balkan hat der siegreiche NATO-Krieg keines der vielen Probleme lösen können, wie sich nicht zuletzt durch die anhaltenden Kämpfe in Südserbien und mittlerweile in Mazedonien zeigt. Die NATO gleicht dem Zauberlehrling, der die UCK-Geister seinerzeit gerufen hat, um das Kosovo von Milosevic-Jugoslawien abzutrennen. Sie sind ihm aber heute über den Kopf gewachsen und präsentieren ihre Rechnung: Abtrennung südserbischer Gebiete von Kustonica-Jugoslawien, Abtrennung eines Drittels des Territoriums von Mazedonien und Schaffung eines großalbanischen Staates. Der Balkan steht - auch ohne Milosevic! - vor einem neuen Krieg.
Wenn es sich bei den offiziellen Regierungsverlautbarungen zur Rechtfertigung des Krieges um reine Zweckpropaganda, um Manipulation gehandelt hat, dann stellt sich die Frage nach dem Warum. Wayne Merry, politische Beraterin der US-Regierung, sieht die Sache heute ziemlich nüchtern: "Man wollte zeigen, dass die NATO überhaupt noch einen Zweck hat."
Und genau das ist es: Nach dem Ende der Ost-West-Blockkonfrontation und der Auflösung des Warschauer Pakts hatte die NATO, die ja als Verteidigungsbündnis gegen den "drohenden Kommunismus" gedacht war, keine Existenzberechtigung mehr. Also musste, wenn man am Militär selbst interessiert war, eine neue Bedrohungslüge bzw. eine neue Sinngebung der NATO her. 50 Jahre nach Gründung der NATO gab sie sich auf ihrem Gipfel im April 1999 eine neue Strategie. Deren Ziel ist letztendlich die weltweite Durchsetzung ökonomischer und geostrategischer Interessen der reichen Industrienationen (soweit sie der NATO angehören). In einschlägigen Papieren der NATO wird das mit "Aufrechterhaltung des freien Welthandels" oder mit dem "ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt" ziemlich genau beschrieben. Auch die Bundeswehr wird auf diese Strategie vorbereitet und in eine weltweit einsetzbare Interventionsarmee umgewandelt: In den kommenden 15 Jahren sollen für über 200 Mrd. DM neue Waffen und Ausrüstungen beschafft werden. Die Stärke der für Interventionen ("so genannte "Kriseneinsätze") zur Verfügung stehenden Truppen soll auf 150.000 Soldatinnen und Soldaten ausgelegt werden. Damit will man erreichen, dass die Bundesrepublik mindestens zwei große oder mehrere kleinere "Krisen" in aller Welt gleichzeitig "managen" kann. Im Klartext heißt das: Zwei große oder mehrere kleine Kriege sollten künftig parallel führbar sein.
Auch das ist doch wieder so ein Grund, der eigentlich die Menschen hier zu Lande aufrütteln müsste. Da wird an allen Ecken und Ende gespart:
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Die Renten werden unsicher gemacht und nebenbei auch noch gekürzt,
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die Arbeitslosen werden für ihr Schicksal selbst verantwortlich gemacht,
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die indirekten Steuern und Abgaben, die von den geringer Verdienenden aufgebracht werden müssen, werden sukzessive erhöht,
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Bildung, Gesundheit und Kultur werden in einem Maße verteuert, dass sie bald zu exklusiven Luxusgütern werden.
Und gleichzeitig werden die Rüstung und der Bundeswehretat für sakrosant, für unantastbar erklärt.
Seit Monaten erhält Scharping lautstarke Unterstützung für seine Forderungen nach mehr Geld durch den Bundeswehrverband und durch die Inspekteure der Teilstreitkräfte. Im Grunde genommen wird ein Spiel fortgesetzt, das auch schon zu Rühes Zeiten sehr beliebt war: Die Interessenvertreter des Militärs listen die schrecklichsten Mängel bei Bewaffnung und Ausrüstung der Bundeswehr auf und sprechen der Armee die "Bündnisfähigkeit" ab. Der zuständige Minister nimmt den Ball gern auf und stellt seine Forderungen an das Kabinett.
Vor kurzem machte der Ende März 2001 ausgeschiedene Inspekteur des Heeres Helmut Willmann seine Rechnung auf: Die Bundeswehr, so seine Diagnose, befände sich in einem "Teufelskreis" zwischen Bundeswehrreform, der dafür notwendigen Ausrüstung und den zugesagten Beiträgen für die Eingreiftruppe der EU und den "stand by forces" für die Vereinten Nationen. Notwendig sei es, alle drei Aufgaben gleichzeitig zu lösen, dafür aber fehle hinten und vorne das Geld. Beispielsweise bleibe das Heer auf seinen alten Waffensystemen sitzen, die längst ausgemustert gehörten. Dazu zählt Willmann den Schützenpanzer Marder, den Spähpanzer Luchs und den Hubschrauber Bell UH-1D. Um überhaupt noch ein paar dieser maroden Systeme benutzen zu können, sei man zum "Kannibalensystem" übergegangen: Mehrere dieser Waffen werden "ausgeschlachtet", um mit den dabei gewonnen funktionierenden Teilen ein betriebsfähiges Exemplar zusammen zu bauen. - Ganz schön kreativ, die Tüftler und Bastler vom Bund!
Solche Geschichten sind mittlerweile Legion. Parlamentarier fallen reihenweise darauf herein und stimmen in den Chor derjenigen ein, die der Bundeswehr zu mehr Geld verhelfen wollen. Dabei bleiben zwei Überlegungen geflissentlich außer Betracht:
Einmal die Tatsache, dass das Verteidigungsministerium mit dem Einzelplan 14 in den letzten Jahren regelmäßig über 47 bis 48 Milliarden DM verfügte (Höchststand in den 80er Jahren: 53 Mrd. DM), womit eine Armee, die nur noch 330.000 Soldaten befehligt (statt 490.000 in den 80er Jahren) eigentlich ganz gut leben müsste. Kamen nämlich in den 80er Jahren, also noch in der Hochzeit der militärischen Blockkonfrontation, rechnerisch 1,1 Millionen DM Verteidigungsausgaben auf einen Soldaten, so sind es heute, ohne dass ein gegnerisches Militärbündnis existiert oder in Sicht wäre, 1,4 Millionen DM. Soll man da nicht erwarten können, dass mit einem derart gestiegenen "Pro-Kopf-Verbrauch" ein gewisser Ausrüstungsstandard zu halten ist?
Zum Zweiten hat es die Bundeswehr bzw. der für Material und Ausrüstung zuständige Generalinspekteur Harald Kujat bisher nicht fertig gebracht, handfeste und nachprüfbare Daten für die angeblichen Mängel und Wünsche vorzulegen: Stückzahlen, Kosten, Beschaffungstermine u.v.a.m. Wer aber seinen Bedarf nicht genau beziffert, kann kaum auf Verständnis für seine Nöte rechnen.
Entweder ist die Hardthöhe unfähig genaue Bedarfszahlen zu liefern, oder sie kann die behaupteten Defizite nicht belegen, will aber trotzdem mehr Geld haben: Beides reichte aus, um dem leitenden Ressortchef, Scharping, den Rücktritt nahe zu legen.
Scharping wäre aber nicht Scharping, wenn er sich dadurch in irgend einer Weise beeindrucken ließe. Sicherheitshalber macht er, um Mitleid zu erheischen, eine dritte Front auf: Die Bundeswehr, so seine Botschaft, lebe in so armseligen Verhältnisse, dass ihr reihenweise die Leute davon liefen. Ein erschreckender Verlust an Motivation, Einsatz- und Kampffähigkeit habe eingesetzt. Um das zu belegen, existieren plötzlich genaue Zahlen.
Sie finden sich in der Antwort des Verteidigungsministeriums auf eine kleine Anfrage im Bundestag: Danach sind seit Anfang vergangenen Jahres 31 Berufsoffiziere auf eigenen Wunsch aus der Bundeswehr ausgeschieden. 74 Berufssoldaten haben sich im gleichen Zeitraum zu Zeitsoldaten herabstufen lassen. Eine dramatische Zahl, wenn sie in Beziehung gesetzt wird zu den Durchschnittszahlen früherer Jahre.
Des Weiteren wurde mitgeteilt, dass derzeit 1.412 Offiziersstellen und 4.138 Unteroffiziersstellen unbesetzt seien. Es fehle insgesamt an jungen Nachwuchskräften.
Nur: Mit fehlendem Geld kann dies wohl nicht mehr begründet werden. Die Stellen sind ja vorhanden, und ein Offizier der Bundeswehr muss nicht gerade am Hungertuch nagen. Vielleicht ist ja der Soldatenberuf insgesamt nicht mehr so gefragt. Möglicherweise hat das auch zu tun mit der Umorientierung der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu einer Interventionsstreitkraft. Die Werbekampagne um die Frauen sollte wohl auch dazu dienen, die Personallücken zu stopfen. Bisher allerdings haben nur sehr wenige Frauen Verständnis für die Nöte der Bundeswehr gezeigt.
Nun sind ja auch die Zahlen der Kriegsdienstverweigerer in den letzten Jahren weiter angestiegen. Läge es da nicht nahe, statt auf das fehlende Geld zu verweisen, eine mangelnde Legitimation der Bundeswehr zu diagnostizieren? Eine veränderte Weltlage (keine äußere Gefahr für die Bundesrepublik), ein veränderter Auftrag (Intervention statt Territorialverteidigung) und veränderte Lebensgewohnheiten und Lebensentwürfe (Selbstbestimmung statt Befehl und Gehorsam) haben die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen für die Bundeswehr weit mehr beeinflusst, als den traditionellen Militärs lieb sein kann.
Junge Leute gehen heute doch viel lieber in einen Container als in eine Kaserne. Nun muss man das mit dem Container ja auch nicht unbedingt gut finden. Aber die jungen Leute wollen es im Moment ja nicht anders. Und sie müssen dafür ja auch einiges erdulden, z.B. das Gelaber des FDP-Modernisierers Westerwelle. Wenn das keine Höllenstrafe ist!
Die Akzeptanz für das Militärische nimmt gesamtgesellschaftlich weiter ab (übrigens auch als Folge des jahrelangen Wirkens der Friedensbewegung). Das ist die gute Botschaft. Leider hat sie auch eine schlimme Kehrseite. Die Liebe zum Militär steigt bei einer Minderheit, bei bestimmten Gruppen der Gesellschaft deutlich an. Dazu zählen in auffälliger Weise Randgruppen rechtsradikaler und besonders gewaltbereiter Jugendlicher.
Die Militär- und Interventionsbefürworter verfügen auch noch über satte Positionen innerhalb der politischen Klasse. Die "Bundeswehrreform", dies zeigte die amputierte Diskussion um das Weizsäcker-Papier, und alle mit der Umwandlung der Bundeswehr in eine Interventionsarmee zusammen hängenden Fragen der Umrüstung gehören zum politischen "Konsens der Demokraten" in Berlin, der schon längst auch die Grünen einschließt. Der Spiegel vom 2. April 2001 listete den mittelfristigen Finanzbedarf dafür auf und ermittelte einen Gesamtrahmen von 220 Milliarden DM. Diese Zahl entspricht ziemlich genau den schon seit Jahren von der Friedensbewegung und ihr nahe stehender Institute veröffentlichten Berechnungen. Nichts Neues also, und doch hat die Spiegel-Veröffentlichung wieder zu hektischem Treiben in Berlin Anlass gegeben. Ein "diskretes Treffen" zwischen Schröder, Scharping und Eichel hat Anfang April statt gefunden und eine Reihe von Koalitionsabgeordneten hat Vorschläge gemacht, wie dem notleidenden Scharping zu Hilfe zu kommen sei. Dabei zeichnet sich für den Haushalt 2002 und für die mittelfristige Finanzplanung bis 2005 ein "Kompromiss" ab, der folgendermaßen aussehen könnte: Es wird keine grundsätzliche Aufstockung des Wehretats gegenüber der bisherigen Kalkulation geben. Dafür soll Scharping dabei unterstützt werden, mit Erlösen aus Liegenschaften - also dem anstehenden Verkauf von Kasernen, Verwaltungsgebäuden oder Grundstücken - gesichert rechnen zu können. Die Verkäufe werden für Scharping über die Kreditanstalt für Wiederaufbau vorfinanziert. Das heißt, Scharping kann fest mit dem Geld rechnen, obwohl die Objekte faktisch noch nicht verkauft sind.
Schon früher war vereinbart worden, dass Scharping 80 Prozent der Erlöse aus den Liegenschaftsverkäufen behalten dürfe, und zwar bis zu einer Jahreshöchstgrenze (für das Jahr 2002) von 1,2 Milliarden DM. Bis zum Jahr 2005 will das Verteidungsministerium auf vier Milliarden DM kommen. Mit anderen Worten: Die Rüstungsausgaben bleiben haushaltstechnisch auf dem Niveau von rund 47 Mrd. DM "eingefroren", die realen Ausgaben für die Bundeswehr (ohne die üblicherweise verstecken Gelder in anderen Etats) steigen aber weiter an. Das freut das Militär, das freut die Rüstungsindustrie, das freut die Militaristen aller Fraktionen im Bundestag und das besänftigt schließlich auch den obersten Finanzbeamten Hans Eichel.
Eine friedliche Entwicklung der Welt ist damit nicht zu erreichen. Rüstung provoziert (Gegen-)Rüstung, der Aufbau von Interventionstruppen der NATO oder der Europäischen Union provoziert entsprechende Reaktionen der "Ausgeschlossenen".
Der geplante Aufbau eines US-Raketenabwehrsystems (Kostenpunkt rund 60 Mrd. US-Dollar) provoziert entsprechende Aufrüstungsaktivitäten Russlands und Chinas, aber auch der so genannten "Schurken"-Staaten, die sich im Visier der US-Militärdoktrin befinden. Wenn die Welt heute vor einer neuen Aufrüstungsspirale steht, dann ist die Politik der USA und der NATO daran Schuld. Und wenn wir der Bundesregierung nicht noch energischer in die Parade fahren und sie an ihre früheren Bedenken gegen das US-Raketenabwehrsystem erinnern, dann werden Schröder. Fischer und Scharping auch noch zur Finanzierung des amerikanischen Traums von der angeblichen "Unverwundbarkeit" beitragen. Bezahlen allerdings müssen wir es mit unseren Steuern.
Ob die Rechnung der Kriegsbefürworter und der breiten Aufrüstungs-Koalition in Washington, in Brüssel und in Berlin aufgeht, wird wohl hauptsächlich vom Wirken der Friedensbewegung abhängen. Wir haben zwar nur noch wenige Verbündete im Bundestag, aber wir haben nach wie vor sehr viele Anhänger im außerparlamentarischen Raum. Die Ostermärsche - so wichtig sie sind - spiegeln diese gesellschaftliche Akzeptanz zahlenmäßig nicht wider. Genau darauf aber werden sich in den Berichten heute Abend und Morgen in den Zeitungen die Journalisten kaprizieren und zum wievielten Male die Friedensbewegung für tot erklären. Doch ein solcher Totenschein erfüllt die Tatsache der Urkundenfälschung. Übrigens: Hätte die Friedensbewegung für jedes Mal, da man sie in den letzten zehn Jahren für tot erklärt hat, wenigstens die Bestattungskosten für ein Begräbnis dritter Klasse erhalten, sie stünde heute mit prall gefüllten Taschen da.
So haben wir keine prall gefüllten Taschen, dafür sind wir aber noch lebendig.
Und wenn es uns gelingt, die Menschen mit Themen anzusprechen, die ihre Interessen berühren, die mit ihren Sorgen und Nöten zu tun haben, Themen, die auf eine Zukunft ohne Krieg und ohne Kriegswaffen gerichtet sind, dann werden wir auch zahlenmäßig wieder größeren Zulauf haben.
Die wichtigste Aufgabe scheint mir heute zu sein, den Zusammenhang deutlich zu machen zwischen Aufrüstung und Sozialabbau, zwischen Krieg und Unterentwicklung, zwischen Militarisierung und Entdemokratisierung.
Beginnen wir an einem zentralen Punkt, an der politischen Weichenstellung für oder gegen die Umwandlung der Bundeswehr in eine Interventionsarmee. Provozieren wir, zetteln wir eine breite Debatte an über dieses Thema. Es gibt hierfür einen Appell, der in der Friedensbewegung auf breiteste Zustimmung gestoßen ist und in meinen Augen geeignet ist, zu einem wirklichen Kristallisationspunkt unserer Friedensbemühungen zu werden: Der Appell "Kriege verhindern - Einsatzkräfte auflösen".
Die Arbeit mit diesem Appell, das Sammeln von Unterschriften und die Diskussionen mit den Menschen, wird uns in den nächsten Monaten, vielleicht auch noch in den nächsten Jahren begleiten.
Die Bundesrepublik hat keine äußeren Feinde. Mit ihrer Rüstung, mit ihren Interventionstruppen und mit ihrer Mitgliedschaft in einem aggressiven Militäbündnis ist sie dabei, sich neue Feinde zu schaffen.
Dies müssen wir verhindern. Aus diesem Grund müssen wir eine Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik schaffen.
Kriege verhindern - Einsatzkräfte auflösen: Das ist das Gebot der Stunde!
Mehr zu den Ostermärschen 2001
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