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Nur ein weiterer Appell?

Zu den Chancen der Friedensbewegung, in der Afghanistan-Frage die Initiative zu ergreifen

Von Peter Strutynski

Mitte Juni 2010 hat die Friedensbewegung endlich einen gemeinsamen Appell auf den Weg gebracht, der in knappen Worten und präzise die wichtigsten Forderungen zur Beendigung des Afghanistan-Krieges zusammenfasst: Die Bundeswehr müsse ihre Kampfhandlungen sofort beenden (was gleichbedeutend ist mit einem einseitigen Waffenstillstand), danach müsse „sofort“ mit dem Abzug der Truppen begonnen werden, und schließlich sollen die dadurch frei werdenden Mittel ausschließlich dem zivilen Wiederaufbau zur Verfügung gestellt werden. Damit, so heißt es in dem Appell, wären die Voraussetzungen für einen von den Afghanen „selbstbestimmten Friedensprozess“ geschaffen. Der Unterschriften-Appell mit dem Titel „Den Krieg in Afghanistan beenden – zivil helfen“ soll Grundlage für eine breite Kampagne in der Bevölkerung sein und Kristallisationspunkt der Friedensbewegung in den nächsten Monaten, vielleicht aber auch Jahren werden.

Außenstehende werden sich vielleicht etwas irritiert fragen, warum die Friedensbewegung so lange gebraucht hat, um mit einem einheitlichen Forderungspapier gemeinsam an die Öffentlichkeit zu gehen. Zumal es seit einigen Jahren eine gemeinsame Kampagne der wichtigsten bundesweiten Friedensorganisationen und –bündnisse gibt, die immerhin schon drei zentrale Demonstrationen (2007, 2008, 2010) und eine große Konferenz (Hannover 2007) durchgeführt und einen gemeinsamen Wahlprüfstein zur Bundestagswahl 2009 herausgegeben hat. Der Grund hierfür liegt nicht in der besonderen Beschaffenheit der deutschen Friedensbewegung, die sich durch eine große Heterogenität und einen ausgeprägten Dualismus zwischen Zentralorganisationen und Basisinitiativen auszeichnet.

Mit diesem „Manko“ – wenn es denn ein Manko ist, dass die Friedensbewegung vielfältig und bunt ist – lebt sie doch schon seit Jahrzehnten und hat zum Teil sehr erfolgreiche Kämpfe und Aktionen bestanden. Die Vielfalt der Bewegung war sogar ein Ergebnis des bis dato größten Aufschwungs der Friedensbewegung Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, als Hunderte und Aberhunderte neuer Initiativen in Stadtteilen, Betrieben, Hochschulen und Verwaltungen entstanden. Hinzu kam damals eine politisch-ideologische Spaltung der Friedensbewegung in zwei große Lager: hier die auf dem Gedanken der „friedlichen Koexistenz“ beruhende, mit der Außenpolitik der sozialistischen Staaten grundsätzlich einverstandene und das Bündnis mit der traditionellen Arbeiterbewegung anstrebende Friedensbewegung (z.B. Komitee für Frieden und Abrüstung-KOFAZ, Deutsche Friedensunion-DFU), dort die entweder christlich oder sozialdemokratisch orientierte Friedensbewegung, die trotz ihrer antikommunistischen Vorbehalte an einer Flügel übergreifenden Zusammenarbeit interessiert war. Etwas aufgemischt wurde diese Konstellation durch das Aufkommen der zur grünen Partei gewordenen Umweltbewegung, die für eine „blockunabhängige“ Friedensbewegung eintrat und ihr ökopazifistisches Credo nicht selten mit einer Prise antikommunistischer Militanz würzte. Dass in dieser politischen Gemengelage die Friedensbewegung trotzdem zu einer weitgehend einheitlichen Stoßrichtung fand, lag an vier Faktoren: Einmal an der von allen gleichermaßen als existenzielle Bedrohung empfundenen atomaren Aufrüstungspolitik des Westens (Stationierung von Pershing 2 und Cruise Missiles in Mitteleuropa), zum zweiten an den überzeugenden Abrüstungsangeboten der Sowjetunion (Teststopp-Moratorium, Reduzierung konventioneller Streitkräfte), zum dritten an der schwindenden Bindungskraft des in der alten Bundesrepublik zur Staatsräson hochstilisierten Antikommunismus und Antisowjetismus und viertens am 1980 ins Leben gerufenen „Krefelder Appell“, der sich auf die Hauptforderung aller Teile der Friedensbewegung konzentrierte und sich innerhalb kurzer Zeit zum Katalysator einer Massenbewegung entwickelte und die politische Kultur des Landes veränderte.

Die Friedensbewegung hat auch in den 90er Jahren und im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts ihre Höhepunkte gehabt, denen selbstverständlich Talsohlen vorausgingen und die „Mühen der Ebenen“ (B. Brecht) folgten. Zu erinnern ist etwa an die spontane Massenbewegung gegen den Golfkrieg 1991, die vor allem von Jugendlichen getragene Bewegung gegen die französischen Atombombenversuche im Muroroa-Atoll 1995 und die alle Maßstäbe sprengende weltweite Antikriegs-Bewegung 2003 gegen den Irakkrieg. Die Friedensbewegung selbst hatte ihre Strukturen weitgehend beibehalten – bei starkem Rückgang ihrer personellen Stärke. Wer gemeint hätte, die ideologischen Differenzen hätten sich mit dem Ende der Blockkonfrontation ebenfalls in Wohlgefallen aufgelöst, sah sich aber getäuscht. Der Triumphalismus des wirtschaftlich überlegenen Westens dezimierte die Reihen der Friedensbewegung um jene Kräfte, die sich – nach der deutschen Einigung - entweder am Ziel ihrer Wünsche sahen oder gerade deswegen sich enttäuscht aus der Politik zurückzogen. Doch auch der Rest schaffte es bis heute nicht, die Schützengräben des Kalten Kriegs zu verlassen und die Realitäten der neuen Welt(un)ordnung anders als auch der Ost-West-Brille vergangener Zeiten zu betrachten. So waren etwa die inneren Differenzierungsprozesse der Friedensbewegung in der Zeit der Balkankriege stark vom alten Ost-West-Schema geprägt („kommunistische“ Serben gegen „freiheitliche“ Slowenen, Kroaten, Bosnier und Kosovo-Albaner!). So manche Friedensinitiative verlegte sich auf die Organisation von Hilfslieferungen und ließ sich nolens volens vor den Karren der Krieg führenden NATO spannen. Von anderen wiederum wurde der serbische Präsident Milosevic zum Symbol des antiimperialistischen Kampfes gegen den Westen stilisiert – eine Sichtweise, die falsch ist, auch wenn er in seiner außenpolitischen Haltung das internationale Recht auf seiner Seite hatte.

Auch die Haltung zur verflossenen DDR hat ihre Spuren in der Friedensbewegung hinterlassen. Die Teile der Friedensbewegung, die im November/Dezember 1989 mit der Parole „Gute Nachbarn brauchen keine Waffen“ auf die Straße gingen und der Zweistaatlichkeit Deutschlands das Wort redeten („Gegen diese Vereinigung“), wussten sich zwar in Übereinstimmung mit den friedens- und weltpolitischen Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs, nicht aber mit den anderen Teilen der Friedensbewegung, die sich eher auf der antikommunistischen Seite befanden und die Wiedervereinigung sowohl als Befreiung der BürgerInnen der ehemaligen DDR als auch als herausragenden friedenspolitischen Erfolg feierten. Die Ernüchterung ließ indessen nicht lange auf sich warten: Nicht nur dass die „Friedensdividende“ ausblieb, auch die aggressivere Stoßrichtung der NATO (Erklärung von Rom November 1991) und der Bundeswehr (Verteidigungspolitische Richtlinien November 1992) machte deutlich, dass weder die Welt noch die Friedensbewegung ans Ende ihrer Geschichte gekommen waren. Im Gegenteil: Der zweite Golfkrieg 1991, die Zunahme innerstaatlicher Gewaltkonflikte und Kriege in der ersten Hälfte der 90er Jahre, die Rückkehr des Krieges nach Europa (Balkan) und die neue Frontstellung des Westens gegen den „islamistischen Fundamentalismus“ (von Samuel Huntington als bevorstehender „Clash of Zivilizations“ heraufbeschworen) versetzten die Welt in neue Aufregung und elektrisierte aufs neue die – allerdings geschrumpfte – Friedensbewegung. Anstatt dass sich aber deren reduzierte Kräfte gemeinsam auf die neuen Konfliktkonstellationen in der Welt einstellten und ihre Zusammenarbeit intensivierten, schienen sich ihre vererbten Strukturen eher zu verfestigen. Immerhin gelang mit der Initiierung eines breiten politischen Diskussionsprozesses durch den Kasseler „Friedensratschlag“ (seit 1994) eine partielle Selbstverständigung der unterschiedlichen Spektren. Aktionsorientierte Vereinbarungen mussten aber immer wieder aufs Neue in zum Teil mühsamen und Zeit raubenden Aushandlungsprozessen hergestellt werden. Dieser Zustand dauert bis heute an und wurde durch die zwischenzeitliche Gründung der „Kooperation für den Frieden“ eher bestätigt als in Frage gestellt.

So muss das Zustandekommen des gemeinsamen Afghanistan-Appells umso höher bewertet werden. Wie so oft mussten zwischenzeitlich bestehende Unterschiede in der politischen Einschätzung eines möglichen Friedensprozesses in Afghanistan geklärt werden. Dass die Beendigung des Krieges eine notwendige Voraussetzung für den zivilen Aufbau des Landes bildet, war unumstritten. Wie aber und in welcher zeitlichen Perspektive der Krieg zu beenden sein würde – darüber gingen die Meinungen doch auseinander. Manche Organisationen neigen nach wie vor zu einer Art „Exit-Strategie“, d.h. einem sukzessiven Abzug der Besatzungstruppen. Solche Vorstellungen treffen sich irgendwo mit grün-sozialdemokratischen Ausstiegsszenarien. Ihnen allen ist gemein, dass ein Abzug nicht sofort, also „kopflos“ erfolgen dürfe, weil die Situation dann erst recht eskalieren und Afghanistan endgültig im Chaos versinken würde. Die Haltung des „Friedensratschlags“ und vieler Basisinitiativen der Friedensbewegung ist dagegen klar: Sofortiger Abzug, damit das erste und wichtigste Hindernis auf dem Weg zu einer Verständigung in Afghanistan aus dem Weg geräumt wird. Solange nämlich westliche Besatzungstruppen im Land sind, solange wird es keine Chance zu einem tragfähigen Frieden geben. Dies ist nicht so zu verstehen, als würde mit dem Abzug der NATO-Truppen in Afghanistan der Frieden ausbrechen. Viel eher werden sich manche Konflikte (z.B. zwischen der delegitimierten Zentralregierung und den Regionen oder zwischen Warlords, Drogenbaronen und Clans) verschärfen, bevor sich die Zivilgesellschaft zu einem neuen Miteinander „zusammenrauft“.

Gewiss würde auch die NATO nicht den Abzug aus Afghanistan vollziehen, wenn die Bundesrepublik vorangeht. Dennoch wäre dies ein unübersehbares Signal an die anderen Staaten des Kriegsbündnisses, das ein Umdenken in der NATO befördern würde. Immerhin ist Deutschland hinter den USA und Großbritannien nicht nur der drittgrößte Truppensteller, sondern auch die Führungsmacht in der nördlichen Besatzungszone. Hinzu kommt, dass ein Ausscheren aus der Kriegskoalition den Widerstand gegen den Krieg in den anderen Ländern weiter beflügeln würde und so manche Regierung in große Not brächte. Wir konnten z.B. im Frühjahr d.J. sehen, wie an der Frage des Abzugs die niederländische Regierung zerbrochen ist. In Großbritannien ist eine Fortsetzung des Krieges genauso unpopulär wie in allen anderen am Krieg beteiligten Staaten. Selbst in den USA haben in Umfragen die Kriegsgegner eine klare Mehrheit.

Die Forderungen der Friedensbewegung nach einem „Stopp der Kampfhandlungen“ und dem „sofortigen Beginn des Abzugs der Bundeswehr“ lässt keinen Raum für etwaige Exit-Strategien und mittelfristige Zeitpläne für einen Rückzug der Truppen. Ein „sofortiger Beginn des Abzugs“ ist mitnichten „kopflos“, sondern verlangt den sofortigen geordneten Rückzug aus Afghanistan. Der dürfte bei realistischer Einschätzung der logistischen Voraussetzungen mehrere Monate dauern – so wie die Verlegung der Bundeswehrverbände nach Afghanistan 2001/2002 auch mehr als ein halbes Jahr in Anspruch genommen hatte.

Vom Tisch sind mit dem Appell auch jene Überlegungen, Deutschland müsse den Abzug seiner Truppen an bestimmte Bedingungen knüpfen (die etwa die „Stabilisierung“ der Nordregion oder des Karzai-Regimes in Kabul beträfen) oder sich in den afghanischen Friedensprozess in irgendeiner Weise einmischen. Ein Aggressor hat keine Bedingungen zu stellen, sondern er muss bedingungslos abziehen! Wird seine Hilfe von den afghanischen Kräften gewollt, dann stellt sich die Frage anders. In jedem Fall muss die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet werden bzw. sich selbst verpflichten, dem geschundenen Land Reparationen zu zahlen. Die durch die Beendigung des Kriegs eingesparten 1, 05 Milliarden Euro – so hoch sind die jährlichen direkten Kosten unserer Kriegsteilnahme – sollen „zur Verbesserung der Lebensbedingungen der afghanischen Bevölkerung nach deren Bedürfnissen“ eingesetzt werden, wie es im Appell heißt. Nur auf dieser Basis kann schließlich ein „selbstbestimmter Friedensprozess“ in Afghanistan beginnen.

Der Afghanistan-Appell der Friedensbewegung wird dann seine Wirkung tun, wenn er von den Hunderten von Friedensinitiativen im ganzen Land „angeeignet“ und zu ihrer Sache gemacht wird. Es ist nicht damit getan, den Appell schnell zu unterschreiben und abzuhaken – wozu die Möglichkeit der Online-Unterzeichnung hoffentlich nicht verführt -, sondern mit dem Appell muss „gearbeitet“ werden. Kein Infostand mehr ohne den Appell, keine Veranstaltung mehr, ohne dass die Listen durch die Reihen gehen und zum weiteren Sammeln weiter gegeben werden, keine Gewerkschaftsversammlung mehr, ohne dass nicht auf den Appell aufmerksam gemacht würde!

Die Zeitläufte sind nicht so, dass der Afghanistan-Appell automatisch zu einem Selbstläufer würde. Er muss durch verstärktes Engagement erst dazu gemacht werden. Dazu gehört auch, dass der Appell einen hohen Wiedererkennungswert erhält. Aus diesem Grund hat das Afghanistanbündnis beschlossen, allen Friedensorganisationen und –initiativen zu empfehlen, das verabredete Layout zur Unterschriftensammlung zu verwenden:
Afghanistan-Appell. Alle Organisationen und Initiativen können die Rückseite dann für eigene Zusätze, Erklärungen und sonstige Werbung benutzen.

Die Kriegskoalition des Westens weiß in Afghanistan nicht so recht weiter. Das Versprechen gegenüber der kriegsunwilligen Bevölkerung, mit der vorübergehenden Aufstockung der Truppen die Voraussetzung schaffen zu wollen, dass ab dem Herbst 2011 mit dem Abzug begonnen werden könne, verfängt nicht. Eine Umfrage vor dem Truppenverstärkungsbeschluss im Deutschen Bundestag im Februar d.J. ergab eine überwältigende Mehrheit von 80 Prozent, die diesen Schritt ablehnte. Und nach Lage der Dinge wird das Versprechen weder von Seiten der US-Administration noch von Seiten der Bundesregierung eingehalten werden können. Die Zeichen in Afghanistan stehen eher auf Eskalation der Gewalt, Zunahme des Widerstands und weitere Destabilisierung des Landes und der angrenzenden Regionen (Pakistan, Kirgistan, Usbekistan). Der offene Streit zwischen der politischen und militärischen Führung der USA über die richtige Strategie, der am 23. Juni 2010 in der Entlassung des Oberbefehlshabers General McChrystal gipfelte, ist nur ein Ausdruck der aus Sicht der Besatzungsmächte verfahrenen Situation. Mit dem Appell „Den Krieg in Afghanistan beenden – zivil helfen!“ könnte die Friedensbewegung genau den richtigen Zeitpunkt erwischt haben, größere Teile der Bevölkerung zu einem beherzteren Engagement gegen diesen Krieg zu bewegen.


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