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"Die Polizei greift nach letztem Strohhalm"

Blockupy-Proteste vom 1. Juni in Frankfurt: Staatsanwaltschaft ermittelt gegen alle knapp 1000 Eingekesselten. Gespräch mit Daniel Werner *


Daniel Werner ist ­Rechtsanwalt in Leipzig.


Die Staatsanwaltschaft hat fast 1000 Ermittlungsverfahren gegen Demonstranten eingeleitet, die bei den Protesten gegen die Verarmungspolitik der EU am 1. Juni in Frankfurt am Main eingekesselt worden waren. Bisher war von »nur« etwa 110 die Rede – wie haben Sie davon Kenntnis erlangt?

Ich vertrete Mandanten in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Ziel ist, die Rechtswidrigkeit des Einkesselns und der ihnen ausgesprochenen Platzverweise feststellen zu lassen. Den vorderen Teil dieser Demonstration unter dem Motto »Blockupy Frankfurt – Widerstand im Herzen des europäischen Krisenregimes« hatte die Polizei kurz nach Beginn eingekesselt und so deren Durchführung verhindert – ohne erkennbaren Anlaß und ohne Auflösungsverfügung. Ich habe jetzt endlich Akteneinsicht erhalten; leider unvollständig. Aber was ich daraus ersehen kann: Die Staatsanwaltschaft beabsichtigt, gegen alle eingekesselten Demonstranten Strafverfahren einzuleiten – gegen 943 Personen! Was ihnen vorgeworfen wird, ist dem Schriftstück nicht zu entnehmen.

Klingt das nicht so, als sollten sämtliche Opfer der Polizeigewalt zu Tätern umdefiniert werden?

Seltsam, in der Tat! Es zeigt aber, worauf die Staatsanwaltschaft zielt: Die Polizei kann verwaltungsrechtlich präventiv oder repressiv nach der Strafprozeßordnung gegen Demonstrationen vorgehen. Geht sie präventiv vor, hat das Versammlungsrecht Vorrang gegenüber dem Polizeirecht: Maßnahmen wie Einkesseln sind nicht vorgesehen. Die Polizei hätte also zuvor die Blockupy-Demonstration auflösen müssen – was sie nicht getan hat. Somit ist die Maßnahme rechtswidrig. Nun greift die Polizei nach dem letzten Strohhalm: Sie behauptet, nach der Strafprozeßordnung gehandelt zu haben. Es ist aber unglaubwürdig, daß alle 943 Personen Straftaten begangen haben sollen: ein durchschaubarer Versuch, Demonstranten zu kriminalisieren. So lenkt die Polizei von ihrem eigenen Versagen ab, daß sie rechtswidrig Personen bis zu neun Stunden ihrer Freiheit beraubt hat. Über Freiheitsentziehung darf nur ein Richter entscheiden; meine Mandanten haben keinen zu Gesicht bekommen. Da wird das Freiheitsrecht mit Füßen getreten – wie zuvor schon das Versammlungsrecht.

Die Polizei hatte angegeben, 947 Demonstranten eingekesselt zu haben. Da wundert es, weshalb vier Personen keine Anzeige erhalten ...

Möglicherweise könnte das so zu erklären sein: Im Kessel waren auch Anwälte, Journalisten und parlamentarische Beobachter.

Warum haben Sie bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt Strafanzeige eingereicht – und nicht in Frankfurt?

Als Grund hatte ich angegeben, den Verdacht der Befangenheit seitens der Frankfurter Staatsanwaltschaft ausschließen zu wollen, da diese gegen die eigene Polizeiführung ermitteln müßte. Jetzt hat mich das bestärkt: Wer so viele Verfahren gegen die Demonstranten einleitet, kann nicht zugleich eines gegen die verantwortlichen Polizisten führen.

Sie kritisieren, die Polizei habe monatelang Akten zurückgehalten – und gebe sie jetzt geschönt zur Kenntnis. Welche Anhaltspunkte haben Sie dafür?

Mit Einlegen der verwaltungsgerichtlichen Klage am 1. Juli hatte ich Akteneinsicht beantragt. Im Schreiben der Frankfurter Polizei hieß es dann, einen Aktenvorgang gebe es noch nicht. Da bin ich hellhörig geworden: Dieser existiert, wenn erstmals Daten erhoben sind. Und meine Mandanten wurden am 1. Juni kontrolliert, gefilmt, fotografiert, haben einen Platzverweis erhalten. Zudem hatte mir Professor Michael Brenner aus Jena, der ein Gutachten für den hessischen Innenminister Boris Rhein erstellt hat, bestätigt, das nach Aktenlage getan zu haben. Ich habe nicht die gleichen Akten erhalten wie er. Wer aber Akten zurückhält, setzt sich dem Verdacht aus, Daten verbergen, verschleiern oder manipulieren zu wollen. Man hat mir gesagt, sie müßten noch bearbeitet werden! Ich bin nicht interessiert an einem Wochen später verfaßten und rund geschliffenen Vortrag der Polizeiführung.

Sie sagen, die Polizei versuche, Klagen gegen den Einsatz auf kleiner Flamme zu kochen – wie das?

Sie hat beantragt, das Verfahren vom Verwaltungs- an das Amtsgericht zu verweisen. Es geht aber um verfassungsrechtliche Fragen: die Versammlungsfreiheit und die Freiheit der Person. Dafür sind Verwaltungsgerichte zuständig.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Montag, 23. September 2013


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