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"Der 15. Februar 2003 wird sich wohl ins 'kollektive Gedächtnis' der Bevölkerung eingraben"

Interview mit Dr. Peter Strutynski über die Friedensbewegung 2003

Das Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, München, hat im Sommer 2003 im Rahmen eines Projekts über die Friedensbewegung verschiedene Interviews mit ausgewählten Akteuren gemacht. An anderer Stelle haben wir Interviews mit Schülerinnen und Schülern dokumentiert. Hier nun das Interview mit einem Vertreter des Bundesausschusses Friedensratschlag. Der einleitenden Teil zum ganzen Projektbericht von D-A-S-H befindet sich hier.


Interview mit Dr. Peter Strutynski, AG Friedensforschung der Uni GH Kassel

Als Mitglied des Bundesausschuss Friedensratschlag stand uns Peter Strutynski Rede und Antwort. In der Politik der US-Regierung sieht er die Hauptursache für die weltweiten Massenproteste – den Vorwurf des Antiamerikanismus und die »Aufregung« um die Teilnahme rechter DemonstrantInnen an den Friedensdemos teilt er hingegen nicht.

Die Friedensbewegung erlebte mit den Protesten gegen den Irak-Krieg einen unerwarteten Zuspruch. Nicht nur, dass jede Woche Tausende gegen die Bombardierung demonstrierten und Schülerinitiativen wie Pilze aus dem Boden schossen, sondern auch die Medien, die Gewerkschaften und die Kirchen beteiligten sich an den Anti-Kriegs-Protesten. Wie erklären Sie diese breite Teilnahme an den Anti-Kriegs-Aktionen?

Zunächst ist wohl die geschwundene Glaubwürdigkeit der US-Administration und ihres Präsidenten, George W. Bush, schuld daran. Die monatelange Vorbereitung und Einstimmung der Welt auf den Irakkrieg hat nur ganz wenige Menschen überzeugen können. Die Argumentation der Kriegsbefürworter (Massenvernichtungswaffen, Terrorismus-Unterstützung, Krieg für Menschenrechte) hat nicht gezogen. Im Gegenteil: Viele Menschen hier zu Lande waren schon früh davon überzeugt, dass es Bush & Co. in erster Linie doch nur um die Kontrolle des irakischen Öls und um die Neuordnung des Nahen Osten als einer für die USA geostrategisch wichtigen Region ging. Vor dem Krieg hatte man Angst, weil er ein Präjudiz für kommende Konflikte in der Welt schaffen würde: Überall wo die vitalen (ökonomischen) Interessen der USA berührt sind, würden sie sich das Recht herausnehmen, notfalls mit einem Präventivkrieg einen potenziellen Gegner (z.B. sog. »Schurkenstaaten«) in die Knie zu zwingen. Damit würde die Herrschaft des internationalen Rechts (des Völkerrechts) wieder durch das altertümliche Faustrecht ersetzt und die Vorherrschaft der mächtigsten Militärmacht der Welt zementiert. Eine unangenehme und bedrohliche Vorstellung für viele Menschen.

Warum bezog die Kritik am Irak-Krieg die Politik der Bundesregierung (Überflugrechte, AWACS, etc.) oft nicht konsequent mit ein?

Die Kritik an der Bundesregierung war durchaus ein fester Bestandteil der Antikriegs-Argumentation der Friedensbewegung. Entsprechende Formulierungen fanden sich in dem Aufruf zur bundesweiten Großdemonstration am 15. Februar in Berlin und in fast allen mir zugänglichen Flugblättern, die in dieser Zeit auf örtlicher und regionaler Ebene kursierten. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Redner/innen auf Friedenskundgebungen immer dann den meisten Beifall erhielten, wenn sie neben der Kritik am Bush-Kriegskurs auch die zwiespältige Haltung der Bundesregierung kritisierten.

Warum gab es diese Proteste nicht, als die Bundeswehr vor vier Jahren erstmals im ehemaligen Jugoslawien eingesetzt wurde?

Die Situation vor dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien war völlig anders. In den Medien war der serbische Präsident Milosevic zum »Hitler des Balkan« stilisiert worden, die Kosovo-Albaner seien einer unerträglichen Verfolgung ausgesetzt gewesen und – seit dem Sommer 1998 – wurden Nachrichten verbreitet, im Kosovo drohe eine einzigartige »humanitäre Katastrophe«. Die Ereignisse von Srebrenica wurden immer wieder beschworen und ein militärisches Eingreifen der NATO – als »ultima ratio« – als letztes Mittel angepriesen, einen geplanten Völkermord zu verhindern. Im Januar 1999 veranstalteten z.B. Organisationen der Exil-Albaner in Deutschland zusammen mit der »Gesellschaft für bedrohte Völker« eine Kundgebung, auf der für ein militärisches Eingreifen der NATO geworben wurde. Die Medien waren fast vollständig auf den amtlichen Regierungskurs eingeschwenkt und beteiligten sich an der Verbreitung immer neuer Gräuelgeschichten, deren Wahrheitsgehalt gar nicht mehr überprüft wurden. Angesichts des verbreiteten antiserbischen Klimas war es sogar erstaunlich, dass in den damaligen Umfragen verschiedener Institute kaum mehr als eine knappe Mehrheit der Bevölkerung (in Ostdeutschland weit weniger als die Hälfte) für ein militärisches Eingreifen gegen Serbien aussprach.

Im Zusammenhang mit den deutschen KriegsgegnerInnen war häufig von antiamerikanischen Vorurteilen die Rede. Welche Einschätzung haben Sie zu den betreffenden Parolen und Äußerungen? (Personifizierung des »Bösen« in George Bush, die oft auftretende Gleichsetzung der Politik der USA mit Nazideutschland, …)

Ich möchte nicht von Antiamerikanismus sprechen. Die häufig anzutreffende Überbetonung des Bush-Faktors war zweifellos eine Reaktion auf das Verhalten Bushs, seine fundamentalistische Religiosität, seine Kampfansage an die »Achse des Bösen«, seine Verteufelung Saddam Husseins und seine Selbstgerechtigkeit und moralische Überhöhung der amerikanischen »Werte«. Hinzu kam die Ungeniertheit, mit der die US-Administration (neben Bush v.a. Rumsfeld und Cheney, Wolfowitz und Rice) ihre geostrategische Machtpolitik öffentlich zur Schau getragen haben. Der »Kern« der Friedensbewegung und – ich bin mir sicher – auch die überwiegende Mehrzahl der Kriegsgegner haben von einer Gleichsetzung Bushs und Hitlers nichts gehalten, sie haben aus gutem Grund ja auch einer Gleichsetzung Saddams mit Hitler widersprochen.

Von zahlreichen Demonstrationen ist bekannt, dass Neonazis versuchten teilzunehmen bzw. unwidersprochen teilnehmen konnten. (Ein anderes Beispiel ist die Mobilisierung des Aktionsbüros Nord zu den Protesten gegen das öffentliche Gelöbnis in Hamburg am 17. Juni unter dem Motto »Der Bundeswehr geloben? – Keinen Eid auf dieses System, kein Blut für Amerika!«) In der Pressemitteilung des Bundesausschuss Friedensratschlag zu den Antiamerikanismus-Vorwürfen vom 18. Februar 2003 werden rechtsradikale Gruppen per definitionem als nicht zur Friedensbewegung gehörig ausgeschlossen. Aber Äußerungen von DemonstrantInnen wie »Wir haben doch einen gemeinsamen Feind: George Bush!« weisen in eine andere Richtung. Wie erklären Sie die unterschiedlichen Handhabungen bei den Demonstrationen?

Die Friedensbewegung ist keine straff geführte Organisation, die von irgendeiner Zentrale Weisungen erhält und dann auf allen regionalen Ebenen entsprechend verfährt. Im Großen und Ganzen ist die Gefahr einer Infiltration der Antikriegs-Bewegung durch Neonazis immer übertrieben worden. Rechtsradikale haben sich nur in ganz wenigen Fällen auf Demonstrationen blicken lassen. Um ihnen nicht mehr öffentliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, haben wohl manche Friedensinitiativen in solchen Fällen vielleicht eher versucht, es nicht zum Eklat kommen zu lassen. War doch zu befürchten, dass die skandalorientierten Medien dann nicht mehr über das eigentliche Anliegen der Demonstration, sondern nur noch über den Eklat berichten. Auf Bundesebene haben wir auf Medienanfrage immer gesagt, dass sich Friedensbewegung und Rechtsradikalismus gegenseitig ausschließen und dass keine neonazistischen, antisemitischen oder sonstige rassistischen oder ausländerfeindlichen Parolen und Embleme geduldet würden. Auf der Demo vom 15. Februar war auch nichts davon zu sehen.

Muss eine Distanzierung nicht auch konsequentes Handeln erfordern und nicht nur die bloße Ablehnung von Rassismus? (Trotz der Distanzierungen der Friedensbewegung durch Pressemitteilungen wie der genannten, haben Neonazis ja an verschiedenen Demonstrationen teilgenommen.)

Siehe Frage 5. Was übrigens konsequentes Handeln betrifft, verweise ich darauf, dass die Friedensbewegung das auch kann. Am 13. Oktober, der großen bundesweiten Demonstration gegen den Afghanistan-Krieg in Berlin hatten Neonazis während der Schlusskundgebung ein deutschtümelndes Transparent auf der Kuppel des Doms angebracht. Während die Polizei hilflos durch Nichtstun glänzte, machten sich ein paar Demonstranten unbemerkt zum »Tatort« auf und rissen das Transparent den überraschten NPDlern weg. Der Spuk war – unter dem Applaus der 100.000 Demonstranten – wieder vorbei.

Können Sie einschätzen, inwiefern die rechte Globalisierungskritik und die Teilnahme an sozialen Protestbewegungen auch in künftigen Auseinandersetzungen eine Rolle spielen wird?

Da wo die Globalisierungskritik zu einer schlichten Antiglobalisierungshaltung verkommt (gegen die »Amerikanisierung« etwa), besteht durchaus die Gefahr, dass rechte Kräfte mitzumischen versuchen. Inwieweit dies hier und da schon geschieht und welche realen Gefahren in der Zukunft bestehen, kann ich nicht beurteilen. Hier müssten Sie sich bei Attac oder bei den Sozialforen kundig machen.

Kann eine Friedensbewegung auch Feinde und Feindbilder haben?

Ich würde nicht von »Feinden« sprechen, sondern von Gegnern. »Feinde« hat etwas Unabänderliches, Totales an sich. Ein Gegner darf nie so weit zum Feind stilisiert werden, dass jede Gesprächsbasis verloren geht. Generell sollte die Friedensbewegung alle außen- und sicherheitspolitisch relevanten Institutionen und deren personelle Träger kritisch beäugen. Die jeweilige Regierung bietet, auch ohne »Feind« zu sein, genügend Angriffsflächen, um ins Kritikfeld der Friedensbewegung zu geraten.

Die große Welle der Begeisterung für Antikriegsaktivitäten flaute nach dem erklärten Ende des Irak-Krieges schnell wieder ab. Was bleibt von den Protesten?

Das wird die Geschichte zeigen. Ich kann heute nur Hoffnungen äußern. Z.B. die Hoffnung, dass die Antikriegs-Haltung der Jugendlichen keine Eintagsfliege war. Dass sie sich bei künftigen ähnlich gelagerten Fällen (ich fürchte, es wird sie geben) in ähnlicher Weise engagieren. Ich hoffe auch, dass in der Bewegung gegen den Krieg nicht nur eine Antikriegs-Haltung übriggeblieben ist, sondern dass die Menschen auch über die Argumentation der Friedensbewegung, die ja viel komplexer war, nachdenkt und dass sie daraus für die Zukunft lernen. Der 15. Februar 2003 wird sich wohl – ähnlich wie die Antiraketenproteste der 80er Jahre – ins »kollektive Gedächtnis« der Bevölkerung eingraben, zumal es sich hierbei um eine weltumspannende Bewegung gehandelt hat.

Welche Perspektiven sehen Sie für die weitere Arbeit der Friedensbewegung?

Der Bundesausschuss Friedensratschlag hat hierzu vor kurzem »Acht Schwerpunkte« erarbeitet, auf die ich in dem Zusammenhang hinweisen möchte (siehe "Acht Schwerpunkte für die Friedensbewegung"). Ich habe dem auch nichts hinzuzufügen.

Zum gesamten Dossier D-A-S-H über die Friedensbewegung


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