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Ein natürlicher Optimist

Zum Tode des großen Humanisten Stéphane Hessel, Autor der Streitschrift »Empört Euch!«

Von Martin Hatzius *

Liest man Stéphane Hessels Aufruf »Empört Euch!«, so liest man vom unbedingten Willen eines von den politischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts - den katastrophalen wie denen des Aufbruchs - geprägten Greises, nachfolgenden Generationen etwas Überlebenswichtiges zu hinterlassen: den Mut zum Engagement für eine bessere, eine gerechte Welt. Zur Zeit der Niederschrift jenes nur wenige Seiten starken Essays bereits 93-jährig und im vollen Bewusstsein, »die allerletzte Etappe« seines Lebensweges zu beschreiten, wollte Hessel »die Nachkommenden teilhaben lassen an der Erfahrung, aus der mein politisches Engagement erwachsen ist: die Jahre des Widerstands gegen Diktatur und Besetzung - die Résistance - und ihr politisches Vermächtnis«.

Denn Jahrzehnte nach dem »Kampf gegen die faschistische Barbarei« erkannte Hessel wieder gewaltige Bedrohungen für die universell-humanistischen Ziele, denen er sein Leben verschrieben hatte. »Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, die Intellektuellen, die ganze Gesellschaft«, schrieb Hessel, »dürfen sich nicht kleinkriegen lassen von der internationalen Diktatur der Finanzmärkte, die es so weit gebracht hat, Frieden und Demokratie zu gefährden.« Nichts ist schlimmer, so das Credo des Widerständigen, als die Gleichgültigkeit. Mit spitzer Feder und der Würde eines Menschen, der seinen Glauben an ein lebenswertes Leben bis ins hohe Alter nie verloren hat, rief Hessel dazu auf, Unrecht durch genaues Hinsehen zu erkennen - und dagegen aufzubegehren.

Stéphane Hessels zuerst im Oktober 2010 veröffentlichter Appell fiel in Zeiten einer Krisenpolitik, die in Teilen Europas massenhafte soziale Verelendung in Kauf nahm, auf fruchtbaren Boden. Zuerst in Frankreich, wo sich die Schrift binnen weniger Monate hunderttausendfach verbreitete, dann in ganz Europa und weltweit. »Empört Euch!« gilt heute fast schon als Gründungsurkunde, jedenfalls aber als wichtiger Impuls der großen sozialen Protestbewegungen des Jahres 2011 wie Occupy. Die Aktivisten der spanischen »Bewegung 15. Mai« (Movimiento 15-M) werden auch als »Indignados«, die Empörten, bezeichnet. In diesem Namen hat Hessels »Indignez-vous!« einen lautstarken Widerhall auf den Straßen gefunden.

Ins Deutsche wurde seine Schrift auf Hessels Wunsch hin von Michael Kogon übersetzt, dessen Vater, den Schriftsteller Eugen Kogon, der Autor im KZ Buchenwald kennengelernt hatte. Der zum Tode verurteilte Hessel, 1944 als Spion von der Gestapo verhaftet, überlebte das KZ, weil Kogon und der Kapo Arthur Dietzsch ihm die Identität eines verstorbenen Mithäftlings verschafften. Im April 1945, auf dem Transport nach Bergen-Belsen, konnte Hessel in die Freiheit fliehen. Mit Eugen Kogon verband ihn zeitlebens eine enge Freundschaft.

Tony Gatlifs vor wenigen Wochen als DVD veröffentlichter Film »Empört Euch!«, der unter Hessels Mitwirkung entstand, illustriert, wie die Hoffnung des betagten Autors, seine niedergeschriebene Lebenserfahrung möge den positiven Geist der Empörung auf die Nachgeborenen übertragen, Realität geworden ist. »Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen« - der Slogan, der Hessels Essay beschließt, wird zum Motto des Films. Es sind junge Menschen, die hier Hessels aus dem Schwarz-Weiß einer finsteren Vergangenheit gesprochene Sätze in die Gegenwart verlängern. Man sieht sie bunte Plakate beschriften, auf öffentlichen Plätzen gegen das Spardiktat als Krisenbewältigung protestieren, eine Bankfiliale besetzen. Und man sieht, wie sie selbst unter den Schlägen von Polizeiknüppeln an jenem Gebot der Gewaltlosigkeit festhalten, das für Hessel so wichtig ist. »Die Zukunft gehört der Gewaltlosigkeit und der Versöhnung der Kulturen - davon bin ich überzeugt«, heißt es in seiner Broschüre, und: »Wir müssen begreifen, dass Gewalt von Hoffnung nichts wissen will.«

Stéphane Hessel, 1917 als Sohn des deutschen Schriftstellers Franz Hessel und der Journalistin Helen Grund in Berlin geboren, in Paris aufgewachsen, seit 1937 französischer Staatsbürger, Résistance-Kämpfer, Publizist, Dichter, UN-Botschafter, erbitterter Gegner des Totalitarismus, auch des kommunistischen - seine Lebenshoffnung war die tatsächliche Umsetzung jenes Programms, das der Nationale Widerstandsrat unter General de Gaulle im März 1944 verabschiedet hatte und auf dem das »neue Frankreich« aufgebaut werden sollte. »Das Gemeinwohl sollte über dem Interesse des Einzelnen stehen«, fasst er das große Vorhaben eines Systems sozialer Sicherheit zusammen, »die gerechte Verteilung des in der Arbeitswelt geschaffenen Wohlstandes über der Macht des Geldes.«

Nach dem Krieg wirkte Hessel an der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mit, die im Dezember 1948 von der UNO verabschiedet wurden. Dass das Recht auf ein Leben in Würde sich nicht auf einzelne Staaten beschränken lässt, sondern universell gültig sein muss, war für den Humanisten eine unumstößliche Überzeugung. Seine »Entschlossenheit zum Engagement« hatte er an Sartre und Hegel gestärkt. Sartre, dessen Vorlesungen er an der Ecole Normale Supérieure fasziniert verfolgt hatte, lehrte Hessel, »dass wir selbst, allein und absolut, für die Welt verantwortlich sind - eine fast schon anarchische Botschaft«. Hegel bestärkte ihn in dem, was er seinen »natürlichen Optimismus« nennt: »Die Freiheit des Menschen schreitet stufenweise voran. Geschichte ist eine Abfolge von Erschütterungen - und damit Herausforderungen.«

»Leider kennt die Geschichte nicht viele Beispiele von Völkern, die aus ihrer Geschichte lernen«, schrieb Hessel jedoch in einem umstrittenen Abschnitt seines Mahnrufs mit Blick auf die israelische Palästinenser-Politik. Dass er den Gaza-Streifen als »ein Gefängnis unter freiem Himmel« bezeichnete und von der Unerträglichkeit jüdischer »Kriegsverbrechen« schrieb, machte ihn angreifbar. Indessen: Zu schweigen über das menschliche Leiden, das der Hochbetagte bei mehreren Besuchen in den besetzten Gebieten gesehen hatte, lehnte er ab. Der »Lebensmut« der Palästinenser inmitten einer lebensbedrohlichen Lage imponierte ihm, der auch in hochkomplexen Problemlagen und angesichts einer postulierten »Alternativlosigkeit« nichts mehr ablehnte, als sich in ein elendes Schicksal zu fügen.

In der Nacht zum Mittwoch ist Stéphane Hessel gestorben. Er wurde 95 Jahre alt.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 28. Februar 2013

Stimmen zum Tode von Stéphane Hessel

In der Nacht zum Mittwoch, 27. Februar 2013, verstarb Stéphane Hessel. Stimmen zu seinem Tod und seinem Leben, nachgefragt und aufgeschrieben von »nd«.

»Der Tod von Stéphane Hessel ist ein unersetzlicher Verlust. Er war ein Mensch, der auf eine sehr abenteuerreiche Weise ein Jahrhundert zusammenband. Er war das Kind aus einem meiner Lieblingsfilme: »Jules et Jim« von François Truffaut, der die Dreiecksverbindung von Stéphanes Eltern Helen und Franz Hessel und deren Freund Henri-Pierre Roché nach dessen Roman erzählt. Sein Vater Franz Hessel übersetzte Casanova und Balzac, machte - gemeinsam mit Walter Benjamin - die Deutschen mit Marcel Proust bekannt, schrieb selbst beeindruckende Literatur. Hochachtung habe ich vor Stéphane Hessels Kampf gegen das Nazi-Regime. Und er blieb seinem Engagement gegen Kriege und jedes verächtliche Unrecht treu. Mit seiner kleinen Schrift »Empört Euch!« rüttelte er gegen heutige Gleichgültigkeiten auf, erregte die Gemüter, wie ich es sonst nur aus reichlich vergangener Zeit kenne. In hohem Alter wurde er richtig glühend.«
Alexander Kluge, Schriftsteller und Dokumentarfilmer


»Empörung kann eine konstruktive Kraft werden, das hat Stéphane Hessel gezeigt. Empörung reicht nicht. Engagement muss folgen. Und Geduld muss man üben.«
Friedrich Schorlemmer, evangelischer Theologe


»Stéphane Hessel hat einer Generation eine Stimme gegeben, die die Zukunft der Menschheit nicht den Kapitalinteressen unterwerfen will. Seine Empörung über die herrschenden Zustände hat viele ergriffen und eine Millionen zählende Bewegung für eine solidarische Gesellschaft begeistert. Sein revolutionärer Geist wird in diesen Menschen weiterleben und die Welt weiter verändern.«
Gregor Gysi, Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag


»Stéphane Hessel bewies, dass der in der Résistance geborene Widerstandsgeist gegen die Entrechtung des Menschen unter dem Faschismus auch heute, unter ganz anderen Bedingungen und in einer viel komplexeren Welt, Millionen Menschen mobilisieren kann. Er lebte und bewahrte eine Identität, die wichtig ist für eine menschliche, solidarische Gesellschaft.«
Oskar Negt, Sozialphilosoph


»Stéphane Hessels Essay »Empört Euch!« ist der Grund dafür gewesen, warum ich das gleichnamige Lied geschrieben habe. Und das Interessante ist, dass die 30 Seiten eigentlich nur in Kombination mit seiner Person und seiner Lebensgeschichte so einmalig sind. Es ist ein guter Text, aber wenn man weiß, wer hinter dem Text steht, dann berührt es einen wirklich. Dass jemand mit 95 Jahren, jemand in diesem Alter, noch so aufzurütteln vermag, das ist das Einmalige an Stéphane Hessel gewesen. Denn das, was man sich eigentlich heute von 20-Jährigen erwarten würde, das hat uns ein 95-Jähriger vorgemacht.«
Konstantin Wecker, Liedermacher


Er war für mich der Inbegriff eines Revolutionärs.
Jean Ziegler, Soziologe und Publizist




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