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Die IPPNW und das Vorbild Nelson Mandela

Eröffnungsvortrag von Horst-Eberhard Richter zum Jahrestreffen 2005 der IPPNW

Vom 11. bis 13. März 2005 fand das Jahrestreffen der IPPNW im Umweltforum Berlin statt. Es stand unter dem Motto: "60 Jahre danach: Von Hiroshima und Nagasaki ins neue nukleare Zeitalter".
Wir dokumentieren im Folgenden das Eröffnungsreferat von Horst-Eberhard Richter. Umweltforum Berlin,



Die IPPNW und das Vorbild Nelson Mandela

Von Horst-Eberhard Richter

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde,

wie Ulrich Gottstein darf ich mich zu den seit 23 Jahren unentwegt Aktiven in der IPPNW zählen, so dass Sie mir erlauben werden, Ihnen einige persönliche Gedanken zur Entwicklung, zum Stand und zur Aussicht unserer Organisation vorzutragen.

Anfangen möchte ich mit der erfreulichen Feststellung, dass wir uns über die vielen Jahre eine erfreuliche Lebendigkeit erhalten haben, was ja nach der Beendigung des Kalten Krieges und der Schwächung der akuten Atomkriegangst keine Selbstverständlichkeit war. Die sehr beachteten Veranstaltungen des letzten Jahres fallen mir ein: u.a. der Protestmarsch zu dem Atombombenlager Ramstein, der Antiatom-Kongress und die Tagung über Folter in Berlin. Der Appell an Bush, abgedruckt in der auflagestärksten überregionalen seriösen Tageszeitung Deutschlands ist von 1800 Mitgliedern und Förderern unterschrieben worden, das waren mehr als jemals zuvor bei früheren Aufrufen oder Resolutionen. Wir gewannen 5 x mehr Unterzeichner als der „Not welcome Appell“ des Bündnisses der benachbarten Friedensorganisationen in der FR.

Es gab natürlich auch einige Beanstandungen an unserem Text, allerdings etwa gleich viele, die den Tenor entweder zu höflich oder zu unhöflich fanden. Die überragende Zahl der Unterstützer und die uneingeschränkt positive Resonanz von außerhalb dürfen wir als Votum werten, dass wir mit unserer Außendarstellung richtig auf dem Kurs liegen, den die Mitglieder und die kritische Öffentlichkeit von uns erwarten.
Was ist das für ein Kurs? Mir scheint, er ist nicht weit entfernt von denjenigen der Gründungsjahre. Wir leben wieder in einer künstlich gespaltenen Welt. In den 80er Jahren war es die Ost-West-Spaltung. Jetzt steht der Westen gegen den terroristischen Islamismus. Wiederum scheint es sich um zwei unüberbrückbare Welten zu handeln. Unsere analytische Kompetenz erlaubt es uns aber zu zeigen, wie diese Spaltung künstlich aufgerissen und dramatisiert wird, wie das Böse zum Bösen gemacht wird, um kriegerische Aggression zu rechtfertigen.

In unserer Nachbarschaft der Globalisierungskritiker ist mehr ökonomische Kompetenz als bei uns versammelt, die zeigen kann, dass die Machtbasis der amerikanischen republikanischen Partei gar nicht auf die Befreiung der Iraker und der Iraner, sondern auf das Öl aus ist. Aber da dieses Motiv nicht von der Weltgemeinschaft als Kriegsgrund akzeptiert würde, muss man den kolonialistischen Imperialismus werbepsychologisch zu einem moralischen Heilrezept umetikettieren. Deshalb haben diese Kräfte einen Mann an die Spitze gebracht, der von seiner Struktur her die Welt gar nicht anders als gespalten denken kann in die Guten und die Bösen, in die Befreier und die Schurken, in die Beschützer und die Terroristen. Aus einem puren Eroberungskrieg wird dann eine vom Himmel gesegnete Heilsmission.

Hier kommt nun unsere ärztlich psychiatrische Kompetenz zum Tragen, nämlich um die paranoide Inszenierung zu entlarven und das kritische Bewusstsein der Öffentlichkeit wachzurütteln. Das ist aber, wie wir sehen, nicht einfach. Denn ein Großteil der Menschen ist nur ungenügend gegen die Verführung zu solchen paranoiden Inszenierungen gefeit. Innere Unzufriedenheit macht anfällig zur Solidarisierung mit anderen zur gemeinsamen Abreaktion an einem angebotenen Außenfeind. Der ideale Anstifter ist ein Führer, der selbst die Befreiung von einem heimlichen Selbsthass sucht, indem er andauernd äußere Verfolger jagen muss, um sich zu entlasten. Da kann es dann passieren, dass jemand den inneren Dämon Alkohol nur dadurch loswird, indem er fortwährend das schurkische Böse außerhalb jagen muss. Wenn nun so einer fortlaufende Kriege nach dem stets gleichen Schema vorbereiten muss, dann spricht das weniger für eine Vermehrung der Schurkerei in der Welt als für eine stereotype paranoide Konstruktion, die wiederum gut zu den ökonomischen Interessen der Manipulatoren im Hintergrund passt. Unsere Aufklärungsarbeit will dann aufzeigen: Hier werden Gegner zu weltbedrohendsten Feinden aufgebaut, um sie unbeanstandet vom Weltgewissen zu bombardieren und um selbst an das eigentlich anvisierte Ziel, z. B. an das Öl zu gelangen. Die Hoffnung ist, durch Entlarvung solcher Zusammenhänge die Kritik- und Widerstandsfähigkeit der Menschen gegen die Manipulation zu stärken.

Im Augenblick wird der Iran zum nächsten Opfer der Bush-Strategie hergerichtet. Dazu einige Bemerkungen aus der Vorgeschichte. Der Iran verfügte bereits vor einem halben Jahrhundert über ein demokratisches System. Der Ministerpräsident hieß Mossadegh. Aber als dieser mit seiner Regierung eine Verstaatlichung des Erdöls verfügte, machten sich die USA mit Hilfe der CIA daran, Mossadegh und sein demokratisches System zu stürzen und den gefügigen Reza Reza Pahlevi auf den Thron zu setzen. Das geschah 1953. Die Älteren unter Ihnen werden sich daran noch erinnern.

Als Folge staute sich im Iran antiamerikanischer Hass auf, der dann 25 Jahre später in die Revolution und die Machtübernahme Chomeinis und der Mullahs mündete. Als sich deren Einfluss immer mehr verstärkte und ausbreitete, rüsteten die USA den Irak auf und trieben diesen zum ersten Golfkrieg gegen das Mullah-Regime im Iran von 1980 bis 1988. Fortan wuchs die antiamerikanische Stimmung in der islamischen Region vor allem durch die einseitige amerikanische Unterstützung Israels auf Kosten des Palästina-Problems. Als die USA nach Ende des zweiten Golfkrieges nicht davor zurückschreckten, sich in Saudi-Arabien, dem Land des heiligen Mekka, als Besatzung fest zu etablieren, schwoll der antiamerikanische Hass noch um weitere Grade an und entlud sich in den Anschlägen auf US-Botschaften in Afrika. Hinzu kam noch ein im Westen kaum beachteter, aber in den islamischen Ländern anhaltende Erbitterung stiftender Vorfall. Das war 1998 die amerikanische Bombardierung der sudanesischen Pharmafabrik Al-Shifa, die tatsächlich nur Arzneimittel und keine Chemiewaffen produziert hatte, was von der US-Propaganda fälschlich verbreitet worden war. Der Ausfall dieser Firma als Lieferant wichtiger Medikamente wirkte sich auf das sudanesische Gesundheitssystem verheerend aus. Nach Schätzungen des deutschen Ex-Botschafters im Sudan sind längerfristig mehrere 10 000 Opfer den Folgen dieser Bombardierung zuzurechnen. Die Frage ist aber nun, wie ist das Ausmaß der islamistischen Bedrohung heute einzuschätzen? Übereinstimmend mit der Mehrheit seiner Fachkollegen lautet die Antwort des Islam- und Nahostexperten Prof. Kai Hafez, Redner auf unserem 2. Kongress „Kultur des Friedens“, ganz nüchtern: „Der islamische Fundamentalismus und ,Jihadismus’ können den USA und dem Westen durch Terrorismus sporadischen Schaden zufügen. Die islamische Welt befindet sich insgesamt aber in einer historischen Schwächeperiode, so dass weder militärisch noch ökonomisch auf absehbare Zeit eine vitale Gefahr von ihr ausgeht.“

* * *

Mit anderen Worten: Es ist eine Irreführung, die westliche Welt gegen eine übertrieben dargestellte islamistische Bedrohung auszurichten, nachdem man diese durch die amerikanische Nahostpolitik und den Irakkrieg erst selbst aufzubauen geholfen hat. Will man der unheilvollen Entwicklung glaubhaft entgegenwirken, müsste man die friedlichen Mehrheiten in den islamischen Ländern, die den Terror ablehnen, ungleich mehr als heute unterstützen und Zeichen der Achtung für die islamische Kultur und Religion setzen, anstatt den Menschen eine entfremdende Amerikanisierung aufzudrängen.

In der iranischen Gesellschaft formieren sich nun seit Jahren Kräfte, die von unten auf eine Reformierung des Systems drängen. Diese Bestrebungen wachsen unaufhaltsam. Die akademische Jugend macht sich in ihren Lebensformen schon mehr und mehr von aufgenötigten konservativen Zwängen frei. Mit einer gewaltsamen Intervention würden die USA diesen Prozess jedoch sofort ersticken. Denn die Iraner wollen nicht amerikanisiert werden, sondern ihre Gesellschaft selbst reformieren. Dennoch baut Bush mit seiner neuen Außenministerin die gleiche Drohkulisse auf wie vor dem Irak-Krieg, spricht alle paar Tage von einer militärischen Option und einem Regimewechsel und begleitet die diplomatischen Anstrengungen der Europäer mit der gleichen offenen Skepsis wie einst die Waffensuche des Inspekteurs Blix im Irak. Aber wer das Böse braucht, um immer wieder als Held siegen zu können, dem kann das Böse gar nicht böse genug sein, der will gar nicht geduldig abwarten, ob sich Probleme gewaltfrei lösen lassen oder sich von selbst lösen. Den drängt es zur heroischen Tat.

So liest sich ja auch die offizielle Verteidigungsstrategie des Pentagon: Präventiv angreifen, nicht abwarten, bis eine Bedrohung endgültig bewiesen ist. Für uns als IPPNW heißt das: Nicht abwarten, bis die Bomben fallen, sondern jetzt schon laut Alarm schlagen. Alarm schlagen nicht nur wegen des Iran, sondern gegen die atomare Bedrohung überhaupt, wo überall sie längst existiert – in Gestalt der weltweit gehorteten über 30.000 nuklearen Sprengköpfe, mehrheitlich im Besitz der USA.

Vor 4 Wochen erst ist aus einer unabhängigen amerikanischen Studie bekannt geworden, dass die Vereinigten Staaten unter Bruch des Atomwaffen-Sperrvertrages etwa 450 Kernwaffen, das ist mehr als die Chinesen besitzen, in offiziell atomwaffenfreien Staaten Europas und in der Türkei lagern. Davon allein bis zu 150 in Deutschland. Ein offizieller US-Militärsprecher erfand absurde Begründungen und faselte von Abschreckung und Erhaltung des Friedens in der Region. In Wahrheit ist es eine Form von Besatzung und Zementierung von Abhängigkeiten. Alles Gründe für unsere Forderung in dem Appell an Bush, diese vertragswidrig hier deponierten Atombomben schleunigst zu beseitigen. 92% der Deutschen unterstützen laut Forsa-Umfrage dieses dringende Verlangen. Gegen die Untätigkeit der Bundesregierung in dieser Frage müssen wir erneut energisch protestieren.

„Stop the Bomb!“ heißt der Text auf unserem Tagungsplakat, das ein kleiner Junge hochhält und das uns das Thema für diese Veranstaltung vorgibt. Das Thema ist richtig gewählt. Als kürzlich El Baradei vom „SPIEGEL“ gefragt wurde, wann die Gefahr eines Atomkrieges am größten gewesen sei, sagte er nur 2 Worte:
„Gerade jetzt.“ Den SPIEGEL-Leuten verschlug es die Sprache.

Kurz vor seinem Tode richtete Andrej Sacharow, Erfinder der russischen Wasserstoffbombe und einer der bedeutendsten Humanisten unserer Zeit, gleichsam als Vermächtnis die Mahnung an die Welt: „Die Verminderung des Risikos, dass die Menschheit in einem Atomkrieg ausgelöscht wird, hat absoluten Vorrang vor allen sonstigen Überlegungen.“ Ex-Verteidigungsminister Robert McNamara pflichtet ihm bei und gelangt am Ende seiner 500 Seiten langen Autobiographie zu dem Resümée: „Wenn wir es endlich wagen, aus den Denkschemata auszubrechen, welche die Nuklearstrategie der Atommächte seit 4 Jahrzehnten bestimmen, dann kann es meiner Ansicht nach gelingen, »den Geist in die Flasche zurückzuverbannen«. Tun wir es nicht, besteht die immense Gefahr, dass das 21. Jahrhundert eine atomare Tragödie erleben wird.“

Über 2 Jahre hatte ich in einem kleinen spontan gebildeten Kreis, der von Gorbatschow betreut wurde, Gelegenheit, diesen beiden Männern zuzuhören und mit ihnen zu sprechen. Es war die „International Foundation for the Survival and the Development of Humanity“. In diesem Kreis, in dem auch noch andere internationale Abrüstungsexperten saßen, schwand mein letzter Zweifel daran, dass die Anstrengung für die Überwindung der atomaren Bedrohung an der Spitze der Friedensarbeit stehen müsste. Ich bin dankbar dafür, in der IPPNW als einer Organisation mitarbeiten zu können, die sich durch ihren Namen genau dieser Aufgabe an erster Stelle verpflichtet hat.

Allerdings benutze ich die heutige Gelegenheit eines Eröffnungsreferates, um auch meine Beunruhigung darüber kund zu tun, dass die Konzentration auf dieses Thema in der Friedensbewegung allgemein und sogar auch in unseren Reihen nachgelassen hat. Ich war regelrecht konsterniert, als ich in dem parallelen Aufruf verschiedener Friedensorganisationen zum Bush-Besuch in Deutschland nicht einmal das Wort Atomwaffen fand, geschweige denn die Forderung nach atomarer Abrüstung, zumindest nach der Beseitigung dieser Waffen aus Deutschland. Niemand hat zwar beanstandet, dass ich in dem Appell an Bush die nukleare Weltpolitik der USA, den Bruch des Sperrvertrages und die Verweigerung atomarer Abrüstung besonders thematisiert habe. Aber es ist zu spüren, dass viele darin inzwischen eher so etwas wie eine Pflichtübung sehen. Alle wissen: Es ist ein Übel. Aber was hilft es, ewig darüber zu reden und zu jammern? Es hat nun keinen Sinn, sich über solche Resignation zu entrüsten. Keine Verdrängung verschwindet dadurch, dass man sie für schädlich erklärt. Aber es ist natürlich eine Verdrängung! Man will gar nicht daran denken, was wäre, wenn demnächst etwa die Amerikaner oder die Israelis iranische Atomanlagen bombardieren und die Iraner diejenigen der Israelis mit Raketen beschießen würden. Und was wäre, wenn die USA demnächst, durch einen Raketenabwehrschild gestützt, die übrige Welt gefahrlos mit ihrer nuklearen Übermacht erpressen könnten? Wer hält die Vorstellung aus, was daraus an neuer Angst, an Rachewut, an zusätzlichem Terrorismus und an gesteigertem Wettrüsten entspringen würde?

Die Frage ist: Wie kann man die Verdrängung bekämpfen? Wie kann man den Mut der Menschen stärken, sich zu wehren? Und wie kann dieses Sich-Wehren aussehen? Der vom Kriegsminister zum Friedensaktivisten mutierte Mc Namara spricht vom „Ausbrechen aus den herkömmlichen Denkschemata“. Indessen, wie kann man diesen Ausbruch erleichtern? Sicher nicht, indem man die Menschen immer nur an die Schrecklichkeit der Gefahr erinnert. Sie brauchen Halt in einer positiven Vorstellung. Ich habe erlebt, wie Gorbatschow 1987 die Menschen auf dem großen Internationalen Friedensforum durch seinen bekundeten Glauben daran aufrüttelte, dass es den Völkern möglich sei, ihre Beziehungen untereinander zu humanisieren – wie er es nannte. Was heißt, dass sie lernen, Vertrauen zueinander aufzubauen und an der Herstellung des Friedens gemeinsam zu arbeiten, anstatt sich zu bemühen, jeweils die andere Seite mit übermächtiger Bedrohung in Schach zu halten.

Es war eine Sternstunde, als ein amerikanischer und ein russischer Arzt aufeinander zugingen und der Welt symbolisch aufzeigten, dass ein Atomkrieg die Völker beider Seiten vernichten würde, weswegen die Ärzte im Namen der potentiellen Opfer die eigene Verantwortung, die sie unter diesen Umständen nicht mehr tragen könnten, an die Politiker zurückgeben müssten. Später kamen dann die beiden Männer Gorbatschow und Reagan bei ihrem denkwürdigen Treffen in Reykjavik zu dem Schluss, dass es doch nicht erst eines Angriffs Außerirdischer auf unseren Planeten bedürfen müsse, um uns zur gemeinsamen Verteidigung zusammenzuschließen.

In dem genannten Kreis hat uns Gorbatschow von diesem Gespräch erzählt, das in Wirklichkeit etwas komplizierter war, als ich es hier wiedergegeben habe. Natürlich mussten auch erst noch Vertrauen schaffende Vorleistungen erbracht werden, um das Eis vollends zu schmelzen. Jedenfalls wiederholte sich im Austausch der beiden Staatsmänner ein ähnlicher symbolisch ausstrahlender Akt wie die Vereinbarung der beiden Ärzte, Lown und Chasow:
Es liegt in der Macht der Menschen selbst, aus eigener Verantwortung und aus eigenem Antrieb die Gefahr einer apokalyptischen Katastrophe zu bannen.

So wie wir Ärzte auf die Selbstheilungskräfte der Natur zur Unterstützung unserer Therapien bauen, so liegen solche Selbstheilungskräfte auch in unserer psychischen Natur bereit, um Wege zur gewaltfreien – Heilung gefährlicher Konflikte und zur Humanisierung unserer Kultur zu finden. Sogar der rationalistische Skeptiker Immanuel Kant glaubte als alter Mann an diese anthropologische Disposition, als er seinerzeit die europaweit ausstrahlende Begeisterung für die Ideen der Französischen Revolution wahrnahm.

Unter uns gibt es manche, die sagen, das sei eine Verschiebung des Politischen ins Moralische. Tatsächlich geht es um die Rehabilitation des Moralischen in der Politik. General Omar Bradley, Chef der Vereinigten Stabschefs der USA, Zeuge der Bombardierungen von Hiroshima und Nagasaki, sagte in einer berühmt gewordenen Rede anlässlich seiner Pensionierung: „Wir leben im Zeitalter der nuklearen Riesen und der ethischen Zwerge, in einer Welt, die Brillanz ohne Weisheit und Macht ohne Gewissen erreicht hat.“

Die ethischen Zwerge haben eine Lösung gefunden, um ihre Angst vor der Zerstörungsmacht der nuklearen Riesen zu verdrängen. Viele glauben sich inzwischen von den westlichen, d. h. von den „guten“ Atombomben gegen die „bösen“ des Feindes geradezu geschützt. So meint der engagierte Bürgermeister Tadatoshi Akiba: „Die Amerikaner huldigen ihren Atombomben wie einem Gott.“ Das heißt, bei der Suche nach Sicherheit wird das Bedrohende in das Beschützende verkehrt. Die Atombomben der eigenen Seite werden wie gute Wächter phantasiert, die durch ihre abschreckende Wirkung das Böse der anderen Seite fernhalten sollen. Das nennen wir in der Psychoanalyse den Mechanismus der Identifikation mit dem Aggressor. Man übernimmt die Bedrohung, vor der man sich fürchtet, in eigene Verfügungsgewalt und glaubt sich dadurch gegen die persönliche Friedensunfähigkeit zu versichern. Solche Phantasie legt offenbar auch zugrunde, wenn die Amerikaner eines ihrer mit Nuklearraketen vollgestopften U-Boote auf den Namen Corpus Christi getauft haben. Aber „Vertrauen in die Atomwaffen ist Preisgabe jeglichen Vertrauens in die Menschheit“, sagt der buddhistische japanische Philosoph Daisaku Ikeda. Deshalb setzen wir in der IPPNW genau an diesem Punkt an. Die Chance, die Verdrängung oder Verleugnung der atomaren Gefahr zu überwinden, liegt zuallererst darin, jenes von Gorbatschow benannte Vertrauen in die eigene Kraft zur Humanisierung der Beziehungen zwischen Völkern und Kulturen zu stärken. Die weltweit ausgedehnte Welle der Solidarisierung nach der Tsunami-Katastrophe hat uns gezeigt, dass dieses Vertrauen in uns selbst und gegenseitig bereit liegt. Gestatten Sie mir, es pathetisch zu sagen:

Gerade die Welt von heute schreit nach dem Mut, an unsere eigene Friedensfähigkeit zu glauben, anstatt uns gefallen zu lassen, dass ein Drohpotential von Nuklearwaffen uns gegen die Katastrophe schützen soll, die wir selber erst möglich gemacht haben.

Wie Sie vielleicht wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, habe ich mich über lange Zeit besonders mit der Frage des Lernens beschäftigt. Wie können Kinder, Jugendliche und auch noch Erwachsene lernen, aus „schädlichen Denkschemata“ auszubrechen, wie es Mc Namara ausgedrückt hat? Wie können Menschen und Völker lernen, sich auf das „Lernziel Solidarität“ auszurichten, wie ich mal eines meiner erfolgreichsten Bücher genannt habe? Die wichtigste Lernhilfe ist und bleibt die Anregung durch ermutigende menschliche Vorbilder. Was für Menschen standen im Zentrum großer erfolgreicher Friedensinitiativen im 20. Jahrhundert? Stets waren es Gestalten, die auf dem Tiefpunkt großer Krisen unbeirrbar daran festgehalten haben, dass sich Völker mit Völkern, Menschen mit Menschen verständigen können müssen.

Da war Gandhi, der gläubige Hindu, den das Prinzip der ahimsa leitete, wonach Widerstand gegen Unterdrückung nicht nur gewaltfrei, sondern ohne zu demütigen und zu erniedrigen zu leisten sei. So hat er das 300 Millionen-Volk der Inder befreit. Martin Luther King, stark von Gandhi inspiriert, verkündete immer wieder: „Nicht siegen wollen wir über die Weissen, sondern siegen für die Versöhnung, für das Gerechte!“
Willy Brandt nannte sein Konzept eine „Politik der Compassion“, also der Empathie. Nelson Mandela beschreibt, wie er in 27 Jahren Kerkerhaft entdeckt habe, dass Unterdrückte und Unterdrücker jeweils von ihrem besonderen Leiden befreit werden müssten: die schwarzen Unterdrücker von ihrem Elend, die weißen Unterdrücker aus dem Gefängnis ihres Hasses und von ihrer menschlichen Entwürdigung durch die ausgeübte Apartheids-Gewalt.

Alle diese Lehrbeispiele sprechen für sich selbst. Aber der Kerngedanke Mandelas ragt noch besonders heraus, weil er sich speziell auf die Atomwaffenpolitik anwenden lässt. Das ist die Idee, dass auch der Unterdrücker insgeheim darunter leidet, dass er sich menschlich erniedrigt und entwürdigt. Demzufolge stellt ja auch die Zuflucht zu Atomwaffen als Herrschaftsmittel eine Selbstentmündigung dar, nämlich als Versklavung unter einer tyrannischen verantwortungslosen Vernichtungstechnologie, wie es General Bradley mit seinem Bild von den nuklearen Riesen und den ethischen Zwergen ausdrückt. Warum sollte es also nicht möglich sein, allmählich die atomare Abrüstung als gemeinsame Selbstbefreiung der Bedrohten von ihrer Angst und der Bedrohenden von ihrer Dehumanisierung in Gang zu setzen?

Der Gedanke klingt phantastisch. Aber auch Mandelas Konzept schien phantastisch und utopisch und hat am Ende dennoch funktioniert, allerdings, weil er und seine befreundeten Häuptlinge fest daran glaubten. Bringen wir es fertig, eine ähnliche Zuversicht zu vermitteln? Kritische Analyse und Protest allein genügen nicht, nicht einmal, um die gängige Verdrängung zu durchbrechen. Die Zuversicht muss hinzukommen.

Quelle: Website der IPPNW: www.ippnw.de


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