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Ist Deutschland ein Rechtsstaat?

Der Jugoslawienkrieg vor deutschen Gerichten - Eine Zwischenbilanz der Strafverfahren gegen Kriegsgegner

Von Hans-Peter Richter*

Wir erinnern uns: Am 21.4.1999 erschien in der taz eine Anzeige, in der die Soldaten der Bundeswehr aufgefordert wurden, sich nicht an dem Jugoslawienkrieg zu beteiligen, die Befehle zu verweigern und sich von der Truppe zu entfernen. Gegen alle 40 Unterzeichner(innen) wurden Strafverfahren wegen der Anstiftung zu einer Straftat eingeleitet. Am 30. 1. 2001 berichtete der Anwalt Kilian Stein von der Internationalen Liga für Menschenrechte im Haus der Demokratie über den Stand der Verfahren. In der ersten Instanz (Amtsgericht) gab es 33 Freisprüche und 7 Verurteilungen. Bei den Fällen die in die zweite Instanz (Landgericht) kamen waren es 13 Freisprüche und 2 Verurteilungen. Bisher wurde keine Revision eingelegt. Es scheint so, dass kein Verfahren in die dritte Instanz (Kammergericht) kommt.

Alle Angeklagten verwiesen auf das Grundgesetz und das Völkerrecht: Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges (Art .26 GG), Charta der Vereinten Nationen. Wir wollen den Lesern an dieser Stelle die ausführliche rechtliche Begründung ersparen. Sie stand schon oft im PAX REPORT. Es sei noch einmal auf die Anklageschrift und das Urteil des Europäischen Tribunals verwiesen. Wichtig ist noch der §16 des Wehrstrafgesetzes, wonach ein Soldat keinen rechtswidrigen Befehl ausführen darf.

Wie bekannt ist, wurden vom Generalbundesanwalt Nehm alle Verfahren gegen die Regierung wegen Bruch des Grundgesetzes und des Völkerrechtes abgewiesen. Die Begründung war, es sei kein Angriffskrieg gewesen, sondern ein Krieg um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Nicht berücksichtigt wurde dabei, dass der Krieg wegen des fehlenden Mandates des UNO-Sicherheitsrates überhaupt verboten war. Stein meinte dazu, das würde bedeuten, dass ein Straßenraub nicht bestraft werden könnte, wenn der Räuber die Beute hinterher der Caritas spendet.

Alle Richter bis auf einen mutigen Richter des Amtsgerichtes Tiergarten drückten sich vor der völkerrechtlichen Beurteilung. In den Fällen, die zu Freisprüchen führten, war es auf Grund der Meinungsfreiheit und nicht weil der Krieg als völkerrechtswidrig angesehen wurde. Die Angeklagten empfanden das als Freispruch zweiter Klasse. Andererseits hat auch kein Gericht den Krieg als völkerrechtskonform bezeichnet, das Amtsgericht Tiergarten hielt ihn gar für völkerrechtswidrig.

Wolf-Dieter Narr vom Komitee für Grundrechte und Demokratie zog als Bilanz aus den Verfahren, dass die Fahnenflucht wohl als das schlimmste Verbrechen angesehen wird. Selbst bei völkerrechtswidrigen Befehlen sei es den Soldaten nicht erlaubt, sich von der Truppe zu entfernen. In den Kommentaren zum § 11 des Wehrstrafgesetzes ist das höchste Rechtsgut die Geschlossenheit der Truppe. Sie sei danach wichtiger als das Völkerrecht. Er beschrieb, wie es zur Gründung der Vereinten Nationen kam. Durch die Kriegsführung ohne UNO-Mandat sei die UNO in ihrem Kern getroffen und ihre Wirksamkeit untergraben.

In der Diskussion wurde auch über die Mauerschützenprozesse gesprochen. Hier wurden den Angeklagten vorgeworfen, dass sie Befehle befolgt hätten, die klar gegen Menschenrecht und Völkerrecht verstoßen.

Kilian Stein wies darauf hin, dass noch nie ein deutsches Gericht ein Regierungsmitglied angeklagt hat. Das tröstet jedoch wenig, wenn man bedenkt, dass wir dann auch von Verbrechern regiert werden können, die für ihre Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Haben wir einen Rechtsstaat, wenn er nur in Teilen funktioniert?

* Hans-Peter Richter ist Redakteur des PAX REPORT, der Zeitung des Deutschen Friedensrats e.V., und Mitglied des Bundesausschusses Friedensratschlag

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