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Streitfrage: Schottern – ein geeignetes Mittel für Atomkraftgegner?

Es debattieren: Niels Seibert und Ines Wallrodt


Anfang dieses Monats demonstrierten Atomkraftgegner gegen den Castor-Transport vom französischen La Hague ins niedersächsische Zwischenlager Gorleben. Der Protest wird von der Bewegung als ein großer Erfolg bewertet: Erst nach 92 Stunden Fahrt erreichte der Atommüllkonvoi sein Ziel. Tausende Aktivisten sorgten mit Schienenblockaden dafür, dass der Transport gestoppt wurde und für Stunden nicht weiterfahren konnte. Die Kampagne »Castor? Schottern!« rief dazu auf, aus dem Gleisbett Steine zu entfernen. Das sogenannte Schottern, an dem sich mehrere tausend Atomkraft-Gegner beteiligten, sollte den Giftmüll-Konvoi aufhalten. Das gelang nicht. Ist das Schottern dennoch eine geeignete Protestform der Anti-AKW-Bewegung?

PRO: Für Aktivisten, die in Bewegung bleiben wollen

Von Niels Seibert *

Der Aufruf klang vielversprechend: zu Tausenden an die Schiene kommen, die Schottersteine aus dem Gleisbett entfernen, damit die Strecke für den Atommülltransport nach Gorleben unpassierbar wird. Ein bewusster, kollektiver Regelverstoß gemäß dem Motto »Atomausstieg bleibt Handarbeit«.

Die Aktion sollte ähnlich wie die Blockaden beim G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 massentauglich sein, aber auch einen Schritt weitergehen: Autonome und Aktivisten aus dem Anti-AKW-Widerstand, der Interventionistischen Linken und anderen sozialen Bewegungen planten, während des diesjährigen Castor-Transports zwischen Lüneburg und Dannenberg aktiv in das Geschehen einzugreifen, die Gleise zu unterhöhlen und etwas zu schaffen, das bleibt, wenn man selbst längst wieder woanders ist: ein großes, breites Loch. Die Kampagne »Castor? Schottern!« bot in diesem Jahr eine Aktionsform jenseits der bewährten Sitzblockaden an – für alle, die sich nicht hinsetzen, sich nicht wegtragen lassen, sondern in Bewegung bleiben wollen, um flexibel und weniger berechenbar zu sein.

Geschottert wird, seit es Castor-Transporte gibt. Die Widerstandsform steht auf dem wendländischen Aktionstableau zwischen Sitz-, Trecker- und Materialblockaden, Events von Greenpeace oder anderen Organisationen, klandestinen Kleingruppenaktionen wie Sabotage an Bahnanlagen oder der Infrastruktur der Repressionsorgane. Die Vielfalt und Kreativität des Anti-AKW-Widerstands ist seine Stärke, woraus die gegenseitige Akzeptanz der Mittel resultiert. Jede Aktion trägt schließlich auch dazu bei, Polizeikräfte zu binden, was wiederum anderen Spielräume öffnet.

Neu am Schottern in diesem Jahr war, dass offen dazu aufgerufen wurde und das Schottern massenhaft geschah. Menschen aus der Kampagne zeigten – trotz Repressionsandrohungen – Gesicht, waren ansprechbar und erreichten damit eine starke Präsenz in Medien und Öffentlichkeit. Interessierte informierten sich auf Webseiten, Flugblättern und auf Veranstaltungen über das Vorhaben. Während der Schotter-Trainings übten sie, wie man effektiv schottern und sich gegen die zu erwartende Polizeigewalt schützen kann.

»Castor? Schottern!« war für viele attraktiv. Weit über 1000 Personen und Gruppen unterzeichneten den Aufruf, bis zu 4000 Menschen haben sich an der Aktion beteiligt. Die Zeit war offensichtlich reif für eine neue, actiongeladene Widerstandsform, die auf gesellschaftliche Breite abzielte und Elemente von Sabotage enthielt – und damit eine Lücke im Aktionsrepertoire zwischen öffentlich angekündigter Massensitzblockade und klandestiner Kleingruppenaktion füllte.

Die Schotterer waren bereit, eine Konfrontation einzugehen und Strafverfahren, aber ebenso Prügel, Pfefferspray und Tränengas in Kauf zu nehmen. Und sie haben sich dagegen geschützt: teils vermummt, um von staatlichen Repressionsbehörden nicht identifiziert zu werden, teils mit Visier vor den Augen, mit Luftmatratzen, Polster und Planen gegen Tränengas und Polizeiknüppel.

Der Kampagne »Castor? Schottern!« ist es gelungen, eine massenmilitante Aktion zu organisieren und durchzuführen. In der Öffentlichkeitsarbeit hat sie jedoch die Chance vertan, sich den Begriff »militant« wieder anzueignen, inhaltlich zu füllen und damit positiv zu besetzen – beispielsweise mit Bezügen auf die Kämpfe für das Frauenwahlrecht vor 100 Jahren oder die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA vor 50 Jahren, die als militant und oft auch gewaltfrei charakterisiert wurden. »Militant« hat nämlich, anders als »ziviler Ungehorsam«, dem eine Abgrenzung gegenüber bestimmten Protestformen innewohnt, das Potenzial, zu einem spektrenübergreifenden, mobilisierenden Schlüsselbegriff zu werden.

Auch wenn die Aktivistinnen und Aktivisten von »Castor? Schottern!« bei ihrem diesjährigen, ersten Versuch, den Atomtransport nicht unmittelbar aufhalten und auch keine ausreichend breite Löcher buddeln konnten, die für den Reparaturzug ein größeres Problem dargestellt hätten, auch wenn sie von der Polizei reichlich mit Pfefferspray eingedeckt wurden, waren sie guter Stimmung. Sie haben etwas Neues gewagt und dabei Momente erlebt, die sie aus ihrem Alltag nicht kennen: Mit vielen hundert Menschen gemeinsam und koordiniert unterwegs zu sein, zusammen zu diskutieren und sich basisdemokratisch über das weitere Vorgehen zu verständigen. Sie haben sich in Bezugsgruppen organisiert, selbstbestimmt gehandelt und konnten sich aufeinander verlassen. Und sie erlebten, dass man vor der Polizei nicht wegrennen muss, dass es mit den nötigen Vorkehrungen sogar möglich ist, einzelnen prügelnden Polizisten standzuhalten. Das alles war für viele nachhaltig beeindruckend. Diese neuen Erfahrungen kann ihnen keiner mehr nehmen.

* Niels Seibert, Jahrgang 1972, beteiligt sich seit 2001 an den Protesten gegen den Castor-Transport im Wendland. Der ND-Redakteur betreut die ExperimeND-Seiten in der Wochenendbeilage dieser Zeitung.

Kontra: Die Macht des Sitzens

Von Ines Wallrodt **

Trotz Kriminalisierung haben sich viele Atomkraftgegner den Schotterern angeschlossen. Das zeigt, wie groß die Bereitschaft zu zivilem Ungehorsam mittlerweile ist. Die meisten schafften es allerdings nur wenige Minuten auf die Schienen, effektiv aufgehalten wurde der Castor dadurch nicht. Und keine andere Wendlandaktion war annähernd so schmerzhaft – 1000 Menschen wurden in der Göhrde verletzt.

Der relative Misserfolg spricht noch nicht gegen das Schottern-Konzept. Politik und Polizei wollten die Aktion zum Scheitern bringen, und das haben sie mit Knüppeln und Pfefferspray geschafft. Doch auch Schienenblockaden galten einmal als höchst kriminell. Aktionsformen können etabliert werden – das braucht seine Zeit. Die entscheidende Frage aber bleibt: Lohnt sich die Anstrengung überhaupt? Ich finde nicht.

Denn was den Castor-Protest stark macht, ist alles schon da.

Die Schotterer haben das nur erfolgreich kleingeredet. Indem sie Sitzblockaden die Etiketten »traditionell« und »bürgerlich« angehängt haben und der eigenen Aktion die Labels »radikal« und »aktionsorientiert«. »Wir gehen einen Schritt weiter!« – diese Geschichte hat gut funktioniert: Wer will schon zur Schnarchfraktion gehören?

Aber, was ist an Steinen wegräumen eigentlich radikaler als an Sitzblockaden? Das eine sei aktiv, das andere passiv, heißt es. Die Gegenüberstellung führt in die Irre. Denn warum ist einer weniger radikal, der seinen eigenen Körper als Hindernis einsetzt? Wer gesehen hat, wie Menschen eine Böschung hinunterspringen und sich zwischen Pferdehufen auf die Bahnschienen setzen, vermisst keine Radikalität. Wer gesehen hat, wie Hunderte bei Eiseskälte zwei Tage und zwei Nächte auf der Straße ausharren, vermisst keine Entschlossenheit. Und wer gesehen hat, wie sich Blockadereihen zu bunten Camps mit Vokü, Open-Air-Konzerten und Lagerfeuern gewandelt haben, vermisst keine Action.

Bei den Castor-Protesten geht es um das Signal, dass massenhaft Menschen in Opposition zur Atompolitik der Regierung stehen und entschlossen sind, Regeln zu brechen. Die Regelverletzungen dienen auch dazu, den Transport des strahlenden Mülls so aufwendig wie möglich zu machen. Und die Aktion muss geeignet sein, jeden prügelnden Polizisten eindeutig ins Unrecht zu setzen. Das Schottern transportiert diese Botschaft nur bedingt, selbst wenn es gelingt. Dann mag der Castor zwar aufgehalten werden, aber das Bild dafür sind nackte Schienenstränge, nicht protestierende Menschen, weil die dann längst wieder im Wald verschwunden sind.

Dieser Einwand gilt nicht nur fürs Schottern. Würden im Wendland nur Kleingruppen von Robin Wood und Greenpeace Aktionen machen, so spektakulär sie auch sein mögen, würde das politisch noch kein Erfolg sein.

Ein Rückschritt ist es zudem, dass sich die Schotterer nicht mehr auf das Durchfließen der Polizeiketten verlassen: So verständlich Matratzen, Mund- und Augenschutz auch sind – sie produzieren ein ungünstigeres Bild. Es zeigt, dass man die Konfrontation mit der Polizei einkalkuliert hat. Brutale Polizeieinsätze empören aber dann besonders, wenn sie wie aus heiterem Himmel, willkürlich über friedliche Demonstranten hereinbrechen. Und diese Empörung ist mittelfristig der wirksamste Schutz gegen Prügelexzesse.

Die explizit gewaltfreien Sitzblockaden haben diese Nachteile nicht. Hierbei stehen Menschen mit unverdeckten Gesichtern und Körpern für ihre Überzeugung ein. Und zwar Stunde um Stunde, ohne freiwillig zu weichen. Die Aktionen sind zudem seit Jahrzehnten erprobt und können nicht einfach so zusammengeknüppelt werden. Es ist zumindest schwerer zu legitimieren. So kritisch ist die Öffentlichkeit mittlerweile, zumal beim Thema Atomkraft.

Angesichts der hochriskanten Atompolitik der Regierung ist Sachbeschädigung moralisch gerechtfertigt. Ob es politisch klug ist, ist damit aber noch nicht gesagt. Aktionistische und wirksame Protestformen gibt es längst. Dass sie risikoärmer, weil bereits erkämpft, sind, ist ein Plus- kein Langweilpunkt. Deshalb ist es unnötig, sich für das Schottern noch einmal aufs Maul hauen zu lassen. Wie eine Radikalisierung des Protests auch aussehen kann, haben die Blockaden gezeigt: Zwei-, drei-, viermal so viele Menschen wie jemals zuvor beteiligten sich daran. Das hatte eine neue Qualität.

Vielleicht spielt bei dem Hype ums Schottern auch ein Bedürfnis der radikalen Linken nach Avantgardismus mit hinein. Dass andere längst genauso radikal sind, passt nicht so gut zu einem Selbstverständnis, das vom Gedanken lebt, Proteste zu radikalisieren und Konflikte zuzuspitzen. Wohl auch deshalb fängt in ihren Texten die Geschichte des zivilen Ungehorsams bei Heiligendamm an. Dabei stammt die bei den G8-Protesten so erfolgreiche Fünf-Finger-Taktik genau von den langweiligen Straßenblockierern aus dem Wendland. Untergründig schwingt der Unwille mit, sich mit vermeintlich weniger radikalen Leuten gemein zu machen. Dabei ist genau das die größte Erfahrung, die Linke im Wendland machen können: Nicht mit »seinesgleichen« unterwegs zu sein, sondern neben der Flughafenangestellten und ihrer Tochter, der Rentnerin, dem Biobauern oder Segelbootverleiher auf den Gleisen zu sitzen. Das ist aufregend. Weil es zeigt, zu welcher Radikalität »diese Bürgerlichen« grundsätzlich bereit sind. Weil es zeigt, wie gesellschaftliche Veränderung funktionieren kann.

** Ines Wallrodt, 33, war rund um den Castor-Transport acht Tage lang im Wendland und berichtete für ND über die Proteste. Die Inlandsredakteurin betreut die wöchentliche Seite Außerparlamentarisches.

Beide Beiträge erschienen im Neuen Deutschland, 27. November 2010 ("Streitfrage")


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