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Kein wirklicher Regierungswechsel in der Innenpolitik

Erklärung der VVN-BdA zur Halbzeit der Bundesregierung

Anläßlich der Halbzeit der rot-grünen Bundesregierung hat die VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der AntifaschistInnen) eine kritische Bilanz zur Regierungspolitik gezogen. Dabei werden erhebliche Versäumnisse bemängelt und der Regierung der fehlende politische Wille zu einer anderen Politik attestiert. Das Fazit der VVN lautet: "Der Politikwechsel hat nicht stattgefunden."

Die VVN erinnert die rot-grüne Bundesregierung an die Versprechungen vor zwei Jahren, wo die "politische Auseinandersetzung mit und die Bekämpfung von Rechtsextremismus" zu einem Schwerpunkt der Regierungsarbeit im Bereich der Innenpolitik gemacht werden sollte. Doch in den vergangenen zwei Jahren ist bisher so gut wie nichts geschehen: Statt konsequent gegen Nazi-Gewaltverbrechen vorzugehen werden diese ignoriert und verharmlost. Der Verfassungsschutz und die Innenbehörden bekämpfen weiter Antifa-gruppen statt rechte Gewalt. Vor allem die verhägnisvolle Gleichsetzung von linken Demokraten und Nazigegnern mit Neonazis und rassistischen Gewalttätern, so die Kritik der VVN, schwächt die Abwehr rechter Kräfte und begünstigt den Neonazismus.

Zu einem wirklichen Politikwechsel fehlt der politische Wille. Dazu gehört eine an den Grund- und Menschenrechten orientierte Einwanderungs- und Asylpolitik, der respektvolle Umgang mit den Opfern des Faschismus, die Festschreibung, dass Faschismus keine Meinung ist, sondern ein Verbrechen, und dass alle faschistischen Organisationen verboten und aufzulösen sind.

Gemeinsam mit der DIDF (Föderation der demokratischen Arbeitervereine) wird sich die VVN an den Halb-Zeit - Aktivitäten am 23. September 2000 in Berlin beteiligen. Um 1300 Uhr werden beide Organisationen vor dem Bundesinnenministerium (Alt-Moabit 101) für ihre Ziele demonstrieren und einen Politikwechsel einfordern.


Wir klagen an: der Politikwechsel hat nicht stattgefunden

Nach zwei Jahren rot-grüner Regierungspolitik ziehen wir - im Bereich der Innenpolitik - eine kritische Bilanz dieser Halbzeit. Dabei müssen wir nicht nur erhebliche Versäumnisse feststellen, sondern auch, daß der politische Wille zu einer anderen Politik fehlt!

Vor zwei Jahren versprach die rot-grüne Regierungskoalition, die "politische Auseinandersetzung mit und die Bekämpfung von Rechtsextremismus" zu einem "Schwerpunkt" ihrer Regierungspraxis zu machen. Zwei Jahre lang ist das nicht geschehen. Statt dessen widmen sich Verfassungsschutz und Innenbehörden weiter der Bekämpfung von Antifa-Gruppen statt rechter Gewalt.

Zwei Jahre lang wurden Nazi-Gewaltverbrechen ignoriert und verharmlost. Das Innenministerium rechnete nicht nur über hundert Todesopfer rechter Gewalt auf 26 herunter, sondern verschwieg auch weitere rechte Gewalttaten. Das im Grundgesetz (Artikel 139 und andere) verankerte Faschismus-Verbot wurde bislang nicht angewandt. Statt dessen erklärten Regierungssprecher das Faschismusverbot für "obsolet". Das Grundgesetz enthalte keinen antifaschistischen, sondern einen "antitotalitären" Auftrag behauptet der "Verfassungsschutz" auch in rot-grüner Verantwortung.

Die verhängnisvolle Gleichsetzung von linken Demokraten und Nazigegnern mit Neonazis und rassistischen Gewalttätern schwächte die Abwehr rechter Kräfte und begünstigte den Neonazismus.

Ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht, das hier geborene Kinder nicht länger als vielfach diskriminierte "Ausländer" aufwachsen läßt, wollte die rot-grüne Regierung in Angriff nehmen. Die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft sollte der eingewanderten Bevölkerung endlich die Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe eröffnen.

Statt der offen rassistischen Hetze der CDU gegen den Gesetzentwurf entgegenzutreten, suchte die Regierung eine Lösung im "Konsens". Statt das 1992 als "Gegenleistung" der Kohl-Regierung für die Zustimmung zur Abschaffung des Art. 16 Grundgesetz (Politisch Verfolgte genießen Asyl.) versprochene Einwanderungsgesetz endlich zu vorzulegen, möchte Innenminister Schily nun selbst weiter Hand an den verbliebenen Rest des Asylrechts legen und spricht von Einwanderern, die uns nützen und Flüchtlingen, die die Sozialkassen belasten.

Eine rigide Ausländer- und Asylpolitik, unmenschliche Abschiebepraktiken und dem entsprechendes Verhalten fördern Ausländerfeindlichkeit und rechte Gewalt.

Der institutionelle Rassismus muss endlich beendet werden! Regierungspolitiker dürfen nicht länger mit populistischen Parolen und Sprüchen zu Stichwortgebern für rechte Gewalt werden.

1998 wurde "die Rehabilitierung und die Verbesserung der Entschädigung für Opfer nationalsozialistischen Unrechts" versprochen. Auch hier müssen wir erhebliche Versäumnisse feststellen: Die kommunistischen WiderstandskämpferInnen und NS-Opfer, die nach dem KPD-Verbot in den fünfziger Jahren benachteiligt und von Entschädigungen ausgeschlossen wurden, warten noch immer auf ihre Rehabilitierung. Statt dessen hat die Bundesregierung sie sogar ausdrücklich abgelehnt.

1998 wurde versprochen, für die "vergessenen" NS-Opfer eine Bundesstiftung "Entschädigung für NS-Unrecht" zu schaffen. Wir warten noch immer auf die Einlösung auch dieses Versprechens. Nach zwei Jahren schändlicher Verzögerungstaktiken sollen nun die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen 55 Jahre zu spät mit Minimalbeträgen abgefunden werden.

Statt sich der Interessen der Opfer anzunehmen, erklärte der Bundeskanzler den "Schutz der deutschen Wirtschaft vor unberechtigten Forderungen" zur Regierungsaufgabe.

Wenn heute erklärt wird, Versäumtes endlich nachholen und Fehlentwicklungen korrigieren zu wollen, dann wird das von uns durchaus begrüßt. Es macht Vergangenes jedoch nicht ungeschehen. Und: Worte und Absichtserklärungen allein genügen uns nach zwei Jahren in Regierungsverantwortung nicht mehr!

Die Bekämpfung von Neofaschismus und Rassismus muss konkrete Gestalt annehmen, sie muss in allen Bereichen der Gesellschaft und des Staates sichtbar werden, sie muss tatsächlich zu einem Schwerpunkt der politischen Praxis werden und darf nicht nur ein "Sommerloch" füllen.

Dazu gehört eine an den Grund- und Menschenrechten orientierte Einwanderungs- und Asylpolitk. Dazu gehört ein respektvoller Umgang mit den Opfern des Faschismus, die sich nicht nur in Rehabilitierung und Entschädigung der noch Lebenden, sondern angesichts der 55 Millionen Toten im Verzicht auf jede "totalitaristische" Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen ausdrücken muß. Und: dazu gehört die Festschreibung, daß Faschismus keine Meinung ist, sondern ein Verbrechen, und dass alle faschistische Organisationen verboten sind und aufgelöst werden.

Dafür stehen wir hier, dafür demonstrieren wir, dafür arbeiten wir.

Hannover, im September 2000


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