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Der 11. September und die Folgen: Friedenspolitik im Schatten des Terrorismus

Einführungsbeitrag zum 8. Friedenspolitischen Ratschlag. Von Peter Strutynski

Nach den Anschläge von New York und Washington, so sagt man uns, sei nichts mehr wie vorher. Die Regierenden hüben wie drüben des Atlantiks ziehen daraus vor allem die eine Lehre: Nun müsse auch wieder Krieg sein, Krieg gegen den weltweiten Terrorismus.

Es gab andere Stimmen. Viele Friedenswissenschaftler meldeten sich zu Wort und wiesen nach, dass nicht der Terrorismus neu sei; neu seien vielmehr die Wucht, mit der die Attentäter am 11. September zugeschlagen haben, und die ungeheure Zahl an unschuldigen Opfern des Verbrechens. Kritische Sozialwissenschaftler, Journalisten und Publizisten wagten es selbst in den USA darauf hinzuweisen, dass das Menetekel von New York und Washington auch als eine Mahnung an die Adresse der ersten Welt und der überragenden Supermacht USA verstanden werden solle, endlich abzulassen von ihrer grenzenlosen Arroganz und Selbstgerechtigkeit. In einem vielbeachteten Artikel, der seinen Weg durch unzählige Zeitungen in aller Welt gefunden hat, drückte das die US-amerikanische Kolumnistin Susan Sontag so aus: "Lasst uns gemeinsam trauern. Aber lasst nicht zu, dass wir uns gemeinsam der Dummheit ergeben. Ein Körnchen historischen Bewusstseins könnte uns dabei helfen, das Geschehene und das Kommende zu verstehen."

Die Verantwortung der "Ersten Welt"

Wenigstens "ein Körnchen historischen Bewusstseins" war gefordert. Was hätte das bedeuten können?
  • Nun, vielleicht einen Hinweis auf das Gebaren der früheren Kolonialmächte, die Jahrhunderte lang in ihren ehemaligen Kolonien und Protektoraten Menschen wie Sklaven behandelt haben, deren Bodenschätze geraubt, deren Wälder abgeholzt und deren Artenreichtum dezimiert haben.
  • Einen Hinweis vielleicht auch auf die Jahrzehnte lange Behandlung von ganzen Staaten und Weltregionen als Hinterhöfe, in denen man schalten und walten konnte, wie es den Herrschenden beliebte, in denen Regierungen ein- und abgesetzt wurden, Bürgerkriege angezettelt oder militärisch niedergeworfen wurden, Gewerkschaften verboten und zerschlagen wurden - je nachdem, ob es für die Führungsmacht der "freien Welt" opportun war oder nicht.
  • Es hätte natürlich auch eines Hinweises bedurft auf die schäbige Behandlung der Länder der Dritten Welt, die nach den Jahrhunderten ihrer Ausplünderung nun auch noch ihren Tribut an ihre ehemaligen Beherrscher bezahlen müssen in Form von Strukturanpassungsprogrammen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, in Form von Marktöffnung und Handelsliberalisierung, in Form von Entstaatlichungs- und Privatisierungsprogrammen.
  • Und schließlich hätte darauf hingewiesen werden können, dass die führenden Industriestaaten dieser Welt sowohl absolut als auch pro Kopf ein Vielfaches an Ressourcen und Umweltgütern verbrauchen als die armen Länder und ihre so zahlreiche Bevölkerung. Der Ruin unserer Erde und ihrer Atmosphäre geht zuallererst auf das Konto der reichen Welt!
Eine Woche vor den schändlichen Anschlägen in New York und Washington tagte im südafrikanischen Durban die UN-Weltkonferenz gegen Rassismus. Die Verurteilung all dessen, was dem finsteren Kapitel des Kolonialismus bis zum heutigen Tag anzulasten ist, fiel eindeutig aus. Im Abschlussdokument, das von fast 160 Staaten der Erde angenommen wurde - die USA hatten die Konferenz vorzeitig verlassen -, heißt es u.a.: "Wir bedauern, dass Sklaverei und Sklavenhandel ... entsetzliche Tragödien der Menschheitsgeschichte waren; nicht nur wegen ihrer abscheulichen Barbarei, sondern auch angesichts ihres Ausmaßes, der Art ihrer Organisation und vor allem der Negierung des Wesens der Opfer.
Wir erkennen ferner an, dass Sklaverei und Sklavenhandel ein Verbrechen gegen die Menschheit sind ... und zu den wichtigsten Ursachen und Ausdrücken von Rassismus, rassischer Diskriminierung, Ausländerfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz gehören;... ...
Wir erkennen das durch den Kolonialismus verursachte Leid an und bestätigen, dass er - wo und wann immer er auftrat - verurteilt und seine Wiederholung verhindert werden muss. Wir bedauern ferner, dass die Effekte und die Hartnäckigkeit dieser Strukturen und Praktiken zu den Faktoren zählen, die heute zu andauernden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichten in vielen Teilen der Welt beitragen.
Die Weltkonferenz gibt zu und bedauert zutiefst das Millionen Männern, Frauen und Kindern durch Sklaverei, Sklavenhandel und transatlantischen Sklavenhandel, Apartheid, Völkermord und vergangene Tragödien zugefügte und unbeachtete Leid und Übel."


Alle haben sie dem zugestimmt - doch mit welcher Vehemenz haben führende Industriestaaten verhindert, dass Formulierungen aufgenommen wurden, aus denen auch nur der Hauch eines Rechtsanspruchs auf Entschädigung für die Opfer und deren Nachkommen hätte abgeleitet werden können! Zu einer Entschuldigung hat man sich durchgerungen - nur kosten darf sie nichts.

Kriegsvorbereitungen

Doch das gehört zum politischen und diplomatischen Alltag in den Beziehungen zwischen der ersten und dritten Welt. Und der politische Alltag ist - schneller als uns lieb sein konnte - auch wieder eingekehrt nach den monströsen Anschlägen vom 11. September. Während sich die politische Klasse hier zu Lande daran machte, lang gehegte Wünsche und seit dem deutschen Herbst liegen gebliebene Pläne zur Verschärfung des Ausländerrechts, der Ausweis- und Passgesetze, des Vereinsgesetzes oder des Verfassungsschutzgesetzes zu verwirklichen, bereiteten die USA konzentriert und planmäßig - und insoweit "besonnen" - ihren Feldzug gegen den Terrorismus vor, der sich zuallererst gegen Afghanistan richten sollte. Alle Aufrufe aus Kreisen kritischer Wissenschaftler, Publizisten, Schriftsteller und des alternativen politischen Spektrums hatten ebenfalls "Besonnenheit" eingefordert, weil man - nicht ganz ohne Grund - den USA und ihrem von Gerichts wegen eingesetzten Präsidenten allerhand unbesonnene Vergeltungsaktionen zutraute.

George Bush jr. reagierte nicht nach "Cowboymanier". Er ließ sich Zeit, um den vermeintlichen Herd und Zufluchtsort des weltweiten Terrorismus ŕ la Al Quaida politisch zu isolieren und militärisch einzukreisen. Für seine Leistung, zahlreiche arabische und islamische Staaten oder besser: Regierungen in die "Allianz gegen den Terror" einzubeziehen, erhielt er überschwänglichen Beifall von der "zivilisierten" Welt. Den größten Truppenaufmarsch seit dem Golfkrieg, wenn nicht sogar seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der die diplomatische Offensive begleitete, quittierte man wohlwollend mit dem beruhigenden Hinweis auf eine nur "ergänzende" militärische Druckkomponente.

Mit dem 7. Oktober haben sich Schauplatz, Rhetorik und Wahrnehmungen des "Krieges gegen den Terror" erheblich verändert. Afghanistan war nun nicht mehr nur Rückzugsort für die vermuteten Hintermänner und Drahtzieher der Massenmorde, sondern es wurde in Gestalt des Taliban-Regimes selbst zum Adressaten militärischer Einsätze. Offenbar waren die Strategen des Pentagon zu der Einsicht gelangt, dass sich Terrornester mit militärischen Mitteln eben nicht so leicht auffinden und ausräuchern lassen, sodass es aussichtsreicher erschien, das Regime insgesamt auszuschalten.

Wenn nicht sogar der Krieg gegen Afghanistan weit vor dem 11. September geplant worden war. Wer die Entwicklung der Beziehungen zwischen Afghanistans jeweiligen Herrschern, den Mudschaheddin und den Taliban verfolgt hat, wird sich daran erinnern, dass die Feindschaft umso größer wurde, als die Aussichten auf einen Pipeline-Deal zwischen dem in den USA ansässigen Erdölkonzern Unocal und den Taliban immer geringer wurden. Die Einkreisung Afghanistans begann spätestens mit den Terroranschlägen im August 1998. Am 26. Juni 2001 brachte die Zeitschrift "IndiaReacts" Einzelheiten über das gemeinsame Vorgehen der USA, Indiens, Russlands und des Iran gegen das Talibanregime. "Indien und Iran werden den USA und Russland bei einem ,beschränkten Militärschlag' gegen die Taliban ,beistehen', wenn die angestrebten harten neuen Wirtschaftssanktionen das fundamentalistische Regime in Afghanistan nicht in die Knie zwingen", schrieb die Zeitung. In diesem Stadium der militärischen Planungen war vorgesehen, dass die USA und Russland der Nordallianz über Usbekistan und Tadschikistan direkte militärische Unterstützung leisten würden, um die Talibanfront in Richtung der Stadt Masar-i-Scharif zurückzudrängen. Genau nach diesem Plan wurde im Oktober und November verfahren.

Vor zwei Wochen erschien in Frankreich ein Buch mit dem Titel "Bin Laden, die verbotene Wahrheit". Verfasst wurde es von Jean-Charles Brisard und Guillaume Dasquie. Brisard ist ein ehemaliger französischer Geheimagent und ehemaliger Leiter der Strategieabteilung des französischen Konzerns Vivendi. Guillaume Dasquie ist das, was man bei uns einen "Enthüllungsjournalisten" nennt. Deren Hauptaussage geht dahin, dass in der ersten Jahreshälfte 2001 die Bush-Administration nochmals mit den Taliban in Verhandlungen eingetreten war, um die Pipeline-Rechte doch noch zu bekommen. Als ein letzter Versuch am 2. August fehlschlug, war der Krieg im Pentagon beschlossene Sache.

Häufig sind es ja solche "dirty secrets", die, wenn sie erst zutage gefördert werden, historische Ereignisse in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Es hätte wohl des fürchterlichen Verbrechens vom 11. September nicht bedurft, um den Krieg in Afghanistan führen zu können. Aber die Anschläge haben es den USA sehr erleichtert den Krieg dann tatsächlich auch zu beginnen.

Krieg, Medien und das Misstrauen der Menschen

Mit atemberaubender Geschwindigkeit verwandelte sich das von vielen Menschen tief empfundene Mitgefühl mit den Opfern des Terrors in eine "uneingeschränkte Solidarität" mit der Regierungspolitik der Vereinigten Staaten. Und aus der anfänglichen Betroffenheitsrhetorik wurde sehr schnell die Totschlagsrhetorik Bush`s, "either you are with us, or you are with the terrorists". Und ebenso schnell wurde dieses manichäische Schwarz-Weiß-Strickmuster in die "Sprache" des Krieges übersetzt. Erst fällt die Differenzierung zwischen den Terroristen und den Taliban unter den Tisch und in einem zweiten Schritt wird dann auch nicht mehr unterschieden zwischen militärischen und zivilen Zielen. Innerhalb weniger Tage entwickelte sich der Luftkrieg um Afghanistan zu einer recht einseitigen Angelegenheit, einem "asymmetrischen Krieg", wie wir ihn auch schon aus dem anglo-amerikanischen Viertage-Luftkrieg gegen den Irak vom Dezember 1998 oder aus dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 kennen gelernt haben: dem Gegner möglichst große Verluste und Schäden zuzufügen, selbst aber keine Opfer bringen zu müssen.

Auch wenn die Kriegführenden den Menschen mit Mitteln der Zensur und des Nachrichten- und Bilder-Monopols vorzuschreiben versuchen, wie sie den Krieg wahrzunehmen haben, entsteht bei vielen doch zumindest der Verdacht, über die wahren Ausmaße der Kriegsschäden, über Positionsverluste bzw. -gewinne sowie über das wirkliche Leid der Zivilbevölkerung im betroffenen Kriegsgebiet nicht wahrheitsgemäß oder nicht ausreichend informiert zu werden. Unter Bedingungen eines relativ freien Zugangs zu allen möglichen Informationsmedien, dessen wir uns in demokratisch verfassten Gesellschaften normalerweise erfreuen dürfen, schlägt dieser Verdacht in Misstrauen gegenüber den amtlichen Verlautbarungen um. Fehlende Bilder vom Krieg, wie jetzt in Afghanistan, vertiefen dieses Misstrauen und nähren sogar Vermutungen über Grausamkeiten, wo vielleicht ausnahmsweise gar keine vorgekommen sind.

A propos Pressefreiheit: Wie der Springer-Verlag, von dem man ja einiges gewohnt ist, mittlerweile damit umgeht, konnte man am 19. November in der österreichischen Zeitung "Der Standard" lesen. Freimut Duve, der OSZE-Beauftragte für die Medienfreiheit, berichtete in einem Interview davon, dass seit dem 11. September die Mitarbeiter von "Bild" und "Welt" keine Kritik mehr an den Militärschlägen der USA üben dürfen. Denn in ihre Arbeitsverträge wurde die Verpflichtung zur "Solidarität mit den USA" aufgenommen. Gut, wird man sagen, dass ist die Bildzeitung. Aber die Unterdrückung von Kritik und Meinungsfreiheit geht schon längst darüber hinaus und frisst sich, wenn wir nicht aufpassen, in viele gesellschaftliche Bereiche hinein. Den meisten von euch ist der Fall unseres Kollegen Bernhard Nolz aus Siegen bekannt, der auf Druck der örtlichen CDU vom Schuldienst suspendiert wurde, weil er in seiner Trauerrede auf die Opfer vom 11. September gewagt hatte, die weltpolitische Rolle der USA zu kritisieren. Der Bundesausschuss Friedensratschlag hat den zuständigen Regierungspräsidenten aufgefordert, die Suspendierung sofort aufzuheben.

Doch Zensur, Manipulation und die Gängelung der Medien tragen kaum dazu bei, die Staatsbürger bei der Stange zu halten. Die "uneingeschränkte Solidarität" mit den USA hat nicht verhindern können, dass mit zunehmender Dauer des Afghanistan-Krieges, der ein stinknormaler Vernichtungskrieg mit überwiegend zivilen Opfern geworden war, die Öffentlichkeit Fragen zu stellen begann, die den Einwänden der Friedensbewegung sehr nahe kommen. Etwa die Frage nach dem besten Mittel im Kampf gegen den Terrorismus, die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel, die Frage nach der Legitimität eines Krieges, der zivile Opfer als "Kollateralschäden" selbstverständlich mit einkalkuliert oder die Frage nach den politischen Folgen des zu einem Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei hochstilisierten Feldzugs gegen einen islamischen Staat - dem, einer Ankündigung Bush`s zufolge, weitere Staaten folgen können.

Nicht ohne Wirkung blieben die Nachrichten von berufener dritter Seite über das Geschehen in und um Afghanistan. Nahezu alle in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen - von UNICEF und UNHCR bis zum Roten Kreuz, "Ärzte ohne Grenzen" und terre des hommes - haben sich bald nach Kriegsbeginn zu Wort gemeldet und sich über die schwindenden Arbeitsmöglichkeiten beklagt. Bereits unter der Androhung des Krieges hatten sich Hunderttausende Menschen auf den Weg ins benachbarte Pakistan gemacht. Nach Beginn der Bombardierungen wuchs die Zahl der Binnenflüchtlinge stark an. Große Teile der Bevölkerung leiden an Hunger und fehlender Wasser- und Energieversorgung. Dringend notwendige Hilfe kam nicht mehr ins Land, weil die Transporte zu riskant geworden sind. Die von der US-Army als Zeichen des Good Will abgeworfenen Lebensmittelpakete waren nicht einmal ein winziger Tropfen auf den heißen Stein. Es war vielmehr eine zynische und gefährliche PR-Kampagne. Die große indische Schriftstellerin Arundhati Roy, derentwegen der moderate Tagesthemen-Chef Ulrich Wickert beinahe zu Fall gekommen wäre, kommentiert dies folgendermaßen: "Das Niveau der kulturellen Dummheit, das fehlende Verständnis dafür, was monatelanger, erbarmungsloser Hunger und bittere Armut wirklich bedeuten, der Versuch der US-Regierung, noch durch das äußerste Elend das eigene Selbstverständnis aufzubessern, lässt sich nicht in Worte fassen." - Und ich frage mich, ob dieses makabre Spiel von Bomben und Brot sich nicht bis in die Psychologie der Politiker eingegraben hat, die am 16. November im Bundestag in persönlichen Erklärungen begründet haben, weshalb sie für die Kriegsteilnahme gestimmt haben, obwohl sie gegen den Krieg sind. Besonders skurril war in dem Zusammenhang das Stimmensplitting des grünen Doppelvierers. Man stelle sich nur einmal die Lachnummer vor, wenn bei einem Ruderwettbewerb auf dem Deutschlandachter vier Jungs nach vorne und vier Jungs nach hinten rudern würden!

Nach wie vor droht in Afghanistan beim anbrechenden Winter eine der größten Hungerkatastrophen der letzten Jahrzehnte. Auch in den Landesteilen, in denen nun nicht mehr bombardiert wird, weil die Warlords der Nordallianz das Zepter übernommen haben, kommen Hilfslieferungen nicht zu den Menschen. Nach Berichten aus Kabul geriet die Nothilfe für bis zu sieben Millionen Menschen ins Stocken. Der Einsatzleiter der Uno, Mike Sackett, berichtete z.B. vor wenigen Tagen, bewaffnete Banden belagerten die Straße von Peschawar in Nordpakistan in die afghanische Hauptstadt Kabul, so dass die Fahrten statt zwei Tagen dreieinhalb Tage dauerten. Die Hilfsorganisationen stünden vor der schwierigen Aufgabe, monatlich 52.000 Tonnen Nahrungsmittel zu verteilen, die nach Schätzungen des Welternährungsprogramms gebraucht würden. Im Land herrscht totale Anarchie. Nicht erst seit heute, gewiss: Aber ist das nicht auch eine Folge des Krieges?

In dieser Situation erweist sich übrigens die US-Nachrichtensperre und -filterung über die Kriegführung als besonders imageschädigend. Dem Tagesschau-Betrachter wurden wesentlich mehr konkrete Bilder und Berichte angeboten über die humanitäre Katastrophe in Afghanistan als über die vermeldeten militärischen Erfolge der US-Streitkräfte und der mit ihnen verbündeten Nordallianz. Der Mitleidseffekt, der im Jugoslawienkrieg voll zulasten des Belgrader Regimes ging, wendete sich jetzt zunehmend gegen die Krieg führenden USA als einzig erkennbaren direkten Verursacher der humanitären Katastrophe.

Zwei Begriffe beherrschen die Diskussion: "Gewaltspirale" und "Nährboden"

Der noch vorhandenen Diskussionskultur in unserer Gesellschaft ist es zu verdanken, dass auch Fragen gestellt wurden - Fragen ganz grundsätzlicher Art. Insbesondere zwei Argumentationsfiguren beherrschten die öffentlichen Diskussionen, die eine stammte mehr aus dem Arsenal der Friedensbewegung und Friedenswissenschaft, die andere aus dem Arsenal der Globalisierungskritik.

Da war also einmal die Behauptung, jede Art militärischen Vorgehens müsse als Vergeltung oder Rache aufgefasst werden und trage nur zur weiteren Eskalation der Gewalt bei (es gab das einprägsame Bild der "Gewaltspirale"). Anschauungsunterricht könne man seit Jahr und Tag vom (Bürgerkriegs-)Schauplatz Naher Osten beziehen. Gerade die Ereignisse der letzten zehn Tage führen uns in aller Dramatik vor Augen, welch verhängnisvollen Verlauf die Auseinandersetzungen auf diesem Pulverfass nehmen. Vor einer Woche sind fünf Schulkinder im Alter von 6 bis 14 Jahren Opfer der grausamen Kriegslogik des israelischen Militärsystems geworden, als sie von einer absichtlich gelegten Bombenfalle auf dem Weg zur Schule zerfetzt wurden. Die Taktik der Bombenfalle hat das israelische Militär schon früher im Libanon erprobt. Sie gehört in die gleiche Kategorie wie die von Ministerpräsident Scharon angeordnete gezielte Liquidierung von Intifada-Aktivisten: Es handelt sich um staatlich angeordneten Mord, um Selbstjustiz und Rache. Einen Unterschied zum Terrorismus der Hamas oder Dschihad-Gruppierungen, auf deren Konto ebenfalls zahlreiche beklagenswerte zivile Opfer unter der israelischen Bevölkerung gehen, vermag ich nicht zu erkennen. Nichts ist dem israelischen und dem palästinensischen Volk so sehr zu wünschen wie ein Durchbrechen dieser tödlichen Gewaltspirale. Heute sind zwei Frauen zu unserem Ratschlag gekommen, die - jeweils auf der Seite ihrer Gesellschaft - versuchen, einen gemeinsamen Weg zum Frieden in ihren Ländern zu finden. Sumaya Farhat-Naser von der Bir Zeit-Universität in Ramallah und Dafna Hirsch von der Universität Tel Aviv werden heute Abend auf dem Nahost-Forum miteinander diskutieren. Ich freue mich sehr, dass ihr hier seid.

Neben dem Bild von der "Gewaltspirale" setzte sich erstaunlich schnell die Formel vom "Nährboden" des Terrorismus durch, den es trocken zu legen gilt, wenn man dauerhafte Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus erzielen will. Die Wirkung dieses Arguments war so durchschlagend, dass man ihm fast schon den Rang eines geistigen Allgemeingutes einräumen darf. Immerhin wurden nicht zuletzt deshalb auch dem Entwicklungshilfeministerium bei den Haushaltsberatungen 200 Millionen DM zusätzlich versprochen: Wer den Armen mehr gibt, muss sich vor deren Zorn weniger fürchten. Auf die argumentative Kraft und die Breitenwirkung der globalisierungskritischen Bewegung (einschließlich der boomenden ATTAC-Gruppen) wird es ankommen, ob dieses Argumentationsmuster an Tiefenschärfe gewinnt und tatsächlich zu einem gesellschaftspolitischen Diskurs über die Ursachen von Krieg und Gewalt hinführen kann. Wenn wir von Seiten der Friedensforschung und der Friedensbewegung hier etwas beitragen können, werden wir das gern tun. Immerhin kann ich darauf verweisen, dass wir über Friedenspolitik unter den Bedingungen der Globalisierung bereits beim Friedenspolitischen Ratschlag 1997 erstmals diskutiert haben. Die damals erschienene Publikation "Friedenspolitik im Zeitalter der Globalisierung" ist auch heute noch lesenswert.

Der verständliche Ruf nach Sofortmaßnahmen gegen den Terror

Auf eine Frage blieben die alternativen Politikansätze indessen eine zufriedenstellende Antwort schuldig: die Frage nach den zivilen Alternativen zur militärischen Gewalt, und zwar Alternativen, die "hier und heute" praktisch realisierbar sind. In einer gemeinsamen Erklärung der Herausgeber des jährlichen "Friedensgutachtens", die aus den fünf großen deutschen Friedensforschungseinrichtungen kommen, der sich auch die Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung, also der Berufsverband der Friedensforscherinnen und -forscher angeschlossen hat, in dieser Erklärung wurde u.a. festgestellt: "Zum Erfahrungswissen der Friedens- und Konfliktforschung gehört, dass Vergeltung und militärische Gewaltanwendung die gefährliche Tendenz zur Eigendynamik und Eskalation haben. Konfliktanalyse und -vorsorge setzen dagegen auf die 'weichen' Instrumente des Dialogs und der Vermittlung sowie der Implementierung demokratischer und sozial gerechter Strukturen." Aus diesem Grund wurde für eine strikt nicht-militärische Bündnissolidarität plädiert. "Europa", so hieß es, "kann und muss mit zivilen polizeilichen Mitteln beitragen, die internationalen Unterstützungsnetzwerke des Terrorismus trocken zu legen."

Angesichts katastrophischer Ereignisse unmittelbarer Gewalt greifen die Menschen wie selbstverständlich zu Konzepten, die schnelle Abhilfe und sofortige "Lösungen" versprechen. Gepaart mit dem verständlichen Wunsch nach Vergeltung, die mit Bestrafung, nach Rache, die mit Gerechtigkeit verwechselt wird, entsteht eine nur sehr schwer zu erschütternde Erwartungshaltung, die alle Hoffnung in einen massiven Einsatz der geballten staatlichen Machtmittel setzt. Die ebenfalls als richtig empfundene Strategie, die an den ökonomischen und gesellschaftlichen Ursachen von Terror und Gewalt ansetzt, wird demgegenüber in den Bereich des Visionären verlagert. Darum könne man sich kümmern, wenn man mit den Terroristen hier und heute aufgeräumt hat. Obwohl die Friedensbewegung nicht um Antworten verlegen war und beispielsweise auf das große Arsenal rechtsstaatlicher, d.h. polizeilicher, diplomatischer und politischer (Sofort-)Maßnahmen verwies, wurde diesen jegliche Aussicht auf zählbaren Erfolg im Kampf gegen den Terrorismus abgestritten. Was in Bezug auf die strafrechtliche Verfolgung von Gewalttaten innerhalb eines Landes allgemein akzeptiert wird, dass sich nämlich die Ermittlungen bis zur Ergreifung eines Täters zeitlich manchmal über Jahre hinziehen können, findet in Bezug auf die internationalen Beziehungen keine Entsprechung.

Damit ist aber auch ein Schwachpunkt in der Entwicklung des Völkerrechts angesprochen: Die sich globalisierende Weltgesellschaft und ihre organisatorische Hülle, die Vereinten Nationen, verfügen zwar über vielfältige völkerrechtlich verbindliche Normen und Regeln (z.B. ein rundes Dutzend Resolutionen und Konventionen gegen terroristische Gewaltakte, das seit Anfang der 60er Jahre verabschiedet wurde); die UNO hat aber keine - exekutive - Kompetenz und Macht, sie auch gegenüber einzelnen Staaten durchzusetzen.

Solche Webfehler in der Konstruktion der UNO sind natürlich weder der Friedensforschung noch der Friedensbewegung anzulasten, sondern den Staaten bzw. Regierungen, die sich einer Weiterentwicklung und Reformierung der Vereinten Nationen in Richtung weltgesellschaftlicher Verantwortung (als ein Schritt zu einer "Weltinnenpolitik") bisher erfolgreich widersetzt haben. Die Ausstattung der UNO mit mehr Befugnissen, die sich auch auf die inneren Verhältnisse der Mitgliedsstaaten erstrecken, wird indessen - so paradox das klingt - nur über eine Stärkung des "Grundsatzes der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder" nach Art. 2,1 der UN-Charta zu erreichen sein.

Neue deutsche Außen- und Sicherheitspolitik

Hier entscheidet sich, ob ein deutscher Außenminister über die künftige Weltinnenpolitik nur schwadroniert, um die grüne Seele zu besänftigen, oder ob er auch wirklich bereit ist, andere Staaten und Völker, deren ökonomische und militärische Macht sich mit der Deutschlands nicht messen kann, als gleichberechtigte Partner anzunehmen und zu behandeln. In einer Regierungserklärung vom 11. Oktober dieses Jahres sprach der Bundeskanzler Klartext: Deutschland müsse sich einer neuen Verantwortung stellen, "die unserer Rolle als wichtiger europäischer und transatlantischer Partner, aber auch als starker Demokratie und starker Volkswirtschaft im Herzen Europas entspricht." Deutschland dürfe sich daher auch nicht mehr nur mit "sekundärer Hilfestellung" begnügen, sondern müsse sich direkt an "militärischen Operationen" beteiligen. Wir haben danach ja erlebt, wie sich die Bundesregierung den USA geradezu aufgedrängt hat, endlich beim Krieg gegen Afghanistan dabei sein zu dürfen. Franz-Josef Strauß wird mit großem Wohlgefallen aus dem blau-weißen Himmel herabschauen und den Rot-Grünen bei ihrer Arbeit zusehen. Hatte er doch, als er noch hienieden wandelte, stets verlangt, dass sich der ökonomische Riese Deutschland aus seinem politischen Zwergendasein erheben möge.

Die außenpolitische Grundsatzrede des Bundeskanzlers am 11. Oktober und der Beschluss des Bundestags über den "Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte" vom 16. November 2001 markieren den endgültigen Wiedereintritt Deutschlands in eine militärisch gestützte Weltpolitik, geben dem Revanche- und Großmachtpolitiker Franz-Josef Strauß posthum Recht. Und auch wenn ich weiß, dass sich Geschichte natürlich nicht wiederholt, es sei denn als Farce: Die Neupositionierung der deutschen Außenpolitik erinnert ein wenig an den Übergang Deutschlands in eine offene imperialistische Politik im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Einen "Platz an der Sonne" galt es damals zu ergattern, Kolonien zu erwerben und die Flotte aufzurüsten. Bismarcks europäische Sicherheitsarchitektur war passé und das wilhelminische Reich begab sich auf den gar nicht einmal langen Weg in den ersten Weltkrieg. Nun wollen wir Kohl nicht mit Bismarck und Schröder mit Wilhelm II vergleichen. Aber zu denken gibt schon, dass sich Altbundeskanzler Kohl in seiner Funktion als Vorsitzender des Beirats des Käthe-Kollwitz-Museums heute als "Friedensbote" begreift. Er selbst habe, so erzählte er vor wenigen Tagen im Museum am Kurfürstendamm, immer "Frieden schaffen wollen mit weniger Waffen". Entsprechend süffisant kommentiert er das Treiben seines Nachfolgers mit den Worten: "In meiner Zeit ist kein Krieg angefangen worden."

Eine breite Zustimmung, die Schröder für seinen Militärkurs im Bundestag hätte erhalten können, hat er zugunsten der Disziplinierung einiger Abweichler in den eigenen Koalitionsreihen verbockt. Ohne Verbindung mit der Vertrauensfrage, die etwa die Hälfte der Bundestagsabgeordneten zwang, gegen ihre Überzeugung zu stimmen - ein eklatanter Fall von politischer Nötigung! -, hätte der Kriegsbeschluss eine satte Mehrheit von über 90 Prozent erhalten.

In kaum einer anderen Frage von nationalem Gewicht ist die Kluft zwischen dem fraktionierten Gewissen der Volksvertreter und der Meinung des Volks so groß wie in der Kriegsfrage. Satte 90 Prozent hier, weniger als die Hälfte - wenn man den seriöseren Umfragen trauen darf - dort. Eine Kriegsteilnahme der Bundeswehr ist genauso wenig mehrheitsfähig wie der andauernde US-Bombenkrieg in Afghanistan.

Kriegsunwilligkeit der deutschen Gesellschaft

Das ist erklärungsbedürftig, weil sich dieses Bild deutlich abhebt von Einstellungen der Gesellschaften anderer westeuropäischer Länder. Großbritannien, Frankreich und selbst Italien z.B. tun sich längst nicht so schwer bei Militärinterventionen wie Deutschland. Das ist schon sehr bemerkenswert, weil die weit verbreitete Kriegsunwilligkeit den Abschied von obrigkeitsstaatlichen und militaristischen Prägungen indiziert, welche die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts maßgeblich mitbestimmt haben.

Für diesen positiven Trend sehe ich drei Gründe:
  1. Die überwiegende Friedfertigkeit der deutschen Gesellschaft ist einmal gewiss Ergebnis der im kollektiven Gedächtnis aufgehobenen Erfahrungen aus dem unermesslichen Leid, das Deutschland im 2. Weltkrieg anderen Völkern angetan hat und in der militärischen Niederlage schließlich selbst erfahren musste. Die Wehrmachtsausstellung, die nach längeren Renovierungsarbeiten endlich wieder gezeigt wird, hat auch ihren guten Anteil daran gehabt.
  2. Die Friedfertigkeit der Gesellschaft ist zweitens Ergebnis der jahrzehntelangen außen- und militärpolitischen Selbstbeschränkung der - alten - Bundesrepublik (der Spielraum der DDR war bestimmt nicht größer), die sich sehr gut mit der ökonomischen und sozialen Prosperität des Landes vereinbaren ließ und von der Bevölkerung nicht als Nachteil empfunden wurde.
  3. Und drittens ist die erstaunlich große Friedfertigkeit der deutschen Gesellschaft auch eine Folge des langjährigen Wirkens der Friedensbewegung. Deren Weg ist zwar von politischen Niederlagen gepflastert (Remilitarisierung, Aufrüstung, Raketenstationierung, Golfkrieg, Eurofighter, NATO-Krieg gegen Jugoslawien und nun Beteiligung am Krieg gegen Afghanistan), deren Gedanken und Überzeugungen haben sich aber im Bewusstsein vieler Menschen eingenistet. Vor allem dem Umstand, dass es in gewissen zeitlichen Abständen einer präsenten Friedensbewegung - unterstützt von einer argumentationsstarken Friedenswissenschaft - immer wieder gelingt, zu zentralen Streitfragen der Außen- und Sicherheitspolitik nicht-militärische Alternativen zu formulieren und in politische Kampagnen umzusetzen, ist es zuzuschreiben, dass es zu einer periodischen "Auffrischung" friedenspolitischer und pazifistischer Orientierungen in der Gesellschaft kommt. Die Enttäuschung darüber, dass die Massen, die noch in den achtziger Jahren zu Hunderttausenden in Bonn demonstrierten, heute kaum noch auf die Straße zu bringen sind, ist zwar verständlich. Sie darf aber nicht zu dem Fehlschluss verleiten, der Friedensgedanke hätte in der Gesellschaft keinen Platz mehr und die Friedensbewegung wäre in eine hoffnungslos minoritäre Position geraten. Außerdem konnten sich die Kundgebungen am 13. Oktober in Berlin und Stuttgart doch sehen lassen.
Die Wortmeldungen vieler Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler gegen den US-Krieg in Afghanistan und gegen eine deutsche Beteiligung daran sind ein Beleg für die Virulenz friedensorientierter Strömungen in der Gesellschaft. Über die Haltung zum Krieg ist in den beiden großen Kirchen ein offener Streit ausgebrochen, in dem pazifistische Stimmen ein gewichtiges Wort mitzureden haben. Und auch in den Gewerkschaften regt sich Widerstand gegen den kriegsbefürwortenden Kurs mancher Gewerkschaftsvorstände, denen die Solidarität zu "ihrer" Bundesregierung offenbar wichtiger zu sein scheint als die Solidarität mit den Opfern von Krieg, Terror und Gewalt. Wir haben morgen ausreichend Gelegenheit, mit Insidern über den Stand der friedenspolitischen Diskussion in Kirchen und Gewerkschaften zu sprechen.

Bleibt mir noch neben den vielen Referenten, die uns heute und morgen mit wertvollen Informationen und Anregungen versorgen auch unsere ausländischen Gäste zu begrüßen. Die Freundinnen aus Israel und Palästina habe ich schon erwähnt. Eine starke Delegation ist diesmal wieder aus Österreich angereist und auch die Schweiz, Frankreich, Belgien und Schweden sind heute vertreten. Ihr seid uns herzlich willkommen! Den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die aus allen Ecken und Enden des Landes kommen, wünsche ich ebenfalls einen angenehmen Aufenthalt und uns allen spannende Diskussionen und einen ertragreichen Friedensratschlag.

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