Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Denken - träumen- handeln

Einführungsbeitrag zum 9. Friedenspolitischen Ratschlag am 7./8. Dezember 2002 in der Universität Kassel

Von Peter Strutynski*

  • Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde, liebe Kolleginnen und Kollegen!

    Wir haben dem Buch zum letztjährigen Friedensratschlag den Titel gegeben: "Frieden im Schatten von Terror und Krieg". Leider passt dieser Titel auch sehr gut zu unserem heutigen Friedensratschlag, steht er doch ganz unter dem Eindruck des drohenden US-Krieges gegen den Irak. Ein Krieg, der nicht nur unnötig ist - das ist jeder Krieg -, sondern der auf besondere Weise gegen jede Vernunft und gegen jedes internationale Recht verstößt und ein großes Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt.

    Nun könnte jemand auf die Idee kommen zu sagen, Gott sei Dank ist Deutschland in diesen Krieg nicht involviert. Die Bundesregierung hat ja mehrfach und bis zum heutigen Tag festgestellt, dass sie sich an einem Krieg gegen Irak nicht beteiligen werde. Und ist es nicht ein bedeutsamer Fortschritt, dass Berlin nach der völkerrechtswidrigen Kriegsteilnahme gegen Jugoslawien und nach der ebenso völkerrechtswidrigen Beteiligung am sog. "Antiterrorkrieg", u.a. auch in Afghanistan, nun endlich das Richtige macht und Nein sagt zum Krieg? Ich weiß, es gibt hartgesottene Vertreter einer reinen Friedenslehre, die die rot-grüne Koalition nach dem Sündenfall Kosovo am liebsten mit ewiger irdischer Verdammnis bestrafen würden. Besserung ausgeschlossen. Da ich mich selbst aber zu den Anhängern des Resozialisierungsgedankens im Strafvollzug zähle, hätte ich kein Problem, Anzeichen einer echten Umkehr auch gebührend zu würdigen und den Delinquenten die Wiedereingliederung in den Kreis der kriegsgegnerischen Kräfte zu ermöglichen. Ich erinnere mich an viele Stellungnahmen und Presseerklärungen aus der Friedensbewegung, die den außen- und sicherheitspolitischen Schwenk der Bundesregierung ausdrücklich, aber verhalten begrüßt haben. Um keinen Illusionen aufzusitzen und unliebsamen Rückfalltätern durch Sorglosigkeit auch noch Vorschub zu leisten, muss man sich aber - das lernt jeder Sozialarbeiter - schon ein etwas genaueres Bild von der Persönlichkeitsstruktur, den Motiven und dem Milieu eines Straftäters machen.

    Die Läuterung der rot-grünen Koalition ereignete sich genau sieben Wochen vor der Wahl. Im Anschluss an den deutsch-französischen Gipfel Ende Juli traten der französische Präsident Chirac und der deutsche Bundeskanzler Schröder vor die Presse und verkündeten übereinstimmend ihre ablehnende Haltung gegenüber den US-amerikanischen Kriegsplänen. Seither wurde ein außenpolitischer Streitpunkt zum zentralen und letztlich wahlentscheidenden Thema des Bundestagswahlkampfes 2002. Das ist bemerkenswert, weil Außenpolitik traditionell kein Thema, und schon gar nicht ein wahlentscheidendes Thema in Wahlkämpfen ist. Wir müssen schon lange zurückblicken, nämlich in das Jahr 1972, wenn wir einen ähnlichen Vorgang beobachten wollen. Damals ging es der Regierung Brandt um die Unterzeichnung der Ostverträge und damit um die Durchsetzung einer neuen, auf gegenseitige Anerkennung und auf Vertrauen gegründeten Politik der Aussöhnung mit Polen und der Sowjetunion und der Anerkennung der bestehenden europäischen Grenzen. Nicht einmal in den 80er Jahren gelang es der Friedensbewegung, die damals noch ganz anders dastand als heute, die Raketenfrage etwa in den Wahlkampf 1982 so einzubringen, dass die Raketenbefürworter Kohl und Konsorten hätten verhindert werden können.

    Dass die Kriegsfrage zum Thema des diesjährigen Wahlkampfs wurde, war auch nicht unbedingt ein direktes Verdienst der Friedensbewegung. Aber sie hatte ihren Anteil daran, dass in der Bevölkerung die Stimmung gegen den angekündigten Krieg so allgemein wurde, dass Rot-Grün, der fast alle Felle davongeschwommen waren, nach einem letzten Strohhalm suchte und fündig wurde. Das Ergebnis ist bekannt. Eine tragische Ironie der Geschichte, ein sehr schmerzhafter "Kollateralschaden" war das Ausscheiden jener Kraft aus dem Bundestag, die am klarsten die Antikriegs-Positionen vertreten hat, wegen derer schließlich Schröder und Fischer, nicht aber Gehrcke und Zimmer wiedergewählt wurden.

    Nun war natürlich die spannende Frage, wie lange das Versprechen von Rot-Grün, sich nicht am Irak-Krieg zu beteiligen, nach der gewonnenen Wahl halten würde. Man kann das datieren. Genau sieben Wochen. Natürlich gab es schon vorher Absetzbewegungen. Ich erinnere an die Äußerungen von Verteidigungsminister Peter Struck am Wahlabend, als er laut darüber nachdachte, die deutschen Truppenkontingente in Afghanistan und auf dem Balkan (Bosnien, Kosovo, Makedonien) aufzustocken, um den amerikanischen Freunden entsprechende Entlastung für ihren Aufmarsch am Golf zu verschaffen. Kurze Zeit später sprach sich Struck dafür aus, die Spürpanzer "Fuchs" auch nach Beginn eines möglichen Kriegs in Kuwait zu lassen. Vor der Wahl hatte es noch geheißen, die Panzer würden abgezogen, sobald der Krieg beginnt. Endgültig aber hat die Regierung den wiedergefundenen Pfad außenpolitischer Tugend am 15. November verlassen, also sieben Wochen nach der Wahl, mit der Abstimmung über die Fortsetzung des Krieges "Enduring Freedom".

    Worum ging es dabei?

    Erstens
    Wenn man über die Verlängerung eines Kriegseinsatzes entscheiden soll, wird man doch zuerst fragen , was der bisherige Einsatz gebracht hat. Dies ist nicht oder nur sehr oberflächlich geschehen. Die Bundesregierung hat es versäumt, eine nachprüfbare Bilanz des bisherigen Einsatzes zu ziehen und Rechenschaft über die deutsche Teilnahme an "Enduring Freedom" abzulegen. Im Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen wird lediglich behauptet, die "Operation Enduring Freedom" habe "sichtbare Erfolge" gezeigt; dazu zählen die "Zerschlagung des Talibanregimes" und die "weitgehende" Zerstörung von Al Qaida. Mit keiner Silbe wird demgegenüber erwähnt, dass der Krieg in Afghanistan nach vorsichtigen Schätzungen über 20.000 Todesopfer gefordert hat, worunter bis zu 10.000 Zivilpersonen sind. Der Rat der EKD sprach auf seiner Synode vor einem Monat von "Tausenden unschuldiger Opfer unter der Zivilbevölkerung", während das eigentliche Ziel des Krieges, den Drahtzieher des 11. September, Osama bin Laden, zu fangen, nicht erreicht wurde.
    Erinnern wir uns kurz an das angebliche Motiv für die Beteiligung Deutschlands am NATO-Krieg gegen Jugoslawien, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern und die unterdrückte albanische Volksgruppe zu schützen. Anlässlich der gestern zu Ende gegangenen Konferenz der Innenminister in Bremen hat die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Marieluise Beck, einen bemerkenswerten Appell veröffentlicht, Minderheitsangehörige aus dem Kosovo, die hier in Deutschland leben, auf keinen Fall abzuschieben. Marieluise Beck schreibt zur Begründung u.a.:
    "Roma, Ashkali, Serben und andere Minderheitsangehörige sind im Kosovo immer noch in der Gefahr, Opfer von schweren Übergriffen zu werden. Die im Kosovo tätigen internationalen Organisationen sind sich in diesem Punkt völlig einig: Minderheitsangehörige können sich in vielen Fällen außerhalb bestimmter "Schutzzonen" nach wie vor nicht frei bewegen; eine wirtschaftliche und soziale Entfaltung ist regelmäsßig ausgeschlossen. Die Rückkehr bedeutet gegenwärtig oftmals eine Rückkehr in ein Klima starker Diskriminierung und in soziale Aussichtslosigkeit bis hin zu konkreten Gefährdungen."
    Man sieht auch hier: Der Krieg hat nichts besser gemacht. Krieg ist eben keine Lösung.
    Doch zurück zu Afghanistan:
    Auch eine weitere "Hoffnung" der Bundesregierung, die an den Militäreinsatz gebunden war, hat sich nicht erfüllt. Im Beschluss des Bundestags vom 16. November 2001 hieß es: "Der Deutsche Bundestag bringt seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die internationale Kooperation in der Anti-Terror-Allianz auch dazu beitragen wird, die regionalen Konflikte in Kaschmir, auf dem Balkan und in Zentralasien einer friedlichen und fairen Regelung zuzuführen." Was wir stattdessen erlebt haben, war zumindest in der Kaschmir-Region das genaue Gegenteil: die Eskalation des indisch pakistanischen Konflikts bis an den Rand eines (atomaren) Krieges.
    Überlegen wir doch nur einmal: Alle relevanten mutmaßlichen Terroristen, die in Deutschland, in Italien, in Frankreich oder in Griechenland in den letzten 12 Monaten gefasst wurden, wurden von zivilen Ermittlern gefasst, nicht infolge von Militäraktionen! Terror ist eben mit Krieg nicht zu bekämpfen. Im Gegenteil: Krieg ist selbst Terror und gebiert neuen Terror.

    Zweitens
    Das neuerliche Mandat zum Bundeswehreinsatz im Rahmen von "Enduring Freedom" bleibt genauso vage wie der ursprüngliche Beschluss vom November letzten Jahres. Der Bundestag soll "das in Art, Umfang und Einsatzgebiet unveränderte Mandat" für die Dauer eines weiteren Jahres bestätigen, hieß es im Antrag der Bundesregierung. Doch schon damals war nicht klar, welchen Charakter der militärische Einsatz haben würde und für welche Einsatzorte er gelten sollte.
    Nach über einem Jahr des von den USA angeführten "Kriegs gegen den Terror" ist aber hinlänglich bekannt, dass es sich um einen ganz "normalen", das heißt eben auch schmutzigen Krieg handelt, in dessen Verlauf unschuldige Zivilisten getötet, Infrastruktur zerstört, Ressourcen vergeudet (Kriegskosten!), das Kriegsvölkerrecht (Genfer Konvention) missachtet und Menschenrechte gröblich verletzt wurden und werden. Wer sich seinen Sinn für das internationale Recht bewahrt hat, muss - nach einem Wort des Gießener Professors für Öffentliches Recht, Thomas Groß, "konstatieren, dass sich die amerikanische Regierung zum Ankläger, Richter und Henker eines fiktiven Weltstrafgerichts erklärt hat, das auf dem Kodex der Blutrache beruht". (Freitag, 16.11.2001) Dieselben USA sind nicht bereit, sich dem im Aufbau befindlichen wirklichen Weltstrafgericht, dem "Internationalen Gerichtshof" in Den Haag, unterzuordnen. Und die Bundesregierung verlangt nun, "abgestimmt vor allem mit den USA und den europäischen Partnern, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus auch mit militärischen Mitteln fortzuführen", wie es im Bundestagsbeschluss heißt. Mit dem Völkerrecht hat dieser Krieg nichts zu tun. Selbst wenn man der Meinung gewesen wäre, dass der Afghanistan-Krieg anfänglich nach Art. 51 UN-Charta ein Akt der "Selbstverteidigung" war, so hat er diesen Charakter längst verloren und ist zu einem unerlaubten Kriegsfeldzug geworden.

    Drittens
    Meine These ist: Der Kriegsfeldzug der USA "Enduring Freedom" schließt eine Krieg gegen den Irak ausdrücklich ein.
    "Enduring Freedom" war nie auf Afghanistan beschränkt, sondern hatte einen universellen Bezugsrahmen. US-Präsident Bush sprach im September 2001 von über 60 Ländern, in denen Terrorismus bekämpft werden müsse. Nach und neben Afghanistan war schon im Dezember 2001 die "zweite Phase" des US-Krieges eröffnet worden: mit "Operationen" auf den Philippinen, in Georgien, in Pakistan sowie in einigen kaukasischen und zentralasiatischen Republiken. Ende Januar 2002 nannte George W. Bush in seiner Rede "Zur Lage der Nation" als Gegner und vordringliche Ziele der "dritten Phase" des Antiterrorkriegs die "Achse des Bösen", bestehend aus Nordkorea, Iran und Irak. Die USA und Großbritannien bereiten seit Monaten diese dritte Phase vor mit der Angriffsplanung gegen Irak. All dies ist Bestandteil des andauernden Kriegs "Enduring Freedom".
    Mit der Verlängerung des Mandats "Enduring Freedom" ist die Bundesregierung, ob sie das will oder nicht, auch am Krieg gegen den Irak beteiligt. Wer in dieser Situation Füchse und Flotte im Kriegsaufmarschgebiet lässt, nimmt bewusst in Kauf, zumindest logistischer Bestandteil des Kriegs gegen den Irak zu werden. Und wer, wie das vor wenigen Tagen auch offiziell geschehen ist, den USA Überflugsrechte und die Nutzung der US-Stützpunkte auf deutschem Boden garantiert, leistet Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, bricht sein eigenes Wahlversprechen und - was viel schwerer wiegt - bricht auch noch das Grundgesetz. - Um sich im Verfassungsbruch ein wenig zu üben, hat Verteidigungsminister Struck vorgestern die Landesverteidigung nach Art. 87a ad acta gelegt und statt dessen die Bundeswehr auf "Krisenbewältigung" festgelegt (vgl. "Friedensbewegung entsetzt über Struck"). Landesverteidigung findet künftig am Hindukusch statt. Hat sich dieser ewig gelangweilt wirkende Nachfolger von Scharping eigentlich überlegt, was weltpolitisch herauskäme, wenn andere Staaten nach dem selben Prinzip verführen? Was würde denn hier zu Lande passieren, wenn sagen wir Pakistan oder Indien oder China eine Militärdoktrin verkündeten, wonach deren Landesverteidigung am Rhein stattzufinden habe?

    Viertens
    Mit der Verlängerung des Mandats zum Bundeswehreinsatz im Rahmen von "Enduring Freedom" wird auch das Verbleiben des rund 100 Mann umfassenden "Kommandos Spezialkräfte" (KSK) in und um Afghanistan herum abgesegnet. In den vergangenen 12 Monaten war es nicht möglich, dem Verteidigungsministerium irgendwelche konkreteren Hinweise auf Einsatzgebiet und Art der Tätigkeit des KSK zu entlocken. Da es sich um eine Eliteeinheit handelt, die vornehmlich verdeckt operiere, könnten keine Angaben über ihren Einsatz gemacht werden, hieß es regelmäßig.
    Ich halte diese Geheimniskrämerei für einen Skandal. Zumindest im nachhinein müssen Parlament und Öffentlichkeit über die Aktivitäten von Truppen im Auslands-Kriegseinsatz informiert werden. An welcher Art von Operationen der anderen "Alliierten", insbesondere der US-Truppen, war das KSK beteiligt? War es bei Gefangennahmen dabei und hat es evtl. selbst Gefangene gemacht? Was ist mit diesen Gefangenen geschehen? Wurden sie z.B. den USA zur weiteren "Behandlung" (etwa in Guantánamo) überstellt?
    Nachdem der Bundestag mit rund 98 Prozent der Stimmen der Verlängerung des Einsatzmandats zugestimmt hat, ohne vorher solche Fragen gestellt zu haben, haben wir es nicht nur mit einer Kriegsermächtigung der Exekutive durch das Parlament, sondern auch mit einer Selbstentmachtung des Parlaments zu tun. Kann man eigentlich noch tiefer sinken?

    Man kann. Das hat die Bundesregierung mit ihrer Groteske um die Patriot-Raketen und Fuchs-Panzer gerade bewiesen.
    Zunächst hatten Schröder und Fischer auf dem NATO-Gipfel in Prag alles abgenickt, was Washington von den NATO-Verbündeten verlangte - und ich sage dazu, damit hier nicht immer nur auf den USA herumgetrampelt wird: was die europäischen Staaten im Grunde genommen selbst ja auch wollen - 1) die Umwandlung der NATO aus einem Verteidigungsbündnis in eine Interventions- und Kriegsallianz, 2) den Aufbau einer Schnellen Eingreiftruppe (den sog. NATO Response Forces) von zunächst 21.000 Soldaten, die jederzeit rund um den Erdball eingesetzt werden kann. Meinungsverschiedenheiten zwischen Europa und USA gab es hinter den Kulissen nicht wegen dieser prinzipiellen Neuausrichtung der NATO, sondern wegen einiger Fragen um Doppelstrukturen, Zuständigkeiten und Kostenübernahme, zumal die EU schon längst mit dem Aufbau einer eigenen Einsatztruppe begonnen hat.

    Nach dem NATO-Gipfel war die rot-grüne Koalition in Sachen Irak-Krieg ganz schön in die Bredouille geraten. Alle Welt wollte endlich einmal Klarheit haben, ob Deutschland denn mitmacht, wie ernst die Wahlkampf-Absage an den Krieg wirklich gewesen ist und wo der Unterschied zwischen "aktiver" und "passiver" Beteiligung am Krieg liegt. Als hätte der Kanzler nicht schon genug Ärger mit den Steuern, den Renten, der Krankenversicherung und der Massenarbeitslosigkeit, machte nun der Vorwurf eines neuerlichen Wahlbetrugs die Runde.

    Der Druck auf die Bundesregierung war gewaltig und kam aus drei Richtungen:
    Erstens kam er aus Washington. Dabei geht es dem Weißen Haus gar nicht um eine reale Beteiligung der Bundeswehr oder anderer NATO-Streitkräfte an ihrem Krieg. Die hat die einzige übermächtige Militärmacht der Welt überhaupt nicht nötig. Vor drei Tagen hat dies der stellvertretende US-Verteidigungsminister Wolfowitz gegenüber der NATO noch einmal deutlich gemacht. Es geht den USA vielmehr um den Nachweis, dass sie auch in der Lage sind, politischen Widerstand in den eigenen Reihen brechen zu können und sich die europäischen Partner - die ja gleichzeitig potenzielle Konkurrenten sind - gefügig zu machen.

    Nicht zu unterschätzen ist zweitens der Druck, der von der Rechtsopposition und von den führenden Meinungsblättern dieser Republik ausgeübt wird. Seit Wochen wird uns eingetrichtert, dass die Bundesregierung gar nicht anders könne, als schließlich dem wichtigsten Bündnispartner solidarisch zur Seite zu stehen. So sehr hatte offenbar schon das Verdikt gewirkt, Deutschland dürfe keinen Sonderweg gehen und sich in der Staatengemeinschaft nicht "isolieren"! Isoliert waren und sind in Wirklichkeit ja eher die USA und ihr britischer Polit-Pudel Tony Blair. Und eine Antikriegs-Haltung, die von den meisten Staaten der Welt geteilt wird, einen "Sonderweg" zu nennen, erfüllt in meinen Augen den Tatbestand vorsätzlicher Volksverdummung. Was dem Wahlvolk untergejubelt werden soll, ist die Zwangsläufigkeit des drohenden Krieges, der durch nichts, aber auch gar nicht aufzuhalten sei, weshalb sich ein Ausscheren aus der "Bündnissolidarität" von selbst verbiete.

    Für eine mehr als nur "passive" Kriegsteilnahme Deutschlands spricht drittens das Eigeninteresse führender wirtschaftlicher und politischer Kreise, im Spiel der Mächte um eine Neuordnung, oder besser um eine Neuaufteilung des Nahen Ostens ein Wort mitreden zu können. Das alte olympische Prinzip, wonach "dabei sein alles" sei, gilt für eine europäische Großmacht mit weltweiten Ambitionen natürlich genauso wie für den Spitzenreiter der Weltliga, die USA. Es mag ja tatsächlich sein, dass die deutsche Politik eine Zeitlang gehofft hatte, ohne Krieg im Nahen Osten ihre Ziele besser erreichen zu können als mit einem neuerlichen Waffengang. Die Hinweise Fischers auf die besondere Gefährlichkeit eines Krieges in diesem Pulverfass, auf die mögliche weitere Destabilisierung der Region, in der immerhin die Hälfte der Energieressourcen der Welt schlummert, waren ja durchaus Ernst gemeint - zumindest waren sie richtig. In einer Situation, in der aber festzustehen scheint, dass die USA notfalls auch allein in den Krieg ziehen (und dann möglicherweise auch allein in den Genuss der Kriegsbeute kommen), muss mitgemacht werden, um, wie es immer so schön heißt, den politischen Einfluss auf die "Nachkriegsordnung" nicht zu verspielen. Auch Putin wird einknicken, allein schon um sich den Rücken für seinen rücksichtslosen Feldzug gegen Tschetschenien frei zu halten.

    Wie konnte die Bundesregierung ihren neuerlichen Schwenk aber der Öffentlichkeit gegenüber begründen? Meine Antwort lautet: Indem man die israelische Karte ausspielt!

    Da erinnert sich ein schlauer Fuchs irgendwo in den (Un-)Tiefen des Verteidigungsministeriums eines Ersuchens Israels an die Bundesregierung, doch bitte mit "Patriot"-Raketen auszuhelfen. Angesichts der irakischen Bedrohung (die zur Zeit für alles und jedes in der Welt herhalten muss) brauche Israel eine moderne Raketenabwehr. Aus Berlin schallt es lautstark: Aber selbstverständlich! Zur Lieferung solcher "rein defensiver" Waffen an Israel sei Deutschland moralisch verpflichtet. Dass an einer solchen Zusage gleich zwei Haken hängen, ging im Eifer des Gefechts (!) ziemlich unter. Der erste Haken: Die Anfrage liegt schon seit zwei Jahren in Berlin vor und niemand machte irgend ein Aufsehen darum. Warum also gerade jetzt eine Neuauflage? Der zweite Haken: Israel braucht - nach Einschätzung militärischer Experten - die "Patriot"-Systeme aus Deutschland gar nicht, weil es selbst über ein viel besseres System ("Arrow") verfügt und obendrein bei wirklichem Bedarf nach zusätzlichen Abwehrraketen doch gleich auf die verbesserte "Patriot"-Version aus den USA zurückgreifen würde.

    Die Sache mit den "Patriot"-Raketen stand also auf allzu tönernen Füßen. Da traf es sich - Zufall über Zufall - gut, dass gleichzeitig ein weiterer Rüstungswunsch aus Israel in Berlin eintraf: Diesmal ging es um die Lieferung der weltweit hochgelobten "Füchse", eines ABC-Spürpanzers aus der Kasseler Waffenschmiede Rheinmetall. Ein niedlicher Fuchs, weil er nun wirklich, so sagt man, ausschließlich zum Aufspüren feindlicher Kampfstoffe taugt; ein ideologisch hoch belasteter Fuchs, weil er in der Verbindung mit dem vorgesehenen Einsatzort schnell zu einem deutschen "Wüstenfuchs" mutiert und entsprechende nostalgische Bedürfnisse befriedigt. Ein besonders problematischer Fuchs dann, wenn man nicht die Spürvariante, sondern die gleichnamige Transportvariante meint.

    Der geräderte Transportpanzer "Fuchs" ist so offensichtlich ein für militärische Angriffe geeignetes Gerät, dass dessen Ausfuhr in Krisen- oder Spannungsgebiete mit den Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung überhaupt nicht mehr zu vereinbaren wäre. (An der Stelle scheint der Hinweis angebracht, dass auch die Spür-Version keine reine Defensivwaffe ist. Der Spürpanzer macht auch - vielleicht sogar: vor allem - Sinn, wenn er im Falle eines Krieges im Feindesland das Terrain erkundet, um den eigenen oder verbündeten Truppen den Vormarsch zu ebnen. Übrigens lässt sich auch das Patriot-System zu Angriffszwecken einsetzen. Militärtechnologie tendiert in der letzten Zeit ohnehin dazu, die Unterscheidung zwischen offensivem und defensivem Zweck ganz zu verwischen.) Da es sich in der Öffentlichkeit aber besser macht, wenn man eine vermeintliche Defensivwaffe exportiert, las unser schlauer Fuchs eben nur den "Fuchs" und lief mit der frohen Kunde zu seinem Chef, Israel wünsche einen Spürpanzer. Peter Struck, noch nicht so lange im Amt, dass er die beiden Füchse schon auseinanderhalten könnte, beeilte sich, seinem Kanzler die "harmlose" Bitte Israels zu überbringen.

    Der Rest ist bekannt: Bei einer eilig anberaumten Pressekonferenz im Kanzleramt vor 10 Tagen nahm Gerhard Schröder Stellung zu den vorliegenden Anfragen und sagte frohen Herzens, gegen beide Anfragen bestünden keine prinzipiellen Bedenken.

    Soweit hatte sich das der schlaue Fuchs im Ministerium gut ausgedacht. Der Zweck schien erfüllt: Über die plausible Vermittlung des legitimen Wunsches der israelischen Regierung nach mehr defensiver Sicherheit rückte die Bundesregierung weiter in Richtung "passiver" Teilnahme am möglichen Irak-Krieg. Wer redet angesichts der unabweisbaren Pflicht zum Schutz Israels noch von "Wahlbetrug"? Gerade einmal vier Abgeordnete, zwei von den Grünen und die beiden "Fraktionslosen" von der PDS. Der übrige Bundestag schweigt zustimmend durch alle Fraktionen. Bis das Manöver dann doch noch platzte, weil sich herausstellte, dass die Israelis leider nicht die "defensive", sondern die andere Variante des "Fuchses" haben wollte. Das dürfe nicht sein, tönt es jetzt von allen Seiten. Sogar der frühere friedensbewegte Grünen-Abgeordnete Winfried Nachtwei erinnert sich seiner Vergangenheit und poltert gegen die blamable Vorstellung des Koalitionspartners SPD (war denn Fischer bei der besagten Pressekonferenz nicht auch dabei?). Und in einem seltsamen Anflug von Selbstüberschätzung schwadroniert er sogar von zu erwartenden "Straßenblockaden der Friedensbewegung". (Mir scheint, mit welchen Aktionen die Friedensbewegung auf die kriegerischen Zumutungen der Bundesregierung reagieren wird, entscheidet sie besser allein. Da muss sie sich nicht von einem Abgeordneten beraten lassen, der in den letzten vier Jahren zahlreichen Militäreinsätzen seine Zustimmung gab.) Für sein couragiertes Auftreten wurde Nachtwei von seiner Fraktion belohnt. Er durfte vorgestern (05.12.2002) in der Haushaltsdebatte begründen, warum es für die neue Bundeswehr, die keine Aufgaben der Landesverteidigung mehr übernehmen müsse, ausreiche, statt der bestellten 73 Transportflugzeuge Airbus A400M "nur" 60 anzuschaffen.

    Es sieht also so aus, als habe die Bundesregierung mehr oder weniger geschickt jene Fallen aufgestellt, in die sie - nun wirklich zwangsläufig - geraten wird, wenn der Irak-Krieg begonnen hat. Falle Nr. 1 sind die "Füchse" in Kuwait, Falle Nr. 2 sind die Marineverbände, die in der Golfregion kreuzen, Falle Nr. 3 schließlich ist die vom Bundestag abgesegnete Fortsetzung des sog. "Antiterror-Krieges" Namens "Enduring Freedom". Die letzte Falle, welche die Bundesregierung im Anschluss an den Prager NATO-Gipfel aufgestellt hat, heißt "Nothilfe". Im Falle eines Krieges (es folgt die obligatorische Formel, wonach man sich an dem Krieg nicht beteiligen werde) könnte es Übergriffe auf die US-Basis in Kuwait geben, in der auch die deutschen Fuchs-Spürpanzer untergebracht sind. In so einem Fall, sagte vor kurzem der Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Hans Georg Wagner, "kommen unsere Kräfte selbstverständlich zum Einsatz". Und schon ist Deutschland im Krieg! Christian Ströbele, der immer schon seine liebe Not mit der rot-grünen Koalition und letztens - anlässlich der Mazedonien-Abstimmung - auch mit sich selber hatte, kommentierte am 25. November in der "taz" sehr richtig: "Wenn man sich selber in Not bringt, indem man einen Krieg anfängt, dann ist das keine Nothilfe." So wie man einem Betrunkenen, der sich ans Steuer setzt, nicht dadurch hilft, dass man als Beifahrer auch noch zur Flasche greift.

    Bleibt die entscheidende Frage: Ist denn alles gelaufen? Ist es nicht müßig und Selbstbetrug zugleich, weiter gegen einen Krieg Sturm zu laufen, der längst beschlossene Sache ist?
    Ich möchte darauf mit vier Überlegungen antworten.

    Erstens
    Kriege, auch wenn sie von der einzigen Supermacht der Welt gewollt werden, sind kein unabwendbares Naturereignis. Mit der UN-Resolution 1441 haben sich die USA zwar einen fast grenzenlosen Interpretationsspielraum geschaffen, die Resolution und die jetzt begonnenen Inspektionen begrenzen aber auch die USA in ihrem Aktionsradius. Unabhängige Beobachter im Irak, Friedenswissenschaftler, kritische Journalisten und die Friedensbewegung können eine Gegenöffentlichkeit herstellen, die die Welt davon überzeugt, dass dieser Krieg ein Verbrechen wäre und daher nicht sein darf.

    Zweitens
    Die Friedensbewegung muss realistisch sein und darf weder die wachsende Kriegsgefahr unterschätzen noch die mobilisierbaren Gegenkräfte überschätzen. Eine Bewegung aber, die den Kampf gegen den Krieg vorzeitig einstellt, ist keine Friedensbewegung mehr. Die amerikanischen Friedensfreunde formulieren daher sehr richtig: "Stop the war, bevor it starts!" "Stoppt den Krieg, bevor er beginnt!" Solange noch Hunderttausende Menschen in Washington, in San Francisco, in London, in Rom und zuletzt in Florenz gegen den Krieg aufstehen und sich gegen die Unterwerfung unter das Diktat des weltweiten Neoliberalismus und Sozialdarwinismus auflehnen, solange besteht Hoffnung in diesem Kampf.
    Auf der großartigen Versammlung der sozialen Bewegungen Europas in Florenz wurde der 15. Februar zum gemeinsamen europaweiten Aktionstag gegen den Krieg proklamiert - und die Vorbereitungen dazu haben in den meisten Hauptstädten dieses Kontinents bereits begonnen. Tatsächlich haben die Tage von Florenz vor allem eines bewirkt: den Brückenschlag zwischen der Friedensbewegung und den sozialen Bewegungen aber auch den Brückenschlag dieser Bewegungen zu den Gewerkschaften. Die drei inhaltlichen Schwerpunkte: Krieg und Frieden, Neoliberalismus und eine gerechtere Welt, Kampf für mehr Bürgerrechte und gegen Rassismus haben diese Bewegung geeint.

    Drittens
    Es kann sein, ja es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass wir in diesem konkreten Fall, dem US-Krieg gegen Irak, unterliegen. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass man nicht auf uns hört. Ich bin vor einem Jahr an dieser Stelle gescholten worden, weil ich behauptet habe, der Weg der Friedensbewegung sei mit Niederlagen gepflastert. Ich bleibe aber dabei. Ich sage aber auch: Auch die Niederlagen haben hier zu Lande dazu beigetragen, das Denken und Fühlen der Menschen positiv zu verändern. Wenn heute 80 Prozent der deutschen Bevölkerung gegen eine deutsche Kriegsbeteiligung sind, dann ist das auch ein Verdienst des jahrzehntelangen Wirkens, der Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit der Friedensbewegung. Und ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass an dem Tag, an dem der große Kriegsschlag gegen Irak erfolgen wird, im ganzen Land große Unruhe sein wird und viele Menschen sich mit der Friedensbewegung zum spontanen Protest versammeln werden. Und auch dann wird unser Widerstand weiter gehen, in anderen Formen vielleicht, aber nicht weniger engagiert und heftig.

    Viertens
    Vergessen wir auch nicht, dass unser Kampf gegen Krieg und Gewalt nicht beim Nein stehen bleiben darf. Auch wir müssen Alternativen aufzeigen, dass und wie es ohne Krieg gehen kann. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist nicht damit beendet, dass beide Seiten zu einer Waffenruhe zurückkehren. Obwohl ja schon viel erreicht wäre, wenn in diesem blutigen Krieg nicht mehr gestorben würde. Eine nachhaltige Lösung des Konflikts wird nur möglich sein auf der Grundlage wirklicher Gleichheit beider Nationen, auf der Grundlage von Gerechtigkeit, was die Anerkennung der Rechte der von ihrem Land vertriebenen Palästinenser einschließt, auf der Grundlage gegenseitigen Respekts und unter friedlicher Regelung der verbliebenen Streitfragen im Rahmen der so zahlreich verabschiedeten, von Israel aber nie akzeptierten UN-Resolutionen. Es gäbe so viel zu tun für die internationale Gemeinschaft, auch für die Bundesrepublik. Aber die zieht es ja vor, Israel weiter militärisch aufzurüsten.

    Unsere Friedensratschläge, der erste hat 1994 hier an dieser Stelle stattgefunden, zeichnen sich durch sechs Dinge aus:
    1. Eine Vielzahl friedenspolitischer Themen und Probleme, die bearbeitet werden;
    2. Eine große Dichte friedenswissenschaftlicher Expertise;
    3. eine große Zahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus der Basis der Friedensbewegung, den lokalen und regionalen Initiativen und Gruppen;
    4. die Teilnahme zahlreicher Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Gewerkschaften, die sich der Friedensbewegung und einem gelebten Internationalismus verbunden fühlen,
    5. den Brückenschlag zwischen Friedensbewegung West und Friedensbewegung Ost und
    6. eine respektable Anzahl ausländischer Gäste, die den Weg nach Kassel nicht nur alle fünf Jahre wegen der documenta, sondern jedes Jahr wegen des Friedensratschlags finden.
    Es sind Delegationen aus Österreich und der Schweiz, aus Belgien und Frankreich, aus Schweden und Portugal sowie aus Israel bei uns. Darüber freuen wir uns.
    Ich möchte sie alle, euch alle sehr herzlich willkommen heißen. Würden wir nicht alle von der Notwendigkeit unseres Kampfes um Frieden und um eine bessere Welt überzeugt sein, würden wir uns hier nicht Jahr für Jahr so zahlreich versammeln.

    Ignacio Ramonet, der Herausgeber von Le Monde diplomatique, hat in seinem vor kurzem erschienenen Buch "Kriege des 21. Jahrhunderts" einen schönen Satz geschrieben: "Einmal mehr besteht Bedarf an Träumern, die denken, und an Denkern, die träumen."
    Ich möchte hinzufügen: Was wir darüber hinaus brauchen, sind Denker und Träumer, die handeln.
    In diesem Sinne möchte ich den 9. Friedensratschlag eröffnen.

    * Dr. Peter Strutynski ist Mitglied der AG Friedensforschung an der Uni Kassel und Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag. Der Vortrag wurde zur Eröfnung des Friedensratschlags am Samstag, den 7. Dezember, gehalten.


    Weitere Beiträge zum Friedensratschlag 2002

    Zur Seite "Friedensbewegung"

    Zurück zur Homepage