"Das gibt es sonst nirgends"
Der Friedenspolitische Ratschlag tagte in Kassel - und (fast) alle kamen
Am 6. und 7. Dezember traf sich auf Einladung des AG Friedensforschung an der Universität Kassel und des Bundesausschusses Friedensratschlag in Kassel zum zehnten Mal der "Friedenspolitische Ratschlag". Dieses jährliche große Treffen von Friedenswissenschaftlern, Friedensbewegung und Politik stand diesmal im Zeichen der bedrohlichen weltpolitischen Entwicklung, die der anglo-amerikanische Krieg gegen Irak heraufbeschworen hat. Das Motto des Kongresses lautete: "Perspektiven einer friedlichen Welt".
Die durch mäßig besuchte Konferenzen anderer Veranstalter genährte Sorge, dass das Interesse am "Ratschlag" diesmal geringer ausfallen würde als in den vergangenen Jahren, erwies sich als unbegründet. Kassel 2003 hat die Vorgänger-Kongresse sogar noch überbieten können: sowohl quantitativ als auch - so mein Eindruck - was den Informationsgehalt und die Dichte des Programms betrifft.
Rund 350 Menschen aus der ganzen Bundesrepublik und aus dem benachbarten Ausland diskutierten an den beiden Tagen in der Kasseler Universität über die Folgen des Irakkriegs. Der Kampf gegen den Terrorismus habe in den vergangenen zwei Jahren nach Meinung der Veranstalter eine fatale Richtung eingeschlagen, sagte Peter Strutynski (Kassel) in seinem Eröffnungsreferat. Anstatt mit rechtsstaatlichen Mitteln und im Rahmen des Völkerrechts Terroristen zu verfolgen und zu bestrafen, sind die USA und andere Staaten der Versuchung erlegen, die Probleme mit militärischer Gewalt "lösen" zu wollen. Afghanistan war die erste Station eines Krieges, den US-Präsident Bush unmittelbar nach dem 11. September 2001 zu einem "permanenten Krieg gegen den Terror" deklariert hatte. Bei der zweiten Station, dem Irak, bediente man sich des Vorwands des unerlaubten und den Weltfrieden bedrohenden Besitzes von Massenvernichtungswaffen. Der Irakkrieg wird in die Geschichte eingehen als ein Krieg, der gegen den erklärten Willen des UN-Sicherheitsrats, gegen den Mehrheitswillen der Menschen in fast allen Staaten der Welt und gegen den bis dahin beispiellosen politischen Protest von Millionen und Abermillionen Menschen angezettelt wurde. Es ist gleichzeitig der erste Krieg, der nach dem Drehbuch der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie der USA (September 2002) geführt wurde: als vom Völkerrecht verbotener Präventivkrieg. (Mehr dazu: (Mehr dazu:
"Einführungsbeitrag")
Der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Arno Klönne (Paderborn) sprach über die weltpolitischen Konkurrenzbeziehungen zwischen USA und Europa. Klönne stellte heraus, dass es sich hierbei um eine neue Form innerimperialistischer Widersprüche handelt. Europa dürfe sich nicht auf einen militärischen Wettlauf mit den USA einlassen und auch nicht das von Amerika gepflegte "neoliberale Modell des Kapitalismus" übernehmen. Das Solana-Papier vom Juni 2003, eine Art Entwurf zu einer europäischen "Sicherheitsdoktrin", ist in der strategischen Stoßrichtung und bis in die Diktion hinein in Anlehnung an die Nationale Sicherheitsstrategie des US-Präsidenten vom September 2002 formuliert worden.
Eine andere Politik forderte auch der GRUEL-Fraktionsvorsitzende im Europäischen Parlament, Francis Würtz. Der französische Abgeordnete lehnt die Militarisierung der EU ab und verlangte, dass der Verfassung eine allgemeine Erklärung vorangestellt werde, wonach die EU Krieg als Mittel der Politik ausschließt und sich zur friedlichen Konfliktbeilegung verpflichtet.
Eva-Maria-Stange, die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, erklärte ihre Bereitschaft, für einen konstruktiven Dialog zwischen Friedens- und Gewerkschaftsbewegung zu werben. Eine solche Zusammenarbeit sei angesichts fortschreitender Sozialabbaumaßnahmen dringend erforderlich. Ein großer Teil der Friedenswissenschaft und alternative Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler gehen wie die Friedensbewegung davon aus, dass in einer Zivilisierung und Verrechtlichung der Weltpolitik und in der Entwicklung einer langfristigen Strategie gegen Hunger, Armut und Unterentwicklung der Schlüssel zu einer Verminderung terroristischer Aktivitäten und von inner- und zwischenstaatlichen Gewaltkonflikten liegt. Die Industrieländer mit ihrem riesigen Wirtschafts-, aber auch Militärpotenzial haben hierbei eine besondere Verantwortung.
Sabine Leidig, Bundesgeschäftsführerin von Attac, berichtete über die Ergebnisse des Europäischen Sozialforums, das im November in Paris stattgefunden hatte. Dabei seien ein europaweiter Aktionstag anlässlich des ersten Jahrestags des Beginns des Irakkriegs (20. März 2004) sowie Großaktionen gegen den Sozialabbau (vermutlich am 27. März 2004) beschlossen worden.
Heinz Loquai, ehemaliger OSZE-Beobachter für den Kosovo und prominenter Gegner des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien, beeindruckte die Teilnehmer mit einem kurzweiligen und bebilderten Vortrag über die. An drei Beispielen, dem ersten Irakkrieg 1991, dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 und dem zweiten Irakkrieg 2003, zeigte er, wie sich viele Printmedien, teilweise aber auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten an der Konstruktion von Feindbildern (Milosevic = Hitler, Saddam = Hitler usw.) und dem Transport fingierter Gräuelmärchen über angebliche Massaker (Racak) und Untaten des Feindes (Brutkasten-Story 1991) an der psychologischen Kriegsvorbereitung beteiligten. (Mehr dazu:
"Medien als Wegbereiter von Kriegen")
Dr. Conrad Schuhler (München) berichtete über die (militär-)politische Bedeutung in München stattfindenden "Sicherheitskonferenz", zu der Ende Januar/Anfang Februar jeden Jahres führende NATO-Politiker "Sicherheitspolitik" aus ihrer Sicht diskutieren. Im Mittelpunkt der bevorstehenden Konferenz 2004 werde die Frage stehen, wie die zukünftige Aufgabenverteilung zwischen den Europäern und den USA aussehen soll. In dem Zusammenhang warnte Schuhler vor Illusionen, eine militärische Stärkung Europas würde zur Absicherung des "solidaristischen" Ethos des alten Europa beitragen. Solche Vorstellungen - sie wurden u.a. von Jürgen Habermas in dem Artikel "Die Wiedergeburt Europas. Plädoyer für eine gemeinsame Außenpolitik - zunächst in Kerneuropa" vertreten - gehen an der sozialen Realität der meisten europäischen Staaten vorbei: Deren Regierungen setzen derzeit mit Brachialgewalt das von den USA kultivierte neoliberale Politikmodell durch. Und dieses Politikmodell der sozialen Spaltung und Ausgrenzung im Inneren und auch gegenüber der Dritten Welt bedarf einer starken militärischen Komponente. Daher ist es nur folgerichtig, dass sich die Friedensbewegung schon seit Jahren der Münchner Sicherheitskonferenz annimmt und sie mit Protest und Gegenveranstaltungen begleitet. (Mehr dazu:
"Die Münchner Sicherheitskonferenz")
Als weiterer prominenter Redner sprach der langjährige Diplomat Hans von Sponeck (Genf), der früher das UN-Programm "Öl für Lebensmittel" geleitet hat und sowohl gegen das unmenschliche Embargo als auch gegen den Irakkrieg seine warnende Stimme erhoben hat. Sein anschaulicher Bericht über die Versäumnisse und Fehler der UN-Behörden (z.B. geteilte und konkurrierende Zuständigkeiten) und über die systematischen Behinderungen seiner Arbeit durch bestimmte ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats zeigte auf, dass es Alternativen zum langjährigen Irak-Embargo und zum Irakkrieg gegeben hätte. In einer Arbeitsgruppe, die sich mit dem weltweiten Tribunalsprozess befasste, und auf dem Abschlusspodium (Angelika Claußen, IPPNW, Thomas Roithner, ÖSFK Wien, Werner Ruf, Kassel) wurde betont, dass sowohl die wissenschaftliche Expertise als auch die Aufklärungsarbeit der Friedensbewegung verstärkt werden müsse, um der mit dem Irakkrieg eingeleitete Demontage des Völkerrechts Einhalt zu gebieten.
Die vielen Themen, die sonst noch auf dem Kongress behandelt wurde, können hier selbstverständlich nicht dargestellt werden. Neben den Plenarveranstaltungen gab es noch 18 Foren, Arbeitsgruppen und Workshops. Alle Referate sollen in der Publikationsreihe "Kasseler Schriften zur Friedenspolitik" veröffentlicht werden.
Der Bundesausschuss Friedensratschlag hatte für den Kongress eine Erklärung vorbereitet und nach intensiver Beratung in einer Redaktionsgruppe am Ende den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit auf den Weg gegeben (siehe die Erklärung im Wortlaut:
"Es ist höchste Zeit zur Umkehr"). Darin werden fünf vordringliche Aufgaben der Friedensbewegung formuliert:
- Der Irakkrieg soll in Form dezentraler Hearings und anderer Veranstaltungen mit Experten, Wissenschaftlern und Augenzeugen aufgearbeitet werden. Münden sollen diese Aufklärungs- und Ermittlungsaktivitäten in ein Internationales Kriegs-Tribunal.
- Die Friedensbewegung soll sich noch stärker als in der Vergangenheit mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt beschäftigen. Mit der am 1. Dezember veröffentlichten "Genfer Initiative" liegt eine neue interessante Anregung von Nicht-Regierungsseite vor, die dem Friedensprozess neue Impulse verleihen und der Gewaltspirale ein Ende bereiten könnte.
- Die Entwicklung der Europäischen Union von einer Wirtschaftsgemeinschaft in ein Militärbündnis muss Einhalt geboten werden. Dies impliziert die Ablehnung der EU-Verfassung in der vorliegenden Form. Die Friedensbewegung wird sich am 9. Mai 2004 an den europaweiten Protesten anlässlich des EU-Gipfels in Rom beteiligen. Die EU-Kritik schließt den Widerstand gegen die weitere Umwandlung der Bundeswehr in eine Interventionsarmee ein.
- Mit dem Beschluss des US-Kongresses, der Regierung Geld zur Verfügung zu stellen, um die Entwicklung sog. "Mini-Nukes" voranzutreiben, droht ein atomarer Rüstungswettlauf. Die Friedensbewegung wird bestehende internationale Kampagnen, z.B. die des weltweiten Hiroshima-Bündnisses von Bürgermeistern unterstützen, die Welt ganz von Atomwaffen zu befreien.
- Die Friedensbewegung wird sich noch stärker in die Bewegungen gegen Sozialabbau und neoliberale Globalisierung einbringen. Partner auf Seiten der Gewerkschaften und anderer sozialer Bewegungen (z.B. Attac) sind zahlreich vorhanden. Die Unterschriftenkampagne "Abrüstung statt Sozialabbau" wird weitergeführt - zunächst bis zum 20. März 2004.
Eine künstlerisch anspruchsvolle satirisch-musikalische Revue am Samstagabend (Titel: "Geben Sie acht, bevor`s kein anderer tut") war von bekannten Schauspielern und Musikern extra für das kleine Jubiläum (es war der 10. "Ratschlag") zusammengestellt und gekonnt in Szene gesetzt worden. Auch damit setzte der "Ratschlag" eine gute Tradition in der Friedensbewegung fort, die schon immer nach künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten für ihr politisches und kulturelles Anliegen gesucht hat. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass das Programm - es enthielt jede Menge düsterer Texte, Gedichte und Songs von Brecht, Kraus, Jandl, Kreisler, Valentin u.a. - von manchen Teilnehmern als zu "schwer" empfunden wurde. Nach einem achtstündigen kopfbetonten Tag dürfe man sich auch einmal entspannt zurücklehnen dürfen, meinten sie. Die "Entspannung" kam dann etwas später, als der noch nicht gänzlich ermüdete Teil des Kongresses in den Gastronomieräumen des Gewerkschaftshauses in kleinen Gruppen bis tief in die Nacht weiter diskutierte. Doch da ging es vermutlich nicht nur um Friedenspolitisches. Kassel ist für viele ja auch ein Wiedersehens-Ereignis.
Ich kann mich an keinen "Ratschlag" erinnern, der auch am zweiten Tag, und zwar von Beginn an (9 Uhr!), so komplett besetzt war. Und das bis zum Schluss! Sicherlich auch dies Ausdruck der in den Jahren gewachsenen Verbundenheit vieler Friedensaktivistinnen und -aktivisten von überallher mit dem "Kasseler Prozess" (Willi van Ooyen). Die Teilnehmer kamen zum Teil von sehr weit her: Aus Österreich (Linz, Graz, Salzburg und Wien) ein Dutzend Friedensaktivisten, eine Frau aus Basel und aus Athen Iraklis Tsadaridis, der die deutschen Teilnehmer zur Olympiade des Friedens im nächsten Frühjahr/Sommer nach Griechenland einlud. Die gute Mischung aus seminaristischer Arbeit mit exzellenten Friedenswissenschaftlern und praxisorientierten Diskussionen um friedenspolitische Strategien und Schwerpunkte soll auch künftig das Markenzeichen der Kasseler Ratschläge sein. Das gibt es sonst nirgends.
Peter Strutynski, Kassel
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