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Die ägyptische Arbeiterklasse: Das Rückgrat der Revolution

Von Ivesa Lübben *


Manche Ägypter meinen, die ägyptische Revolution hätte eigentlich in Suez angefangen: Hier gingen die ersten Gebäude der Staatsicherheit in Flammen auf. Hier gab es die ersten Märtyrer der Revolution. Suez hat uns den Mut zum Durchhalten gegeben, sagten später viele Revolutionäre auf dem Tahrir. Am 7. März 2012 stand das Leben in der Arbeiterstadt wieder still. Gleich in zwölf Fabriken hatten Arbeiter zum Streik aufgerufen: Der Hafenbetrieb kam zum erliegen. Am Ölterminal wurde die Ölpipeline unterbrochen. In den Stahlwerken, der Nitratfabrik, den bekannten Kleopatra-Fliesen und der Düngemittelfabrik standen die Räder still. Die Arbeiter und Angestellten der Abwasserwerke errichten Straßensperren, so dass der Verkehr zum Erliegen kam. Die Arbeiter der Suezkanalbehörden streikten gegen die Anwesenheit von Marineeinheiten auf dem Werksgelände, die die Arbeiter in Schach halten sollen. Arbeiter in den anderen Häfen des Roten Meeres – Safaga, Adabiya und Hurgada – solidarisierten sich.

Kaum ein Tag vergeht heute in Ägypten, ohne dass nicht irgendwo irgendjemand streikt: die Bergarbeiter in den Goldminen in der östlichen Wüste, Krankenwagenfahrer in Damanhur oder Fluglotsen des Cairo International Airports. Gerichtsangestellte, die höhere Zulagen fordern, sperren mit Eisenketten die Eingänge zu den Gerichten. In Oberägypten bringen Busfahrer den gesamten öffentlichen Transportsektor zum Erliegen. In Marsa Matruh sperren jugendliche Arbeitslose die Zugänge zu den Ölfeldern, und fordern Arbeitsplätze. Lehrer in Mahalla al-Kubra streiken gegen die Korruption in der lokalen Schulverwaltung.[1] Die Forderungen sind überall die gleichen:
  • Höhere Löhne und die Einführung eines Mindestlohns von 1200 LE;
  • Das Verbot der willkürlichen Entlassung durch Betriebsleitungen;
  • Säuberung der Betriebsverwaltungen von korrupten Vertretern des alten Regimes
  • Festeinstellung der Zeit- und Saisonarbeiter;
  • Wiederverstaatlichung der Betriebe, die unter Mubarak meist zu Preisen weit unter ihrem Wert privatisiert wurden. Inzwischen haben Verwaltungsgerichte in sechs Fällen die Verkaufsverträge für ungültig erklärt. Die Regierung weigert sich allerdings, sie wieder in Staatseigentum zurückzuführen. Dies schade dem Investitionsklima.
Vor der Revolution (1): Die Streiks von Mahalla

Die ägyptische Arbeiterbewegung hat entscheidend zur Schaffung der Voraussetzungen der Revolution beigetragen.

Vier Jahre vor der Revolution auf dem Tahrir begann in Mahalla al-Kubra, dem Zentrum der ägyptischen Textilindustrie, die größte Streikwelle in der Geschichte des Landes. In der Nacht vom 8. Zum 9. Dezember 2006 besetzen Arbeiter die Ghazl wal-Nasej Mahalla, die Spinn- und Weberei, die mit 30 000 Arbeitern größte Fabrik Ägyptens. Sie protestierten gegen die Streichung von vertraglich zugesicherten Zulagen. Die Lohnsenkungen sollten die Privatisierung der Fabrikanlage vorbereiten, um sie für mögliche Käufer attraktiver zu machen, vermuteten sie. Die Arbeiter forderten auch die Absetzung des Betriebskomitees der Staatsgewerkschaft, die den Streikenden die Unterstützung verweigerte und die Anerkennung des unabhängigen Streikkomitees als Interessenvertretungsorgan der Arbeiter. Erst zwei Monate zuvor hatte die Regierung massiv die Gewerkschaftswahlen gefälscht. 30 000 unliebsame Kandidaten – Linke, Unabhängige und Muslimbrüder – waren von den Kandidatenlisten gestrichen worden.

Die Streiks verbreiteten sich über das ganze Land.[2] Auch wenn die Arbeiter soziale Forderungen aufstellten, hatten die Streiks auch eine politische Dimension: Sie untergruben erstens die Autorität der staatstragenden Egyptian Trade Union Federation (ETUF), einer der wichtigsten Stütze des Mubarak-Regimes. Sie haben zweitens den Gedanken, dass Streik- und Demonstrationsrecht legitime Grundrechte sind, unter den einfachen Menschen verankert. Sie haben drittens die Mauer der Angst durchbrochen. Und sie haben viertens die neoliberale Wirtschaftspolitik des Regimes infrage gestellt. Die Streiks in Mahalla wurden zum Kern einer neuen Arbeiterbewegung. Überall in Ägypten entstanden Arbeiterkomitees, die sich zum lajnat al-tansiqiyya lil-harakat al-`umaliyya (Koordinationskomitee der Arbeiterbewegung) zusammenschlossen.

Vor der Revolution (2): Die Gewerkschaft der Grundsteuerangestellten

Im Dezember 2007 streikten die Angestellten der Grundsteuerämter, die den Lokalverwaltungen unterstanden. Sie forderten die Wiedereingliederung in das Finanzministerium, die Gleichstellung mit den besser bezahlten anderen Steuerämtern und höhere Löhne. Dieser Streik hatte eine neue Qualität: Es war die erste landesweite Widerstandsorganisation. „Alle waren erstaunt: Wie konnte es gelingen, dass alle Angestellten im Land zur selben Zeit streikten und dann alle nach Kairo vor das Parlament zogen. Wir waren durchschnittlich 15.000. Wir blieben 11 Tage“, erklärt Kamal Abu Eita.[3] Der Streik hatte Erfolg: Der Finanzminister versprach die Erhöhung der Zulagen um 300%, ein Jahr später wurden die Löhne verdoppelt.

Aus den Streikkomitees ging am 21. April 2009 die erste landesweit organisierte unabhängige Gewerkschaft, die General Union of Real Estate Tax Authority (RETA) hervor, der trotz Schikanen durch Behörden und Staatssicherheit 40 000 der insgesamt 47 000 Steuerangestellten beitraten. Das Arbeitsministerium legte keinen Widerspruch gegen die Gründung ein, die damit rechtskräftig wurde. Kamal Abu Eita wurde ihr erster Vorsitzender. Dem Beispiel der Grundsteuergewerkschaft folgten andere: die technischen Angestellten der Krankenhäuser, Lehrer und Bezieher staatlicher Renten.

Vor der Revolution (3): Die Sit-Ins

2010 verlagerten immer mehr Arbeiter und Angestellte aus der Provinz ihre Proteste in Form von tage- manchmal wochenlangen Sit-Ins in das Regierungsviertel Kairos. Die längste dieser Aktionen war der Streik der Behinderten, die 12 Wochen gegenüber dem Parlamentsgebäude kampierten. Sie forderten eine Behindertenquote bei Einstellungen und behindertengerechten Wohnraum.

Die Sitzstreiks rückten das Elend der Arbeiter aus den Provinzen in den Fokus der Öffentlichkeit. Jeder, der etwas bei einer staatlichen Behörde zu tun hatte, musste an den Sitzstreikenden vorbeigehen. Da waren Arbeiter der Amonsito-Spinnerei, dessen ausländischer Besitzer sich mit der Pensionskasse aus dem Staub gemacht hatte. Da waren die Arbeiter der kürzlich privatisierten Nuberiya Company for Agricultural Equipment, deren neuer Besitzer seit Monaten keine Löhne mehr ausgezahlt hatte oder die Angestellten der landesweiten staatlichen Informationszentren, die nicht mehr als 100 LE im Monat verdienten. Vor dem Landwirtschaftsministerium kampierten Menschen, deren Siedlung abgerissen wurde, weil der Landwirtschaftsminister den Boden an Tourismus-Investoren verkauft hatte. Die soziale Situation hatte sich so dramatisiert, dass sich 2010 52 Arbeiter das Leben nahmen, weil sie nicht mehr für den Lebensunterhalt ihrer Familie aufkommen konnten.[4]

Vor der Revolution (4): Das Verwaltungsgerichtsurteil zu Mindestlöhnen

Offiziell beträgt die Arbeitslosigkeit 11 %, aber inoffizielle Zahlen sprechen von mindesten 23% - als Resultat der Fabrikschließungen infolge von Privatisierungen,[5] Vertreibung vom Land usw. Hausangestellte, Saisonarbeiter, Arbeiter im informellen Sektor arbeiten ohne Arbeitsverträge und Sozialversicherung mit Arbeitszeiten von bis zu 60 Stunden die Woche. Das Durchschnittseinkommen liegt bei 1700 LE [210 Euro], aber 43% der Ägypter leben unter dem Existenzminimum.[6]

Die Arbeiter in Mahalla hatten erstmals auf einer Demonstration am 17. Februar 2008 die Einführung eines monatlichen nationalen Mindestlohnes von 1200 gefordert und sich damit zum Fürsprecher der gesamten ägyptischen Arbeiterklasse gemacht. Der bis dahin gültige Mindestlohn von 35 LE [4,50 Euro] war seit 1984 nicht mehr angepasst worden.

In einem aufsehenerregenden Urteil durch das Oberste Verwaltungsgericht vom 20. April 2010 wurde der Präsident, der Premierminister und der Nationale Rat für Löhne und Gehälter verpflichtet, Mindestlöhne festzulegen, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Das Verfahren war von dem Arbeitsrechtler Khaled Ali, dem Vorsitzenden des Center for Economic and Social Rights angestrengt worden und ist ein Beispiel für die wachsende konstruktive Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Arbeiterbewegung im Vorfeld der Revolution.

Die Regierung ignorierte das Urteil. Ein Eilantrag der oppositionellen Fraktion der Muslimbrüder für die Festlegung der Mindestlöhne auf 1200 LE wurde abgelehnt.

Die neue Gewerkschaftbewegung

Die Forderungen der Arbeiterbewegung Aish-hurriya-karama-adala ijtimaiyya (Brot, Freiheit, Würde, soziale Gerechtigkeit) wurden in den Forderungskatalog der Jugend, die die Demonstrationen vorbereitete mit aufgenommen.

Die Grundsteuerangestellten hatten bereits am 24. Januar zu einem Streik aufgerufen, es folgte eine erneute breite Streikwelle. Die Regierung hatte vorsorglich die Arbeiter der staatlichen Betriebe in den unbefristeten Urlaub geschickt, um eine Solidarisierung der Betriebe mit den Demonstranten zu verhindern – was allerdings misslang. Deswegen beschloss die Regierung die Fabriken am 5. Februar wieder zu öffnen. Sie versprach 15% Lohnerhöhung und die Umwandlung aller Zeitverträge in unbefristete Arbeitsverträge. Doch die Aktionen der Arbeiter wurden in den Fabriken und den strategischen Betrieben unbeirrt fortgesetzt: Die Bahn und Metro, Elektrizitäts- und Wasserwerke, die Post, Telecom und Lokalverwaltungen waren lahmgelegt. Gestreikt wurde in Krankenhäusern, in der Öl- und Erdgasindustrie, der Suezkanal-Verwaltung, den Rüstungsbetrieben und der Pharmazeutischen Industrie.

Am 31. Januar gründeten Vertreter der RETA, der Gewerkschaft der Rentenbezieher, der Gewerkschaft des technischen Krankenhauspersonals und der Unabhängigen Lehrergewerkschaft auf dem Tahrir den ersten unabhängigen Gewerkschaftsverband: die Egyptian Federation of Independant Trade Unions (EFITU). Die Gründung der EFITU wurde von der International Trade Union Confederation (ITUC) begrüßt, die ihr inzwischen Beobachter-Status zugesprochen hat.

Nach dem Rücktritt Mubaraks bildeten sich im ganzen Land neue unabhängige Gewerkschaften: Berufsgruppenverbände, lokal gebundene Gewerkschaftsinitiativen oder Betriebsgewerkschaften. Im August bildete die EFITU einen Verwaltungsrat und führte schließlich im Januar 2012 ihren ersten Gewerkschaftskongress durch. Heute gehören ihr nach eigenen Angaben 200 unabhängige Gewerkschaften mit ca. 2 Mio. Mitgliedern aus ganz Ägypten an.

Nicht alle unabhängigen Gewerkschaften traten der EFITU bei. Und nicht alle sind Organisationen von Lohnabhängigen. Manche haben eher den Charakter von Berufsgenossenschaften – das arabische Wort niqaba bedeutet beides: Gewerkschaft und Berufsverband. Es gibt z.B. neue Handwerkergewerkschaften, Gewerkschaften von Hausangestellten und Straßenverkäufern und Bauerngewerkschaften, von denen gleich fünf parallel entstanden - Folge der Konkurrenz politischer Kräfte und von NGOs, die Gewerkschaften für ihre „Klientel“ initiierten – manchmal in Konkurrenz zu bereits vorhandenen Gewerkschaften.

Auch die Muslimbrüder gründeten mehrere unabhängige Gewerkschaften, eine Bauern- und Fischergewerkschaft und eine Gewerkschaft der du`a (islamische Prediger und Religionslehrer). Eigentlich hat die Muslimbruderschaft ihren größten Rückhalt unter der urbanen Mittelschicht. Entsprechend groß ist ihr Einfluss in den mittelständischen Berufsverbänden der Apotheker, Ärzte, Ingenieure oder Rechtsanwälte. Aber seit einigen Jahren haben sie zunehmend Einfluss in armen Arbeitervierteln gewinnen können, vor allem durch ihre vielfältigen Sozialaktivitäten.

Dies führte zu einer Annäherung zwischen Muslimbruderschaft und linken Gewerkschaftern vor allem im Kontext des lajnat al-tansiqiya. Diese Kooperation setzte sich zunächst nach der Revolution auf drei Ebenen fort: Erstens bei der Kampagne für die Auflösung der ehemals staatstragenden Egytian Trade Union Federation (ETUF), zweitens bei der Forderung nach Gewerkschaftsfreiheit und drittens bei der Forderung nach Einführung von Mindestlöhnen.

Ahmed al-Bur`ei, der erste Arbeitsminister nach der Revolution, als Rechtsanwalt der RETA selber ein Sympathisant der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung, erarbeitete gemeinsam mit Arbeiteraktivisten der verschiedenen politischen Lager ein Gewerkschaftsgesetz, das den Standards der International Labour Organisation (ILO) entsprach. Die ILO hatte Ägypten 2009 auf die schwarze Liste der 25 Länder mit den schwerwiegendsten Verletzungen von Gewerkschafts- und Arbeiterrechten gesetzt. Am 1. Juni 2011 setzte die Regierung die Mindestlöhne auf 700 LE hoch. Und am 4. August löste Bur`ei den Vorstand der Staatsgewerkschaft auf und setzte einen kommissarischen Vorstand ein, der die Geschäfte der Gewerkschaft bis zu den Neuwahlen, die in spätestens 6 Monaten hätten stattfinden sollen (also bis 4. Februar), verwalten sollte. Der kommissarische Vorstand bestand jeweils zu einem Drittel aus Linken, Muslimbrüdern und sog. Unabhängigen, die tatsächlich jedoch mit der Gewerkschaftsbürokratie des alten Regimes verbunden waren. Juristisch gründete sich der Beschluss auf mehrere Verwaltungsgerichtsurteile, die die Gewerkschaftswahlen aufgrund der Wahlfälschungen für nichtig erklärt hatten.

Die Phase der Restauration

Aber weder fanden Gewerkschaftswahlen statt, noch wurden die versprochenen Mindestlöhne eingeführt. Die Einführung von Höchstlöhnen wurde nach Interventionen von Managern und hohen Beamten schnell wieder ad acta gelegt. Auf kaum einem Gebiet tritt die Dialektik zwischen revolutionärer Dynamik und Restauration so zu Tage wie in der Frage der sozialen und politischen Arbeiterrechte.

Schon drei Tage nach seiner Machtübernahme warnte der Supreme Council of Armed Forces (SCAF) vor weiteren Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen, die die Produktion und die staatlichen Dienstleistungen behindern würden. Die Arbeiter wurden aufgefordert, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Sie sollten dem Militärrat und der Übergangsregierung eine Frist einräumen um die Probleme zu lösen. Gleichzeitig griffen Armeeeinheiten und Militärpolizei streikende Arbeiter der Suezkanalgesellschaft in Ismailiya an. Auch gegen Bauern in der Provinz Beheira, die gegen Landenteignungen protestieren, ging das Militär unter dem Vorwand sie seinen baltagiyya (kriminelle Gangs) vor.

Am 23. März 2011 verabschiedete der SCAF ein Dekret mit Gesetzeskraft, das Streiks, Sit-Ins und Demonstrationen verbietet, die die Arbeit öffentlicher oder privater Einrichtungen behindern. Zuwiderhandlungen werden mit einem Jahr Gefängnis und Geldstrafen von bis zu ½ Mio. LE [ca. 60 000 EURO] LE bestraft.

Auch der Tonfall gegenüber der Arbeiterbewegung änderte sich. Streikforderungen werden in der öffentlichen Propaganda als masalih fi‘ awiyya (Partialinteressen) diffamiert. Mit diesem Totschlagargument, das auch von bürgerlichen Kräften wie der Muslimbruderschaft und Teilen des liberalen Lagers übernommen wurde, werden soziale Forderungen aus dem revolutionären Konsens gelöst und die Mehrheitsmeinung gegen die Arbeiterbewegung mobilisiert. Seit dem Machtantritt wurden mehr als 12 000 Kritiker des Regimes vor Militärgerichte gestellt - darunter auch viele Arbeiter, so wie die fünf Beschäftigten in der staatlichen Ölindustrie, die im Juni vor dem Ölministerium einen Sitzstreik abhielten, weil ihre Zeitverträge entgegen der Versprechungen des Ministeriums nicht in Dauerarbeitsverträge umgewandelt wurden. Sie wurden am 29.6. 2011 vor einem Militärgericht zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Dass der Staat aufgrund der schlechten Wirtschaftslage nicht alle sozialen Forderungen auf einmal erfüllen kann, sei ja vielleicht sogar zu verstehen, schreibt Nadine Abdallah in einem Kommentar zu dem Anti-Streik-Gesetz. Es sei jedoch völlig unverständlich, dass kein Politiker den Leuten systematisch und transparent die Lage erklärt hätte und welche Forderungen man wie und wann erfüllen könne.[7] Die Forderungen der Arbeiter als Partialforderungen zu bezeichnen, sei absurd, heißt es auch in einer Stellungnahme des Egyptian Center for Economic and Social Rights (ECSER), da es einen landesweiten Konsens über diese Forderungen gäbe.

Reformvorhaben wurden in den letzten Monaten systematisch verschleppt. So hat der SCAF sich ohne Begründung geweigert, das im letzten Sommer von der Regierung abgesegnete Gesetz über die Gewerkschaftsfreiheit zu verabschieden. Das Militär selbst kontrolliert ein Drittel der ägyptischen Wirtschaft (u.a. Rüstungsfirmen, Tankstellenketten, Supermärkte). Auch in der Staatsgewerkschaft haben sich die alten Seilschaften zum Teil restaurieren können. Ahmed Abdaldhaher, der geschäftsführende Vorsitzende der ETUF war einst Sekretär für Arbeiterangelegenheiten der inzwischen aufgelösten National Democratic Party (NDP) in Gizeh. Er agiert inzwischen wie der offizielle Führer der ägyptischen Gewerkschaften und nicht wie ein kommissarisch eingesetzter Beamter. Durch eine illegale Vorstandswahl ließ er sich in seinem Amt bestätigen und holte noch alte Parteifreunde in den Vorstand nach, so dass Vertreter des alten Regimes inzwischen wieder die Mehrheit im ETUF-Vorstand stellen. Ihm kam gelegen, dass Ahmed al-Bur`ei in die im November neugebildete Regierung Ganzouri nicht wieder als Arbeitsminister berufen wurde.

Die Methoden Abdeldhahers unterscheiden sich in nichts von denen der Mubarak-Ära. Unabhängige Vertreter hat er aus dem Vorstand teils unter Einsatz physischer Gewalt entfernt. Er will auch als ETUF-Vertreter an der verfassungsgebenden Versammlung beteiligt werden. Den unabhängigen Gewerkschaften, die seiner Meinung nach illegal sind, spricht er dieses Recht ab.

Das Gewerkschaftsgesetz

Die Zukunft der Gewerkschaftsbewegung wird auch von dem neuen Gewerkschaftsgesetz abhängen, das in den nächsten Monaten im neugewählten Parlament behandelt werden soll. Inzwischen liegen drei Entwürfe vor: Der ursprüngliche Entwurf von Ahmed al-Bur`ei, der weitgehende Gewerkschaftsfreiheit und Gewerkschaftspluralismus vorsieht, ein Entwurf der ETUF, der das alte Monopol der Staatsgewerkschaften wieder herstellen will und ein Entwurf, den das Arbeiterbüro der Muslimbruderschaft erarbeitet hat.

Hatte die Muslimbruderschaft auf der letzten 1.Mai Demonstration die Auflösung des staatlichen Gewerkschaftsverbandes gefordert, glaubt sie nach den Erfolgen bei den Parlamentswahlen, dass sie auch im Gewerkschaftsverband die Wahlen gewinnen und damit den Gewerkschaftsverband übernehmen kann. Zurzeit vollzieht sie einen Spagat zwischen dem Bekenntnis zur Gewerkschaftsfreiheit und dem Festhalten am Prinzip der Einheitsgewerkschaft. Der Entwurf der Muslimbrüder sieht einen zentralen Dachverband vor, dem alle Gewerkschaften – auch die neuen bislang unabhängigen Gewerkschaften – beitreten sollen. Auf der Ebenen der Branchengewerkschaften könnten zwei Gewerkschaften miteinander konkurrieren, während sie auf Betriebsebene wiederum nur eine Gewerkschaft anerkennen wollen. Dabei hat aufgrund der größeren Institutionalisierung die ETUF einen Vorteil, da die sich die unabhängigen Gewerkschaften erst in der Aufbauphase befinden. Die wenigstens verfügen über Büros oder erfahrenes Verwaltungspersonal. Sie haben keine Gewerkschaftskassen und können – da offiziell nicht anerkannt – keine Bankkonten eröffnen.

Das Verhältnis der Gewerkschafter der Muslimbrüder zu den linken Gewerkschaftsführern hat sich seitdem abgekühlt. Die unabhängigen Gewerkschafter haben gegen den Entwurf protestiert und gedroht, dass mit einem solchen Gewerkschaftsgesetz Ägypten wieder auf der schwarzen ILO-Liste landen könnte.

Aber es gibt noch ein anderes Problem, das sich daran zeigt, dass sich gerade in den Hochburgen der Arbeiterbewegung wie in der Textilfabrik in Mahalla al-Kubra oder den Stahlwerken in Helwan bislang keine unabhängigen Gewerkschaften konstituiert haben. Die ETUF verwaltet nämlich staatliche Pensionsfonds, aus dem die Textilarbeiter in Mahalla beim Eintritt in das Rentenalter eine Ablösesumme von 50 000 LE, die Stahlarbeiter in Helwan sogar 130 000 LE erhalten. Die Auszahlung dieser Summe ist jedoch an die Mitgliedschaft in der ETUF gebunden. Einige der unabhängigen Gewerkschaften haben deswegen Mitgliedern eine Doppelmitgliedschaft freigestellt. Die Frage ist nur, ob die ETUF dies in Zukunft auch tolerieren wird.

Neben dem unabhängigen Gewerkschaftsverband (EFITU) unter Kamal Abu Eita ist inzwischen, initiiert von Vertretern des ehemaligen lajnat al-tansiqqiya und des Center for Trade Union and Workers Services (CTUWS), ein zweites Netzwerk unabhängiger Gewerkschaften entstanden: der Egyptian Democratic Labour Congress (EDLC). Auf dem zweiten Kongress im Dezember waren Vertreter von 260 unabhängigen Gewerkschaften anwesend. Die Initiatoren wollen ein starkes Gegengewicht zu den staatstragenden Gewerkschaften schaffen. Ihnen schwebt eine Föderation aller unabhängigen Gewerkschaften vor, von denen es bislang 600 geben soll. Deswegen verstehen sie sich auch nicht als Konkurrent zur EFITU, sondern wollen die Türen zu einer Kooperation offen lassen.

Schlussbetrachtung

Zum Jahrestag der Revolution hatten die revolutionären Jugendorganisationen zum Generalstreik im Lande aufgerufen, der jedoch außer an den Universitäten auf keine Resonanz stieß. An der mangelnden Aktionsbereitschaft der Arbeiter kann es – wie wir gesehen haben - nicht gelegen haben, sondern eher mit den Frustrationen vieler Arbeiter über die Prioritäten.

Nach dem Amtsabtritt Mubaraks hätten die Arbeiter einem Szenario gegenüber gestanden, das sich immer wieder in der nationalen Geschichte Ägyptens wiederholt hätte, schreibt der Arbeiteraktivist Saber Barakat: Nachdem einige politische Kräfte ihre Ziele erfüllt sahen, hätten sie die Arbeiter, ihre Rechte und ihre Forderungen vergessen.

Auch die revolutionäre urbane Jugendbewegung hat sich in den letzten Monaten auf die Forderung nach politischen Strukturveränderungen beschränkt und die soziale Frage und die Arbeitskämpfe nur noch am Rande wahrgenommen. Dabei ist die Arbeiterbewegung das Rückgrat der Revolution. Keine politische Bewegung hat in den letzten Monaten soviel Anstrengungen zur landesweiten Selbstorganisation unternommen wie die Arbeiterbewegung. Es wäre wünschenswert für die Revolution, wenn die Einheit auf dem Tahrir zwischen Arbeiter- und politischer Jugendbewegung wieder hergestellt würde. Die Revolution kann erst dann als Erfolg gefeiert werden, wenn auch die soziale Frage gelöst ist.

Fußnoten
  1. Dies sind nur einige wenige Beispiele des Februars 2012, siehe eine ausführliche Liste unter den Bookmarks von Hossam al-Hamalawy: http://groups.diigo.com/group/egyptianworkers
  2. 2007 gab es 692 Streiks, 2008: 447, 2009: 478, 2010: 530. Vergl. Saber Barakat: Die Artbeiterklasse und die Schritte auf dem Weg zur ägyptischen Revolution (Arabisch), unveröffentlichtes Papier, S. 11
  3. Interview mit Kamal Abu Eita im Februar 2011.
  4. Saber Barakat: al-tabaqa al-`amala…, S. 12
  5. Investoren kauften Fabriken oft nur, um mit den Grundstücken spekulieren zu könne. Die Frabriken wurden abgerissen, die Arbeiter entlassen und auf den ehemaligen Fabrikgelände Shopping-Malls, Immobilien oder Touristenprojekte gebaut.
  6. Saber Barakat: Das Recht auf Arbeit in Ägypten (Arabisch), Kairo, Januar 2012, S.17ff.
  7. Nadine Abdallah:Das soziale Dossier nach der Revolution: wo ist das Gesetz der Gewerkschaftsfreiheit? (Arabisch), 21.1.2012.
* Ivesa Lübben, Politologin, Universität Marburg.


Dieser Beitrag erschien in: INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Heft Nr. 69/Frühjahr 2012, 18. Jahrg., Seiten 23-26

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