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Militär kann keine politische Lösung ersetzen

Ägyptischer Menschenrechtler: Wir haben eine Generalsherrschaft mit liberaler Fassade *


Mohamed Abdal Salam, 1986 geboren, war im März 2010 Gründungsmitglied der Bewegung »Jugend für Gerechtigkeit und Freiheit«. Er war früh an der Organisation von Protesten beteiligt, die zum Sturz von Präsident Hosni Mubarak geführt haben. Seit Mai 2012 arbeitet er bei der ägyptischen Menschenrechtsorganisation »Association for Freedom of Thought and Expression«. Mit ihm sprach in Kairo Martin Hoffmann.


Mohammed, Sie und Ihre Organisation haben die Tamarod-Kampagne gegen den nun gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi unterstützt. danach folgte eine Welle der Gewalt. War Ihre Entscheidung richtig?

Ja, denn die Mittel der Kampagne waren friedliche Proteste, und ihr Ziel waren Neuwahlen.

Am 30. Juni, dem Jahrestag der Amtseinführung Mursis, waren auch Bilder seines 2011 gestürzten Vorgängers Hosni Mubarak zu sehen. Hat die Kampagne nicht auch Anhänger von dessen Regime der Macht wieder näher gebracht?

Natürlich. Das alte Regime arbeitet gegen die Muslimbrüder und unterstützte Tamarod, um Mursi zu stürzen. Mit solidarischer Haltung gegenüber der Revolution hat das nichts zu tun.

Haben sie denn eine Chance?

Ja, einige von ihnen sind jetzt in der Übergangsregierung. Leute wie Außenminister Nabil Fahmy zum Beispiel oder Adel Labib, der Minister für regionale Entwicklung. Und sie haben eine Chance, weil die verfehlte und unkluge Politik der Muslimbrüder die Bevölkerung jetzt fast jede Alternative akzeptieren lässt. Und eine dieser Alternativen ist die Rückkehr des tiefen Staates, den wir jetzt am Werk sehen.

Hat Tamarod es versäumt, sich klar von den Anhängern des Mubarak-Regimes abzugrenzen?

Sie haben nicht darauf reagiert, als sich auch dessen Anhänger der Bewegung angeschlossen haben. Das war ein Fehler. Nicht nur die Muslimbrüder sind Gegner der Revolution, sondern auch die Felul, die Anhänger Mubaraks, und das Militär.

Glauben Sie, die Militärherrschaft könnte wiederkommen?

Sie ist schon da, sie ist Realität. Nur leicht verkleidet mit einer Fassade aus liberalen Politikern. Es ist dem Militär leicht gefallen, nach dem Sturz Mursis die Macht zu übernehmen, da die Parteien und die revolutionären Bewegungen nicht das Vertrauen des Volkes haben.

Hat die Tamarod-Kampagne heute überhaupt noch Einfluss?

Oh ja! Sie hat sich hinter den Aufruf des Militärs gestellt, es »im Kampf gegen des Terrorismus« zu unterstützen. Eine falsche, eine fatale Entscheidung. Womöglich nimmt sich das Militär uns vor, wenn es mit den Muslimbrüdern fertig sind.

Wieso geht die Armee so rigoros vor?

Die Armee braucht Gewalt, denn ohne Gewalt würde ihre Bedeutung schwinden. Sie hat derzeit kein plausibles Argument, das politische Leben zu beherrschen. Also benutzt sie das alte Argument von der »terroristischen Bedrohung«.

Wie, glauben Sie, werden die Muslimbrüder reagieren?

Zunächst einmal kommt der Führung der Muslimbruderschaft die Opferrolle nicht ungelegen. Sie sagen: »Wir wurden aus dem Amt geputscht, wir wurden ins Gefängnis geworfen, wir wurden getötet.« Aber auch von Teilen der Muslimbrüder geht Gewalt aus. Damit müssen sie aufhören, sonst könnte die Bewegung ein trauriges Ende nehmen.

Der ägyptische Autor Alaa al-Aswani sagte kürzlich, die jüngsten Ereignisse hätten gezeigt, dass der politische Islam tot sei in Ägypten. Stimmen Sie zu?

Das ist sehr fraglich. Die Muslimbrüder könnten wieder eine Chance bekommen, wenn das Militär und die aktuelle politische Riege genauso wenig für die Armen machen wie ihre Vorgänger.

Was halten Sie davon, wie der Staat jetzt gegen die Bewegung durchgreift?

Es handelt sich um ein militärisches Vorgehen und nicht um eine politische Lösung. Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Und am Ende könnte die Bewegung daraus gestärkt hervorgehen.

Glauben Sie, die Muslimbrüder lassen sich wieder in einen politischen Prozess einbinden?

Das ist der einzige Weg. Sie haben ein Recht, hier zu leben. Doch ihre Bewegung muss sich von innen reformieren.

Wie ist das zu erreichen?

Vor allem müssen wir mit der Jugend der Muslimbrüder in Dialog treten.

Mit »wir« meinen Sie die linken und liberalen politischen Gruppierungen?

Alle Bürger, die eine friedliche Lösung suchen. Unser gemeinsames Interesse unserem Land gegenüber verpflichtet uns dazu.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 30. Juli 2013


Neue Kraftprobe in Kairo

Mursi-Anhänger rufen zu neuer Großdemonstration auf. EU und UNO in Sorge über weitere Entwicklung **

Anhänger des gestürzten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi haben für den heutigen Dienstag zu neuen Großprotesten aufgerufen. Geplant sei ein »Marsch der Millionen« in der Hauptstadt Kairo, teilten die Unterstützer des inhaftierten Politikers am Montag mit. Zudem waren für Montag abend (nach jW-Redaktionsschluß) Kundgebungen vor Einrichtungen der Sicherheitskräfte angekündigt, mit denen der »Märtyrer« gedacht werden sollte, die seit dem Sturz Mursis am 3. Juli ihr Leben für ihn gelassen hätten.

Die Übergangsregierung hatte den Anhängern Mursis zuvor für den Fall gewalttätiger Proteste erneut mit Härte gedroht. Sollten die Demonstranten ihr »Recht auf friedliche und verantwortungsvolle Meinungsäußerung überschreiten«, werde es »entschiedene und harte Maßnahmen« geben, erklärte der Nationale Verteidigungsrat am Sonntag. Übergangspräsident Adli Mansur übertrug seinem Regierungschef Hasem Al-Beblawi die Befugnis, dem Militär die Verhaftung von Zivilisten zu erlauben. Praktisch bedeutet das, daß Al-Beblawi dem Militär freie Hand geben kann, anstelle der Polizei Demonstranten zu verhaften. Am Samstag morgen waren bei Zusammenstößen zwischen der Polizei und protestierenden Muslimbrüdern nach Angaben des Gesundheitsministeriums 72 Menschen getötet worden.

Am Montag traf die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton zu Gesprächen in Kairo ein. Zunächst kam sie mit dem ägyptischen Außenminister Nabil Fahmi zusammen. Auch Gespräche mit der Muslimbruderschaft waren geplant. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon drückte in einem Gespräch mit Übergangsvizepräsident Mohammed ElBaradei seine »tiefe Sorge« über den Kurs des Landes aus.

Seit dem Sturz Mursis hat auch die Zahl von Angriffen islamistischer Gruppen auf der Sinai-Halbinsel zugenommen. In der Nacht zum Montag attackierten sie einen Stützpunkt des Militärs in Rafah. Dabei wurde ein Mensch getötet.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 30. Juli 2013


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