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Ägyptens Linke formiert sich neu

Nationale Heilsfront vor dem Aus / Widerstand gegen Streikverbot und Lohnsperre

Von Oliver Eberhardt, Kairo *

Anfang Juli trug ein Großteil der ägyptischen Linken als Teil der Nationalen Heilsfront die Absetzung von Präsident Mohammad Mursi mit. Nun hat das Militär mit Unterstützung des Parteienbündnisses de facto die Macht übernommen – der linke Flügel ließ es geschehen und überlegt jetzt, die Heilsfront zu verlassen.

Abdel Fattah al-Sisi ist überall. Auf allen Kanälen. Und auch auf der Straße vor dem schmucklosen Gebäude im Zentrum von Kairo ist der Armeechef zu sehen, von Dutzenden Plakaten schaut Ägyptens starker Mann streng auf die Menschen, die auch an diesem Tag versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Zumindest hier in Kairo glauben viele, dass er es richten wird. Drinnen, in dem grauen Betonbau, ist man sich da nicht so sicher, denn Kairo ist nicht überall. »Es ist eine sehr bedenkliche Entwicklung«, sagt ein Funktionär der Volksallianz, die hier mit Vertretern anderer linker Parteien zu einem Krisengespräch zusammen gekommen ist.

Im Herbst vergangenen Jahres hatten sie mit liberalen Parteien die Nationale Heilsfront gebildet, um einen Gegenpol zur Politik von Präsident Mohammad Mursi zu bilden. Deshalb unterstützte man auch die Tamarud-Bewegung und die Absetzung Mursis Anfang Juli – muss nun aber feststellen, dass der liberale Flügel die Deutungshoheit über die Heilsfront übernommen und dem Land de facto eine Militärdiktatur verschafft hat.

Auch in der Übergangsregierung findet die Linke nahezu nicht statt. Neben vielen Unabhängigen, meist aus dem wirtschaftsliberalen Milieu, finden sich auf den Ministerposten vor allem Vertreter des liberalen Heilsfront-Flügels. Und was diese Regierung beschließt, ist für die Linke schwer zu schlucken: Nicht nur hat die Regierung dem Militär weitgehende Befugnisse übertragen, nach eigenem Ermessen Proteste niederzuschlagen. Per Dekret verfügte Übergangspräsident Adly Mansur auch, dass für ein Jahr keine Arbeitskämpfe stattfinden sollen; Lohnerhöhungen wurden für diese Zeit ebenfalls ausgeschlossen. Und das, obwohl die exportierende Industrie prächtige Gewinne einfährt, während die gestiegenen Importpreise das Leben für viele Arbeiter unerschwinglich machen.

Deshalb denken die Linken nun darüber nach, die Heilsfront zu verlassen und ein linkes Parteienbündnis zu gründen. »Revolution hin oder her«, sagt Mervat Talawi, Generalsekretär der Sozialdemokraten, »die politischen Ansichten sind doch sehr verschieden und mittlerweile auch die Meinungen darüber, was zum Schutz der Revolution notwendig ist.«

Im Grunde sei die Entscheidung gefallen, sagt ein Funktionär der Revolutionären Sozialisten, zumindest die Zeit der Heilsfront sei vorbei. Nun gehe es vor allem darum, wie man einen solchen Schritt vollzieht, ohne dass die Gegner, die man insbesondere in Übergangsregierung und Militär vermutet, behaupten können, die Parteien stellten sich gegen »die Revolution«. Denn sie wird zunehmend zum Schlagwort, das als Begründung dafür herhält, Andersdenkende zu diffamieren.

Die Medien folgen nahezu ausschließlich der Linie von Militär und Übergangsregierung. Jeder, der sich gegen diese Linie stellt, wird mit teils drastischen Kommentaren überzogen. Die Opposition hat dagegen wenig Möglichkeiten, die Öffentlichkeit zu informieren. Das Internet mag zwar bei jungen Städtern weit verbreitet sein. Aber die Kernwählerschaft der Linken – die Arbeiter – informiert sich über die analogen Medien und weiß so noch gar nicht, was ihr im Laufe der kommenden Monate droht. Denn Arbeitskampfverbot wie Lohnsperre wurden in diesen Medien bisher nicht aufgegriffen.

Und so wird an diesem Tag neben den allgemeinen Erwägungen, auch über konkrete Dinge geredet; Gespräche, die sich wohl noch einige Zeit hinziehen werden: »Wir müssen einen Weg finden, die Menschen zu informieren«, betont Talawi. Dafür müssten alle linken Parteien ihre Strukturen vor Ort bündeln. Vertreter der anderen Gruppierungen pflichten ihm bei: Zwar gebe es auch hier Differenzen, »aber im Moment gibt es Wichtigeres als den Streit um die richtige Ideologie«, sagt ein Vertreter der Sozialistischen Partei Ägyptens auch mit Blick auf befürchtete neue gewaltsame Auseinandersetzungen in Kairo.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 14. August 2013


"Stunde Null" in Kairo naht

Räumung von Lagern der Muslimbrüder beginnt

Die Polizei hat den Bewohnern der Häuser rund um das große Protestlager der Islamisten in Kairo Anweisungen für die »Stunde Null« gegeben. Die ägyptische Tageszeitung »Al-Watan« berichtete am Dienstag unter Berufung auf einen Anwohner im Stadtteil Nasr-City, die Bewohner des Viertels seien angewiesen worden, alle Eingänge zu verschließen, sobald die Polizei mit der Räumung des Lagers vor der Rabea-al-Adawija-Moschee beginne. Zudem dürfe niemand Zutritt zu den Dächern der umliegenden Mietshäuser erhalten.

Die vom Militär eingesetzte Übergangsregierung hat die Sicherheitskräfte angewiesen, das Protestlager zu räumen, in dem seit Wochen Tausende Islamisten die Wiedereinsetzung von Mohammed Mursi als Präsident fordern. Das Militär hatte den Muslimbruder Mursi am 3. Juli nach Massenprotesten abgesetzt.

Protestierende Mursi-Anhänger haben sich am Dienstag in Kairo Straßenschlachten mit Anwohnern geliefert. Die Polizei setzte Tränengas ein, um die Lager zu trennen, wie die Nachrichtenagentur AFP berichtete. Die Islamisten verwüsteten auch Geschäfte im Zentrum der Hauptstadt, womit sie die Anwohner weiter provozierten.

Noch am Montag verkündete die ägyptische Justiz, dass die Untersuchungshaft für Mursi um zwei Wochen verlängert worden sei. Als Begründung wurden die Ermittlungen zur mutmaßlichen Zusammenarbeit Mursis mit der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas bei Angriffen auf Polizisten und mehreren Gefängnisausbrüchen genannt. Daraufhin zogen hunderte Islamisten durch Kairo. Aus Furcht vor der angekündigten Räumung bezogen auf dem Rabaa-al-Adawija-Platz dutzende Vermummte Stellung auf einem Wall aus Ziegeln und Sandsäcken. Dort blieb bis zum Dienstagnachmittag ruhig.

(neues deutschland, Mittwoch, 14. August 2013)




»Jetzt geht es darum: Für oder gegen Mursi?«

Ägyptens Muslimbrüder diskutieren Fehler und bestehen auf Wiedereinsetzung des Präsidenten. Ein Gespräch mit Gehad El-Haddad **

Gehad El-Haddad ist Sprecher der ägyptischen Muslimbrüder.

Die ägyptische Regierung will die Proteste der Muslimbrüder auflösen und die Versorgung ihrer Zeltstadt blockieren lassen. Wie gehen Sie damit um?

Überleben ist unser Schicksal. Die Regierung hat uns schon einmal den Strom abgestellt, heute haben wir Generatoren.

Gibt es in der Führungsebene der Muslimbrüder Diskussionen über strategische Fehler des vergangenen Jahres?

Natürlich. Wir haben uns auf den pragmatischen politischen Prozeß gestützt und nicht auf die revolutionäre Bewegung. Wir haben den Gang durch die Institutionen gewählt, was uns von der revolutionären Bewegung auf der Straße entfernt hat. Das war ein Fehler.

Was hätten Sie statt dessen machen sollen?

Wir hätten beide Seiten in die richtige Richtung schieben sollen. Nur gemeinsam können sie sich dem alten Regime, dem tiefen Staat, entgegenstellen und ihn bezwingen. Wir haben heute erneut eine revolutionäre Bewegung auf der Straße, auf einem neuen Platz. Selbst wenn der vom Militär weggeputschte Mohammed Mursi als Präsident wieder eingesetzt werden sollte, würden wir unsere Proteste nicht lösen. Wir müssen den Präsidenten konsequent unter Druck setzen und dazu bringen, den Staat von Grund auf zu reformieren.

Aus heutiger Sicht war es eine Fehleinschätzung, daß wir dem politischen Fahrplan gefolgt sind, erst Wahlen abzuhalten und dann das Land zu stabilisieren. Jetzt geht es aber um eine andere Frage, nämlich: Bist du für oder gegen Mursi? Er ist immerhin der gewählte Präsident – egal, wie man seine Leistung im Amt beurteilt. Wir fordern jedenfalls, daß er wieder eingesetzt wird und daß die Verfassung wieder in Kraft tritt. Wer diese Posisition nicht teilt, soll nicht zu uns kommen.

Ihre Forderung klingt aber ein wenig unrealistisch ...

Während der Revolution im Jahre 2011 haben viele gesagt, es sei unrealistisch, einen Diktator wie Hosni Mubarak zu stürzen. Aber er ist dennoch gestürzt worden! Heute steht in Ägypten jeder vor der Entscheidung: Das alte Regime oder die Demokratie? Bist du für oder gegen den Militärputsch? Demokratie bedeutet, die Entscheidungen der Mehrheit zu akzeptieren.

Es gibt in Ägypten nur zwei relevante politische Akteure – das alte Regime und wir Muslimbrüder. Bevor wir keine stabilen politischen Verhältnisse haben, die es kleineren politischen Bewegungen erlauben, starke Parteien aufzubauen, wird es bei dem Kampf zwischen diesen beiden Blöcken bleiben.

Viele Oppositionelle und Revolutionäre lehnen dieses vereinfachte schwarz-weiße Bild ab. Unter Mursi haben wir immerhin dieselbe Polizeigewalt erlebt wie unter Mubarak. Verteidigungsminister Al-Sisi wurde sogar noch von Mursi ernannt.

Mursi hat die besten Leute ausgewählt, wir brauchten jemanden für diesen Posten, und es stand niemand anderes zur Verfügung. Letztlich hatte aber niemand von uns die politische Erfahrung, ein Land wie Ägypten zu führen – die Kader des alten Regimes allerdings kannten sich darin aus. In dem einen Jahr der Präsidentschaft Mursis haben wir daher vieles systematisch ausprobieren müssen.

In einem Interview mit einer ägyptischen Zeitung sagen Sie, die Armee spiele keine »politische Rolle«.

Die Armee gehört dem Staat, nicht anders herum. Sie hat also dem Oberbefehlshaber zu folgen und das ist nun mal der Präsident. Sie hat nicht das Recht auf eigene politische Positionen – aber weil sie bewaffnet ist, meint sie, sich einmischen zu dürfen. Sie wird wieder zurück in die Kasernen gehen, dorthin, wo sie hingehört.

Klingt gut, die Wirklichkeit ist aber ein wenig anders: Hat die Armee nicht unter Beweis gestellt, daß sie ohne weiteres Präsident und Regierung absetzen kann?

Wenn Millionen auf die Straße gehen, können und werden die Streitkräfte es nicht noch einmal tun. Sie müßten viele Menschen töten – wenn sie das aber tun, werden wir nicht mehr diese gewaltfreie Anti-Putsch-Bewegung haben, es wird zu einer neuen Revolution kommen. Je mehr Gewalt die Armee ausübt, desto instabiler wird das Land werden. Man schafft keine Stabilität durch Militärputsche, vor allem wenn die Menschen schon einmal die Freiheit erlebt haben.

Interview: Sofian Philip Naceur

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 14. August 2013


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