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Das ägyptische Arrangement

Von Murat Çakır *

Karim El-Gawhary, taz-Korrespondent in Ägypten, scheint von der Euphorie gepackt zu sein, die von Präsident Mursis jüngsten Entscheidungen hervorgerufen wurde. »Ein mutiger Befreiungsschlag« sei das, »wohl (das) wichtigste Ereignis seit dem Sturz Mubaraks«.

In der Tat: Bis vor kurzem hatten die ÄgypterInnen kaum zu hoffen gewagt, dass die allmächtige Generalität jemals zurückgedrängt werden kann. Nach Jahren der Diktatur ist diese Euphorie allzu verständlich.

Doch, ist es wirklich ein »Etappensieg«, ein »entscheidender Schritt für die Demokratie«, wie manche Kommentatoren meinen? Ist die Vorherrschaft der Militärs beendet und sind »die Islamisten« von damals nun »die« Demokraten von heute? Wohl kaum.

Die Pensionierung führender Generäle ändert nichts an den politischen und wirtschaftlichen Privilegien der Militärs sowie an der Tatsache, dass der Hohe Militärrat als Statthalter der USA weiterhin in außen- und verteidigungspolitischen Fragen das Sagen hat. General Tantawi musste dieses Arrangement eingehen, weil die US-Interessen gewichtiger waren.

Das ägyptische Arrangement zeigt viele Parallelen zur Entwicklung in der Türkei auf. Auch dort sprach man von der »Zurückdrängung der Generalität«. Doch was als »Demokratisierung« angepriesen wurde, offenbarte sich binnen kurzer Zeit als autoritärer Neoliberalismus. Islamische Rhetorik diente zur Legitimierung einer rigorosen neoliberalen Wirtschaftspolitik und der Militarisierung im Innern wie nach außen. Nun agiert das türkische AKP-Regime, das ohne die Petro-Dollars aus Saudi-Arabien und Katar kaum überleben kann, als »Subunternehmer« westlicher Interessen in der Region - siehe Syrien.

Ohne Frage: Mursi hat mit einem geschickten Schachzug die Sympathien der liberalen Mittelschichten gewonnen. Ob jedoch daraus eine breite politische Unterstützung wachsen kann, muss sich noch zeigen.

Die Unterstützung des Westens ist aber den Islamisten sicher und das kommt nicht von ungefähr: Die neoliberale Haltung der Muslimbrüder ist seit langem bekannt - streikende Textilarbeiter von Mahalla können ein Lied davon singen. Die geostrategische Bedeutung des Landes und die außenpolitische Orientierung am Westen erleichtert die politische Unterstützung der USA und der EU.

Die Finanzierung übernehmen die Saudis, die bisher über 30 Milliarden Dollar in Ägypten investiert haben. Gemeinsam mit den Golfkooperationsstaaten setzen die saudischen Despoten große Summen ein, um die Macht der Muslimbrüder zu konsolidieren. In Ägypten kann exemplarisch beobachtet werden, wie das »System der flexiblen Partnerschaften« der neuen NATO-Strategie in die Tat umgesetzt und an dem Aufbau einer »sunnitischen Achse« gearbeitet wird.

Nichtdestotrotz: unklar ist, ob die Bevölkerung diesen Weg mitgehen wird. Die Hälfte der 84 Millionen ÄgypterInnen lebt an der Armutsgrenze. Als weltgrößter Nahrungsmittelimporteur ist das Land von ausländischen Finanzspritzen abhängig. Massenarbeitslosigkeit, Haushaltsdefizite, negatives Wachstum, gepaart mit Repressalien gegen Minderheiten und Demokratiebewegung sowie die Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten zeigen, dass soziale Konflikte programmiert sind. Die demokratische Camouflage des Arrangements vermag diese Tatsachen nicht zu verdecken.

* Murat Çakır. Der 1960 in Istanbul geborene Dolmetscher ist Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen und Kolumnist der linken Tageszeitung Özgür Gündem.

Aus: neues deutschland, Samstag, 18. August 2012


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