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EU-Haltung zu Mursi-Sturz kritisiert

Ägyptens Muslimbrüder fordern Verurteilung des Militärputsches *

Die Muslimbrüder haben die offizielle Haltung der EU zur Entmachtung des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi scharf kritisiert.

Die EU habe »den Militärputsch bis heute nicht verurteilt«, erklärte der politische Arm der Muslimbrüder-Bewegung, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, am Donnerstag in Kairo. Dadurch spreche sie dem ägyptischen Volk das Recht ab, seinen Präsidenten, sein Parlament und seine Verfassung frei zu wählen. Bei einem Treffen mit der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton am Mittwoch habe eine Abordnung der Partei deutlich gemacht, dass sie die offizielle Position der EU verurteile. »Die Delegation hat betont, dass sie von der EU erwartet, dass sie mit Entschiedenheit an der Seite der ägyptischen Bevölkerung steht«, hieß es in der Erklärung weiter. Die Muslimbrüder sind Mursis politische Heimat.

Ashton war in Ägypten auch mit dem früheren Ministerpräsidenten Hescham Kandil und zwei ehemaligen Ministern der Mursi-Regierung zusammengetroffen. Die Chefdiplomatin sprach zudem mit Vertretern der neuen ägyptischen Führung, unter ihnen Regierungschef Hasem al-Beblawi, Übergangspräsident Adli Mansur, Interimsvizepräsident Mohammed al-Baradei und Armeechef Abdel Fattah al-Sisi.

Die EU hatte sich mehrfach zur Entmachtung Mursis Anfang Juli geäußert und unter anderem zur Zurückhaltung und zu einer nationalen Versöhnung aufgerufen. Bei ihrer Visite in Kairo forderte Ashton einen schnellen Übergang zur Demokratie. Sie bedauerte, dass sie den gestürzten Präsidenten nicht treffen konnte und sprach sich erneut für die Freilassung des Politikers aus, der von der Armee an einem geheimen Ort festgehalten wird.

Die Muslimbruderschaft plant für diesen Freitag neue Massenproteste. Auch die Gegner der Islamisten wollen auf die Straße gehen. Noch in den frühen Morgenstunden des Donnerstag waren Tausende Islamisten in mehreren Städten Ägyptens an Protesten beteiligt, berichtete der arabische Nachrichtensender Al-Dschasira. Zuvor hatten die Mursi-Anhänger versucht, vor das Regierungsgebäude ziehen, wurden aber von Sicherheitskräften daran gehindert. Größere Ausschreitungen gab es nicht. Am Dienstag war die neue Übergangsregierung vereidigt worden. Die Islamisten lehnen sie aber ab und verlangen die Wiedereinsetzung Mursis.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 19. Juli 2013


Kurs gen Westen

In Ägyptens neuer Regierung tummeln sich Wirtschaftsliberale, alte Regimekader – und ein Gewerkschafter. Muslimbrüder und Salafisten sind nicht beteiligt

Von Sofian Philip Naceur, Kairo **


Mit der Ernennung von Wirtschaftsexperten und Geschäftsleuten zu Ministern der neuen Regierung will Ägyptens Übergangspräsident Adli Mansur den Verhandlungen über einen Milliardenkredit mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) neuen Schwung verleihen. Mansur hatte das 34köpfige Kabinett am Dienstag vereidigt. Die Auswahl der Minister verspricht außenwirtschaftliche Kontinuität und eine Annäherung an den Westen. Seit der Revolution 2011 steckt das Land in einer Wirtschaftskrise, die die Muslimbrüder und ihr politischer Arm, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP) von Expräsident Mohammed Mursi nicht in den Griff bekommen hatten.

Der neue Premierminister Hasem Beblawi gilt als liberaler Wirtschaftsfachmann, Finanzminister Ahmed Galal arbeitete 18 Jahre für die Weltbank, und die neuen Minister der Industrie-, Telekommunikations- und Wohnungsministerien kommen aus der Privatwirtschaft. Außenminister Nabil Fahmy war Ägyptens Botschafter in den USA. Mansur ernannte zudem Kamal Gansuri, von 1996 bis 1999 Premierminister und eine Schlüsselfigur bei der Öffnung der ägyptischen Wirtschaft, als Wirtschaftsberater. Letzteren hatte die Armee bereits nach dem Sturz des langjährigen Machthabers Hosni Mubarak 2011 kurzzeitig als Regierungschef eingesetzt, auch unter Mursi war er als Berater an den Regierungsgeschäften beteiligt. Vier Minister der alten Regierung bleiben auf ihren Posten, unter anderem Verteidigungsminister Abdel Fattah Al-Sisi, der führende Kopf hinter Mursis Absetzung. Al-Sisi wird zudem das Amt des stellvertretenden Premierministers ausüben und damit zusätzlichen Einfluß auf die Regierungsgeschäfte haben.

Während Salafisten und FJP nicht beteiligt sind, tummeln sich zahlreiche Vertreter des säkularen und wirtschaftsliberalen Lagers in der Übergangsregierung. Neben Vertretern der Sozialdemokraten, der liberalen Wafd-Partei und der Verfassungspartei Mohamed ElBaradeis sitzt auch Kamal Abu Eita von der sozialistischen Karama-Partei als Minister für Angestellte im neuen Kabinett. Abu Eita ist Vorsitzender des Verbandes unabhängiger Gewerkschaften (EFITU), der seit 2011 durch unzählige Streikaktionen sowohl die Militärregierung, die Ägypten von Mubaraks Sturz bis zu Mursis Amtsantritt 2012 regierte, als auch die Regierung Mursi kontinuierlich unter Druck setzte. Abu Eita steht nun vor einer schwierigen Aufgabe und sagt selbst, daß die Annahme des Ministerpostens für ihn schnell zum »politischen Selbstmord« werden kann, da durch seine Ernennung die Spaltung der Arbeiterschaft droht. Der staatlich kontrollierte Gewerkschaftsverband, unter Mubarak die faktische Einheitsgewerkschaft Ägyptens, protestierte gegen seine Berufung und fordert die Einsetzung eines eigenen Vertreters. Hinter Abu Eitas Ernennung scheint politisches Kalkül der Armee zu stecken. Sie will verhindern, daß der wirtschaftlichen Stabilisierung des Landes wie schon 2011 und 2012 eine Streikwelle der unabhängigen Gewerkschaften in die Quere kommt.

Während die FJP sowohl Regierung als auch Premierminister als »illegitim« bezeichnet, hagelt es auch von anderer Seite Kritik am neuen Kabinett. Oppositionsgruppen wie die Bewegung des 6. April kritisieren die Berufung von ehemaligen Kadern der Nationaldemokratischen Partei (NDP) Mubaraks. Zahlreiche Minister des neuen Kabinetts hatten bereits unter dem Langzeit-Herrscher Regierungsposten inne, waren NDP-Mitglieder oder verließen die Partei kurz vor dessen Sturz und wurden vom Militär in die Übergangsregierungen 2011 eingebunden. Die Armee, die im Hintergrund die Fäden zieht, installierte damit ein ihr wohlgesonnenes Kabinett mit besten Kontakten zu westlichen Regierungen und alten Regimekadern.

** Aus: junge Welt, Freitag, 19. Juli 2013


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