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Ägypter sehen Forderungen noch nicht erfüllt

Juristische Verfolgung von Vertretern des alten Regimes beginnt vor allem wegen des Drucks der Straße

Von Juliane Schumacher, Kairo *

Am Dienstag (19. April) hat eine Kommission zur Aufarbeitung der Geschehnisse während der Revolution Ende Januar und Anfang Februar einen 400-seitigen Abschlussbericht vorgelegt. Er zeigt, dass die Revolution längst nicht so unblutig war, wie viele glauben mochten: Mindestens 846 Zivilisten kamen demnach während der 18-tägigen Proteste ums Leben, viele davon wurden gezielt von Scharfschützen erschossen. Über 6400 wurden verletzt, viele haben beispielsweise dauerhaft ihr Augenlicht verloren.

Innenminister Habib al-Adli wird in dem Bericht vorgeworfen, den Schießbefehl gegeben zu haben. Aber auch Mubarak, so heißt es, trage Verantwortung für das harte Vorgehen gegen Demonstranten. Ohne ihn sei der Befehl zum Einsatz von Schusswaffen nicht möglich gewesen.

Doch während auf offizieller Ebene nach wiederholtem Druck von der Straße und anhaltenden großen Demonstrationen die Abwicklung des alten Systems endlich voranzugehen scheint, bleibt, was die wirklichen Machtverhältnisse im Land angeht, vieles wie zuvor. Oder entwickelt sich, nach den ersten Wochen des Aufbruchs, wieder rückwärts. Die Revolution hat das Militär, das geschätzt ein Viertel der Wirtschaft des Landes kontrolliert und über Jahrzehnte die Politik des Landes beherrschte, obwohl es meist diskret im Hintergrund blieb, überraschend an die schmutzige Oberfläche des Politikalltags gespült. Es ist nun zugleich Armee, Polizei und Regierung. Da ist es nicht einfach, in dieser Rolle das Bild der sauberen Armee zu wahren, die mit Politik nichts am Hut hat.

Dass es durchaus Kontinuitäten zwischen dem alten Regime und dem jetzigen gibt, zeigt sich etwa am jüngsten Vorschlag des herrschenden Militärrates, Mustafa al-Fiqi zum nächsten Generalsekretär der Arabischen Liga zu ernennen. Die laufende Amtszeit des derzeitigen Generalsekretärs Amre Mussa endet am 15. Mai, und da Mussa bei den kommenden Präsidentenwahlen in Ägypten kandidieren will, steht er für eine Verlängerung nicht zur Verfügung. Al-Fiqi aber ist ein Mann der Staatspartei NDP, die in der vergangenen Woche für aufgelöst erklärt wurde. Prompt standen am Mittwoch wieder Demonstranten am Rande des Kairoer Tahrir-Platzes, auf jener Seite, wo das Gebäude der Arabischen Liga steht. »Es reicht«, riefen sie, meist Männer und Frauen mittleren Alters, viele gut gekleidet. »Wir wollen keine von Mubaraks Leuten mehr!«

Auch die Verhaftung Mubaraks ist – darin sind sich die meisten Beobachter einig – hauptsächlich dem Druck der Straße geschuldet: Wenige Tage zuvor hatten rund eine Million Menschen auf dem Tahrir-Platz demonstriert, unter anderem dafür, die Spitzen des alten Regimes endlich zur Verantwortung zu ziehen – ein Zeichen, das vom Militär einfach nicht ignoriert werden konnte, wollte es nicht seinen Rückhalt in der Bevölkerung riskieren.

Diese kritische Sichtweise ist allerdings einer Minderheit in Ägypten vorbehalten: Bei der Masse der Bevölkerung hat der Schritt Wirkung gezeigt. Am letzten Freitag kamen keine Demonstranten auf den Tahrir-Platz. Die Auffassung, man müsse der Aufarbeitung jetzt Zeit geben und Proteste erst einmal sein lassen, hat reichlich Anhänger. In den vergangenen Tagen gab es neben Veranstaltungen und Demonstrationen gegen das herrschende Militär in Teilen Kairos auch wieder Demonstrationen von Mubarak-Anhängern oder Verfechtern einer harten Linie des Militärs.

International hat die offenbar rasche juristische Aufarbeitung der Verbrechen des alten Regimes Anerkennung geerntet – auch wenn Zweifel laut wurden, ob es tatsächlich zu einer Verurteilung kommen wird. Richter schätzen, dass es Monate oder Jahre dauern kann, bis ein Urteil gefällt ist. Gut möglich sogar, dass der Prozess gegen den 82-jährigen Mubarak endet wie das Verfahren gegen Indonesiens Diktator Suharto, der starb, bevor ein Urteil gefällt werden konnte.

Der radikale Teil der Demokratiebewegung sieht die laufenden Prozesse denn auch kritisch: »Die Prozesse sind eine Farce«, sagt Rana, eine Aktivistin. »Niemand wird verurteilt werden. Das dient allein der Beruhigung der Bevölkerung.« Die Aufarbeitung der Verbrechen, die das alte Regime während der Revolution verübt habe, solle auch davon abhalten, Kritik am jetzigen Regime zu üben. Dafür gäbe es Ranas Meinung nach Gründe genug: Streiks und Demonstrationen hat das Militär durch ein neues Gesetz verboten, Protestierende hat es brutal gefoltert, bei einer versuchten Neubesetzung des Tahrir-Platzes hat es am 8. April scharf auf die Demonstrierenden geschossen. Fast zeitgleich mit der Verhaftung Mubaraks stürmte das Militär eine Versammlung, die politischen Gefangenen und Militärprozessen gewidmet war. Drei Teilnehmer wurden verletzt, drei festgenommen. Die Presse, nach der Revolution »frei wie nie«, wie ein Journalist schwärmte, wurde vom Militär durch neue Zensurverordnungen wieder eingeschränkt. So sollen die Medien nun jede Berichterstattung über die Armee vom Militär erst prüfen lassen. Der Blogger Maikel Nabil Sanad wurde wegen eines kritischen Artikels vergangene Woche zu drei Jahren Haft verurteilt ...

Aktivistin Rana jedenfalls kündigt an, dass sie schon bald wieder auf dem Tahrir-Platz stehen wird. »Unsere Forderungen sind noch immer nicht erfüllt. Das Militär muss die Macht an eine zivile Übergangsregierung abgeben.«

* Aus: Neues Deutschland, 23. April 2011

Keine Mubarak-Plätze und -Straßen mehr **

Plätze und Straßen in Ägypten dürfen nicht mehr den Namen Husni Mubaraks tragen. Auch Bibliotheken und andere Institutionen, die nach ihm benannt wurden, sollten umbenannt werden, meldete die Nachrichtenagentur Mena unter Berufung auf ein Gericht in Kairo. Der Richter legte zugleich fest, dass auch der Name von Mubaraks Frau Suzanne von Plätzen, Straßen und Gebäuden getilgt werden müsse. Zur Begründung hieß es, dass immer mehr über Kriminalität und Korruption unter Mubarak bekannt werde.

Mubarak selbst war am 12. April in eine Klinik des Badeorts Scharm el Scheich eingeliefert worden, nachdem er bei einer Vernehmung eine Herzattacke erlitten hatte. Im Zuge der Ermittlungen wegen des gewaltsamen Vorgehens des Staates gegen die Teilnehmer der Proteste, die am 11. Februar zu Mubaraks Sturz führten, waren er und seine beiden Söhne Mitte vergangener Woche für 15 Tage in Untersuchungshaft genommen worden.

Jetzt meldete Mena unter Berufung auf einen Arzt der Klinik, der Gesundheitszustand des 82-Jährigen sei instabil. Die Nachricht wurde verbreitet, nachdem die Staatsanwaltschaft kurz zuvor erklärt hatte, sie prüfe die Möglichkeit, Mubarak ins Gefängnis oder in ein Gefängniskrankenhaus bringen zu lassen. Staatsanwalt Abdel Megid Mahmud teilte mit, er habe ein Team von Rechtsmedizinern nach Scharm el Scheich entsandt, um zu prüfen, ob der Gesundheitszustand Mubaraks den Transport nach Kairo erlaube.

** Aus: Neues Deutschland, 23. April 2011




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