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Gewalt in Ägypten

Erneut mehrere Tote bei Protesten gegen Polizei und Militärrat. Kundgebungen in Suez und Kairo. Tausende am Tahrir-Platz

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

In Ägypten sind in den vergangenen drei Tagen mehr als 80 Menschen getötet und bis zu 1700 zum Teil schwer verletzt worden. In Suez starben am Freitag zwei Demonstranten bei Protesten gegen die Polizei und den Militärrat. Das staatliche Fernsehen berichtete, aufgebrachte Personen hätten versucht, eine Polizeistation zu besetzen. Etwa 3000 Menschen hatten sich vor dem Polizeihauptquartier der Stadt versammelt, nachdem die Nachricht die Runde machte, eines der Opfer von dem Blutbad nach einem Fußballspiel in Port Said am Mittwoch sei aus Suez gewesen. Gegen die am Freitag Protestierenden habe die Polizei Tränengas eingesetzt und mit scharfer Munition in die Menge geschossen, berichteten Augenzeugen. Ein dritter Demonstrant schwebe in Lebensgefahr. Aus Sicherheitskreisen verlautete dagegen, die Polizisten hätten nicht das Feuer eröffnet. Vielmehr seien die Kundgebungsteilnehmer selber bewaffnet gewesen.

Ebenfalls am Freitag wurde ein Demonstrant in Kairo mit Schrotmuni­tion erschossen, als die Polizei versuchte, die Straßen um das ägyptische Innenministerium gewaltsam zu räumen. Aber laut Innenressortchef Mohamed Ibrahim hat die Polizei nur Tränengas gegen die Demonstranten eingesetzt, die seit zwei Tagen das Ministerium belagern. Ärzte, die auf dem nahe gelegenen Tahrir-Platz eine Krankenstation eingerichtet haben, bestätigten, daß der Mann schwere Lungenverletzungen durch Schrot erlitten habe, er starb auf dem Weg ins Krankenhaus. In der Station seien vier Personen behandelt worden, die von Schrotflinten verletzt worden waren, sagte der Arzt Ayyman Ahmed Reportern der ägyptischen Tageszeitung Al-Masri Al-Youm. Mehr als 90 Verletzte seien nach den Auseinandersetzungen vor dem Innenministerium von ihnen versorgt worden. Am Freitag nachmittag berichteten Mediziner AFP gegenüber, daß zwei Demonstranten durch das Einatmen von Tränengas gestorben seien.

Die Proteste in Suez und Kairo richteten sich gegen das Verhalten der Polizei, die bei einem Fußballspiel in Port Said am Mittwoch (1. Feb.) nicht eingegriffen hatte, als Fans der beiden Teams nach dem Spiel aufeinander losgingen. Bei dem dadurch ausgelösten Chaos und Schlägereien waren mindestens 74 Menschen getötet und Hunderte zum Teil schwer verletzt worden. Den Sicherheitskräften wurde vorgeworfen, die Auseinandersetzungen angeheizt zu haben. Mittlerweile wurden Offiziere zu den Ereignissen verhört, sie weisen jede Schuld von sich, hieß es in der Zeitung Al-Masri Al-Youm. Mindestens 50 Personen, die meisten davon Fußballfans, wurden festgenommen.

Um gegen die blutigen Ereignisse von Port Said zu protestieren, waren am Donnerstag (2. Feb.) in Kairo Tausende Menschen auf den Tahrir-Platz geströmt, von wo sie später zum Innenministerium weiterzogen. Immer wieder wurde der Rücktritt des Chefs des Militärrats, Hussein Tantawi, gefordert.

Die Europäische Union verlangte eine »sofortige und unabhängige Untersuchung« der Gewalt. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon appellierte an die Regierung in Kairo, »angemessene Maßnahmen« zu ergreifen. Der Weltfußballverband FIFA verlangte von den ägyptischen Behörden einen »vollständigen Bericht« zu den Krawallen.

Die bei der Parlamentswahl siegreiche Muslimbruderschaft sprach von »geplanten« Ausschreitungen. Der ihr angehörende Parlamentspräsident Saad Al-Katatni sagte, die »ägyptische Revolution« sei »in großer Gefahr«. Das »Massaker von Port Said« sei Folge einer »unglaublichen Nachlässigkeit der Sicherheitskräfte«.

* Aus: junge Welt, 4. Februar 2012


"Revolution in Gefahr"

Tote bei Zusammenstößen in Ägypten / Proteste halten an **

Die Gewalt in Ägypten findet kein Ende. Am Freitagmorgen kam es in Kairo in der Nähe des Innenministeriums zu blutigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Dort und bei anderen Protestaktionen gab es Todesopfer.

Nach schweren Ausschreitungen mit zwei Toten vom Vortag haben sich Demonstranten und Sicherheitskräfte in Ägypten am Freitag erneut Zusammenstöße geliefert. In der Hauptstadt Kairo ging die Polizei mit Tränengas gegen Protestierende nahe dem Innenministerium vor, wie Korrespondenten vor Ort berichteten. Maskierte Demonstranten bahnten sich Wege durch Absperrungen aus Stacheldraht und entzündeten Feuer in einer Straße im Stadtzentrum. Am Freitagnachmittag stürmten Demonstranten ein Gebäude der Steuerbehörde nahe dem Innenministerium. Nach Angaben aus Sicherheitskreisen flogen Brandbomben; die Eindringlinge hätten Möbel und Akten zerstört, hieß es.

Auch in Suez setzten Beamte Rauchbomben und Tränengas gegen Protestierende ein. In der Stadt waren am Donnerstagabend bei einem Polizeieinsatz gegen Demonstranten zwei Menschen erschossen worden. Unklar blieb, wer die tödlichen Schüsse abgab: Während Zeugen von heftiger Polizeigewalt berichteten, erklärten Sicherheitskräfte, das Feuer sei von Demonstranten eröffnet worden. Am Donnerstag waren nach jüngsten Angaben des ägyptischen Innenministeriums in Suez und Kairo insgesamt rund 1500 Menschen verletzt worden, bevor sich die Lage in der Nacht beruhigte.

Auslöser der Unruhen waren Ausschreitungen nach einem Fußballspiel in Port Said, bei denen am Mittwoch 74 Menschen getötet und Hunderte weitere verletzt worden waren. Fans der Mannschaft Al-Masry aus Port Said waren auf das Spielfeld gestürmt und hatten Spieler und Anhänger der gegnerischen Mannschaft Al-Ahly aus Kairo mit Flaschen und Steinen beworfen.

Die bei der Parlamentswahl siegreichen Muslimbrüder sprachen anschließend von geplanten Provokationen konservativer Kräfte. Parlamentspräsident Saad al-Katatni, ebenfalls ein Muslimbruder, sagte, die »ägyptische Revolution« sei »in großer Gefahr«. Das »Massaker von Port Said« sei Folge einer »unglaublichen Nachlässigkeit der Sicherheitskräfte«. Der regierende Oberste Militärrat rief eine dreitägige Staatstrauer aus.

Bereits am Donnerstag (2. Feb.) hatten sich in Kairo Tausende Menschen bis in den späten Abend rund um den Tahrir-Platz Scharmützel mit der Polizei geliefert. Immer wieder wurde der Rücktritt des Chefs des Militärrats, Feldmarschall Hussein Tantawi, gefordert.

Die Europäische Union forderte eine »sofortige und unabhängige Untersuchung« der Gewalt. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon verlangte von der Regierung in Kairo »angemessene Maßnahmen«. Auch der Weltfußballverband FIFA verlangte von den ägyptischen Behörden einen »vollständigen Bericht« zu den Krawallen.

** Aus: neues deutschland, 4. Februar 2012


Mubaraks Rache?

Explosive Situation in Ägypten

Von Werner Pirker ***


Daß »Fußball-Krawalle« nicht so unpolitisch sind, wie sie den Anschein haben, weiß man nicht nur aus Ägypten. Doch nirgendwo sonst dürfte die Anhängerschaft von Fußballvereinen so stark politisiert sein wie in diesem Land am Nil. Die Sportstadien waren in der Mubarak-Zeit der einzige Ort, wo eine weitgehende Versammlungsfreiheit herrschte und wo es den Fans auch möglich war, selbst »tätig« zu werden, sich selbst zu inszenieren, was mitunter auch zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei führte. Als sich vor einem Jahr die studierende Jugend auf dem Tahrir-Platz zu versammeln begann, schloß sich ihr die sozial deklassierte Vorstadtjugend an, unter ihnen die »Ultras« des Kairoer Fußballklubs Al Ahly.

Sie brachten mit, was den Facebook-»Revolutionären« fehlte: Kampferfahrung, weshalb aus ihren Reihen die ersten Selbstverteidigungskräfte des Aufstandes hervorgingen. Als Mubaraks Schläger mit Kamelen in die Menschenmenge auf dem Tahrir ritten, hielten die Ultras todesmutig dagegen. Das Fußballmassaker in Port Said – Anhänger der Heimmannschaft attackierten nach dem Spiel Spieler und Fans von Al Ahly – wird von vielen als Racheakt der Kräfte des alten Regimes an den »Helden vom Tahrir« wahrgenommen. Immerhin hatten die Gastgeber den Tabellenführer aus Kairo mit 3:1 besiegt, was das mörderische Ausrasten der Fans aus Port Said völlig unverständlich erscheinen läßt. Der Verdacht, daß es sich hier nicht bloß um ein spontanes Fanverhalten mit irrationaler Verlaufsform, sondern um ein geplantes Blutbad gehandelt hat, ist deshalb kaum von der Hand zu weisen.

Wenn es tatsächlich Kräfte des alten Regimes gewesen sein sollten, die den Überfall auf den Gästesektor im Stadion in Szene gesetzt haben, dann ist das alte Regime noch sehr gegenwärtig. Oder auch: Es ist nicht das alte Regime, das in Port Said zugeschlagen hat, sondern das gegenwärtige. Mubarak wurde zwar gestürzt, der Staatsapparat aber ist der alte geblieben. Das Militär, das sich nach dem Rücktritt des Diktators als Treuhänder der Revolution darzustellen verstand, obwohl seine Führung fast ausschließlich aus früheren Mubarak-Getreuen besteht, will die politische Macht nicht mehr aus der Hand geben. Zwar haben inzwischen Wahlen stattgefunden, doch bleibt das Parlament eine Fassade, solange die Armee sich nicht von der politischen Bühne verabschiedet hat. Und solange schwebt das Damoklesschwert des Ausnahmezustandes über dem Land.

Es ist durchaus wahrscheinlich, daß der herrschende Militärrat eine »Strategie der Spannungen« verfolgt. Durch die Inszenierung blutiger Ausschreitungen soll eine Atmosphäre geschaffen werden, in der eine Militärdiktatur als der einzige Ausweg erscheint. Dem kommt entgegen, daß große Teile der ägyptischen Bevölkerung der gesellschaftlichen Erschütterungen müde und bereit sind, ihre sozialen und demokratischen Anliegen dem Bedürfnis nach Sicherheit unterzuordnen.

*** Aus: junge Welt, 4. Februar 2012 (Kommentar)


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