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Al-Sisi droht Muslimbrüdern

EU berät über Reaktion auf Gewalt in Ägypten *

Der ägyptische Armeechef, General Abdelfattah al-Sisi, hat die Muslimbrüder aufgefordert, ihren Protest aufzugeben. Stattdessen sollten sie sich wieder am politischen Prozess beteiligen. Gleichzeitig drohte der neue starke Mann am Nil, die Sicherheitskräfte würden nicht schweigend zuschauen, wie die Entwicklung des Landes von den Anhängern des Ex-Präsidenten Mohammed Mursi sabotiert werde.

Ägypten droht damit ein langer und blutiger Machtkampf zwischen der islamistischen Muslimbruderschaft und der vom Militär eingesetzten Übergangsregierung. Dabei will sich die Regierung auch nicht durch westliche Kritik von ihrem harten Kurs gegen die Anfang Juli entmachteten Muslimbrüder abbringen lassen. Sie kündigte eine Politik der »eisernen Faust« an und diskutiert über ein Verbot der Islamisten-Organisation. Als Konsequenz rief die Bruderschaft ihre Anhänger für den Sonntagnachmittag wieder zu Protesten auf.

Die EU will ihre Beziehungen zu Ägypten nun rasch überprüfen. Die Botschafter der 28 EU-Staaten beraten an diesem Montag in Brüssel über eine europäische Reaktion auf das Blutvergießen. »Die Gewalt und das Töten in den vergangenen Tagen können weder gerechtfertigt noch stillschweigend geduldet werden«, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung des EU-Ratsvorsitzenden Herman Van Rompuy und des EU-Kommissionschefs José Manuel Barroso vom Sonntag. Darin werden zwar alle Seiten zur Zurückhaltung aufgefordert. Aber insbesondere die Armee und die von ihr eingesetzte Übergangsregierung sollten für ein Ende der Gewalt sorgen. Die EU forderte die neuen ägyptischen Machthaber zudem auf, alle politischen Häftlinge freizulassen. Außerdem will sich die EU weiterhin für ein Ende der Gewalt, einen politischen Dialog und die Rückkehr zu einem demokratischen Prozess einsetzen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte angesichts der Gewalt die Waffenexporte in das Land in Frage.

* Aus: neues deutschland, Montag, 19. August 2013


Muslimbruderschaft in der Enge

Ägyptische Übergangsregierung erwägt Verbot der Organisation / Islamisten setzen Proteste fort

Von Oliver Eberhardt, Kairo **


Ägyptens Regierung erwägt ein erneutes Verbot der Muslimbruderschaft. Zuvor hatte es am Freitag erneut mindestens 173 Tote gegeben. Die Führung der Organisation hat dennoch zu weiteren Protesten aufgerufen – und lehnt jede Verantwortung für die immer häufiger werdenden Gewaltexzesse einiger ihrer Anhänger ab.

Am Sonntagmittag holt Kairo für einen Moment Luft: Im Stadtzentrum haben die Läden wieder geöffnet, viele Menschen nutzen die Gelegenheit, Vorräte einzukaufen. Denn niemand weiß, wie lange die Ruhe anhalten wird. Viele befürchten allerdings, dass es nicht lange der Fall sein wird.

Für den Nachmittag hatte die Muslimbruderschaft zu weiteren Protesten an verschiedenen Orten in der Stadt aufgerufen. Proteste wie jene, die am Freitag eskaliert waren: In Kairo und in mehreren anderen Städten im Lande hatten sich nicht nur die Sicherheitskräfte Kämpfe mit den Muslimbrüdern geliefert, sondern es kam auch zu Straßenschlachten zwischen Anhängern der Organisation und Unterstützern des Umsturzes Anfang Juli. Am Ende des Tages waren erneut, nach Angaben des Gesundheitsministeriums, mindestens 173 Menschen gestorben, davon 95 allein in Kairo.

Die Auseinandersetzungen hatten bis tief in die Nacht angedauert, und irgendwann hatten sich Schätzungen zufolge bis zu 700 Menschen in der al-Fath-Moschee am Ramses-Platz verschanzt. Was dann dort geschah, ist nach wie vor weitgehend ungeklärt. So wurden die Sicherheitskräfte vom Minarett aus beschossen. Die Muslimbruderschaft behauptet, die Schützen hätten nicht zur Organisation gehört, nur die Polizei habe Zugang zu dem Turm gehabt. Die Polizei und mehrere Reporter bestreiten dies: Die Türen seien unter Kontrolle der Pro-Mursi-Leute gewesen. Verwirrung herrscht auch über die Zustände in der Moschee. So war in dem Gebetshaus Maschinengewehrfeuer zu hören, das nicht von draußen gekommen sein kann. Die Sicherheitskräfte hielten sich dieses Mal weitgehend zurück. Erst nachdem der überwiegende Teil der Demonstranten die Moschee am Samstag verlassen hatte, stürmte eine Sondereinheit der Polizei das Gebäude, um die letzten Verbliebenen festzunehmen.

Diese Episode ist ein weiteres Anzeichen dafür, dass die Muslimbruderschaft kaum Einfluss auf die Gewaltbereiten in ihren Reihen hat – und ihn augenscheinlich nicht wirklich haben will: So distanziert sich die Führung beispielsweise zwar offiziell von den Angriffen auf christliche Einrichtungen überall im Land, verweist aber auch gleichzeitig auf die Polizei. Sie müsse die Gemeinden schützen. An jenen Orten, an denen die Übergriffe geschehen, werden die Polizeistationen allerdings von Anhängern der Muslimbruderschaft belagert und damit handlungsunfähig gemacht. Zudem hat sich die Muslimbruderschaft bis heute nicht klar gegen die Prediger gewandt, die vor allem Jugendliche mit der Argumentation, die Christen wollten den Islam im Lande zerstören, aufstacheln.

Übergangsregierungschef Hasem al-Beblawi will die Organisation deshalb wieder verbieten lassen. Wobei die Muslimbruderschaft allerdings nie wirklich erlaubt war. Ein 1954 verhängtes Verbot wurde auch nach der Revolution nicht aufgehoben. Stattdessen ließ sie sich im vergangenen Jahr als Nichtregierungsorganisation registrieren.

Die Muslimbrüder zeigen sich von den Verbotsbestrebungen unbeeindruckt. Man werde keinesfalls nachgeben, heißt es. Und tatsächlich wird sich die Organisation kaum auflösen lassen. In all den Jahrzehnten war sie in Ägypten immer präsent, und hatte trotz des Verbots großen Einfluss. Doch ein Verbot würde es der Übergangsregierung ermöglichen, die Gelder der Muslimbrüder zu beschlagnahmen, und die Kader festzunehmen, ohne ihnen anderweitige Straftaten nachweisen zu müssen.

Vermittlungsbemühungen aus dem Ausland hat derweil Außenminister Nabil Fahmy zurückgewiesen: Er sei gegen eine Internationalisierung des Konflikts; dadurch werde die Versöhnung nur erschwert. Auf Hilfsgelder und Kooperationsprojekte aus dem Westen könne man verzichten: »Wir sind ständig auf der Suche nach neuen Partnern in der Welt.«

** Aus: neues deutschland, Montag, 19. August 2013


Zurück zur Mubarak-Ära

Nach neuerlichen Gewaltexzessen hat sich die Lage in Ägypten beruhigt. Übergangsregierung diskutiert Verbot der Muslimbruderschaft

Von Sofian Philip Naceur, Kairo ***


Die Lage in Ägypten hat sich am gestrigen Sonntag vorerst leicht entspannt. Die Muslimbrüder, die weiter die Wiedereinsetzung des aus ihren Reihen stammenden Expräsidenten Mohammed Mursi fordern, haben eine für gestern geplante Kundgebung »aus Sicherheitsgründen« kurzfristig abgesagt. Mursi war Anfang Juli vom Militär gestürzt worden.

Noch am Freitag hatten sich Tausende Islamisten in der Hauptstadt heftige Kämpfe mit den Sicherheitskräften geliefert. Die Armee riegelte die Innenstadt hermetisch ab und ließ Panzer auffahren. Die Zentralen Sicherheitskräfte (CSF), eine paramilitärische Polizeieinheit, gingen mit Tränengas und scharfer Munition gegen die Protestierenden vor. Die Al-Fattah-Moschee wurde geräumt. In die Moschee, in der ein Feldlazarett errichtet worden war, hatten sich Bewaffnete geflüchtet und vom Minarett aus auf die anrückenden CSF-Kräfte geschossen. Nach offiziellen Angaben starben allein am Freitag landesweit 173 Menschen, 95 davon in Kairo. Die Bruderschaft sprach von insgesamt 213 Toten. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) verurteilte die Gewalt der Sicherheitskräfte und fordert eine unabhängige Untersuchung. Für heute rief AI zu einer Demonstration vor der ägyptischen Botschaft in Berlin auf.

Derweil diskutiert die Übergangsregierung unter Premierminister Hasem Beblawi inzwischen offen über ein neuerliches Verbot der Muslimbruderschaft. Sie wird von der Regierung, der Armee und dem Großteil der liberalen und sozialistischen Opposition, die sich fast geschlossen auf die Seite der Generäle gestellt hat, für die Eskalation der Gewalt verantwortlich gemacht. Mit einem Verbot der Bruderschaft wäre der Status quo der Zeit vor der Revolution 2011 fast vollständig wiederhergestellt. Armee und Regierung haben erfolgreich den gewaltbereiten Teil der Muslimbrüder auf die Straße getrieben und nutzen deren Attacken gegen Kirchen und staatliche Einrichtungen nun als Vorwand, um die Organisation zu dämonisieren und den alten Herrschaftsapparat zu reaktivieren.

Ein Blick auf die Übergangsregierung genügt. Im Kabinett Beblawi sitzen zahlreiche Exkader der inzwischen aufgelösten Nationaldemokratischen Partei (NDP) Hosni Mubaraks. Dazu kommen die Reaktivierung der gefürchteten Geheimpolizei, die Einschränkung unabhängiger Berichterstattung und die Verhängung des Ausnahmezustandes. Doch das alte Geflecht aus NDP, Militärs und wirtschaftlicher Elite muß sich derzeit gar nicht verstecken. Ihr geschicktes Taktieren hat es den Kadern des alten Regimes erlaubt, die Opposition gegeneinander auszuspielen, sie zu korrumpieren und zu instrumentalisieren.

Die Führungskader der Bruderschaft sind zwar ebenso für die Radikalisierung ihrer Basis verantwortlich, doch die derzeitige gewaltsame Unterdrückung gegen die Organisation ist vorerst die letzte Stufe der Konterrevolution. Die Muslimbrüder haben sich seit dem Sturz Mubaraks 2011 verkalkuliert. Mit ihrem politischen Machtanspruch standen sie sich selbst im Wege und haben der Rückkehr des Polizeistaates den Weg geebnet. Die Armee hat es trotz ihrer wichtigen Funktion im Machtapparat Mubaraks vermocht, nach dessen Sturz Distanz zum Führungszirkel der NDP zu wahren. Die Machtübernahme des Obersten Militärrates (SCAF) im Frühjahr 2011 ließ damit einen Teil des alten Regimes an der Macht und erleichtert es diesem nun, unter Führung von Verteidigungsminister Abdel Fattah Al-Sisi die alten Machtverhältnisse wiederherzustellen.

*** Aus: junge Welt, Montag, 19. August 2013


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