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"Die Phase der Instabilität in Ägypten wird anhalten"

Proteste gegen Präsident Mursi: Wenn Muslimbrüder nicht einlenken, werden sie immer blutiger werden. Gespräch mit Mamdouh Habashi *


Mamdouh Habashi ist außen­politischer Sprecher der Ägyptischen Sozialistischen Partei.

Die Massenproteste in Ägypten gegen Präsident Mohammed Mursi halten an. Mehr als 60 Menschen wurden bisher getötet, unzählige verletzt. In mehreren Städten wurde der Notstand erklärt. Für welche Ziele sind die Demonstranten auf der Straße?

Die zentralen Forderungen haben sich seit Beginn des Aufstandes im Januar 2011 nicht geändert. Die soziale Frage steht an erster Stelle. Dann geht es um Freiheit. Wir sind im Begriff, uns von einer jahrzehntelangen Diktatur zu befreien.

Die Menschen haben festgestellt, daß ihnen ihre Revolution von vor zwei Jahren »geklaut« wurde. Sie haben realisiert, daß die Muslimbrüder ihre Feinde sind und nicht zu den Revolutionären gehören. Zu dieser Erkenntnis sind mittlerweile breite Kreise der Bevölkerung gelangt, das ist nicht mehr nur eine Sicht der Intellektuellen oder Linken. Das ist eine neue Situation in Ägypten.

Die Menschen merken, wenn sie heute nicht auf die Straße gehen, ist es morgen vielleicht schon zu spät. Die Muslimbrüder befinden sich in der Phase der »Ermächtigung«, d.h. nach der Machtübernahme konsolidieren sie sich und weiten ihren Einfluß zunehmend aus. Konkret, sie haben eine Liste mit 13000 Schlüsselstellen im Staatsdienst, die nach und nach mit Mitgliedern der Muslimbrüder besetzt werden. Ziel ist, den gesamten Staatsapparat in die Hand zu bekommen.

Nach einem Präsidentenwechsel z.B. in den USA zwischen Republikanern und Demokraten werden auch alle Posten neu besetzt.

Das ist etwas anderes. Die Muslimbrüder haben zunächst damit begonnen, die Medien zu übernehmen. Die großen Zeitungen und Fernsehanstalten Ägyptens befinden sich bekannterweise in der Hand des Staates. Die Muslimbrüder haben auf einen Schlag die Führungsposten dort neu besetzt, gegen alle Proteste seitens der Journalisten. Auf einen Schlag wurden die 22 stellvertretenden Minister des Bildungsministeriums ersetzt, die Lehrstoffe für die Schulen wurden geändert und das Lehrmaterial »angepaßt« – es gibt jetzt keine unverschleierten Frauen mehr in den Büchern. Selbst Bilder vom erfolgreichen Kampf für das Frauenwahlrecht im Jahr 1956 sind rausgenommen worden.

Die Schlacht im Justizsektor hat Eingang auch in die deutschen Medien gefunden, etwa der Streik der Richter. Die sind sicher nicht revolutionär, sie kämpfen um die Existenz des zivilen Staates an sich. So wollen die Muslimbrüder etwa das Verfassungsgericht durch ein neues Gremium ersetzen. Der »Rat der Gelehrten« soll nicht mehr Gesetze auf ihre Verfassungskonformität hin überprüfen, sondern, ob sie dem Islam entsprechen.

Präsident Mursi hatte seinen Frankreich-Besuch in der vergangenen Woche abgesagt, den in Deutschland nur verkürzt. Warum war der Berlin-Besuch so wichtig?

Der Präsident wollte wohl vor allem zeigen, daß er nach dem gecancelten Besuch in Adis Abeba nicht noch einmal dem Druck der Straße nachgibt. Das wäre ein Zeichen der Schwäche. Zweitens verspricht sich Mursi von Deutschland politische Unterstützung, weniger von Frankreich. Es war eine klare Botschaft, daß der Bundesaußenminister zwei Tage nach dem Amtsantritt des Präsidenten im vergangenen Juli nach Kairo geflogen war, unmittelbar nach seiner US-Amtskollegin Hillary Clinton. Guido Westerwelle hatte damals geradezu ein Loblied auf Mursi gesungen, wofür es überhaupt keinen Grund gibt – außer, man unterstützt die Muslimbrüder. Beim Berlin-Besuch gab es ein paar mahnende Worte, ansonsten aber sagte Westerwelle: »Ich rate uns zu strategischer Geduld.« Als Rückendeckung kann die Äußerung bezeichnet werden, er habe »einen konstruktiven, entschlossenen demokratischen Eindruck von Präsident Mursi«. Westerwelle verkennt oder ignoriert, daß die Muslimbrüder Faschisten sind. Ihre Ideologie ist faschistisch. Ihre Organisationsform ist aufgebaut auf Gehorsam und sonst nichts.

Im Gegensatz zur Bundesregierung sehen die Massen in Ägypten klar. Sie haben erkannt, daß mit den Muslimbrüdern die Konterrevolution an der Macht ist und sich für sie seit dem Sturz Mubaraks nichts verbessert hat. Das lernen sie durch Erfahrung, nicht durch Bücher oder das Studium der Wirtschaftswissenschaften.

Wie wird es weitergehen?

Man kann nur hoffen, daß Mursi und die Muslimbrüder auf die Forderungen des Volkes eingehen. Ich erwarte es aber nicht. Das bedeutet, daß die Phase der Instabilität weiter anhält und blutiger wird. Die Muslimbrüder fühlen sich gestützt und geschützt von den USA, der EU, den Golfstaaten und Israel. Deshalb geben sie dem Volk nicht, was es will. Das ist ein Fehler. Genau diesen Fehler hat auch das Mubarak-Regime gemacht. Solange die Muslimbrüder nicht auf die Forderungen der Straße eingehen, wird es keine Ruhe geben. Die Menschen wollen ihre Revolution wiederhaben. Die Revolution geht weiter. Das ist ganz einfach.

Interview: Rüdiger Göbel

* Aus: junge Welt, Montag, 4. Februar 2013


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