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Ägyptisch neoliberal

Geld gegen »Reformen«: Präsident Mursi mit leeren Händen aus Berlin zurück. Regierung muß mit IWF um Notkredite feilschen. Muslimbrüder setzen auf Strategie der türkischen AKP

Von Tomasz Konicz *

Den Antrittsbesuch in Berlin hätte sich Ägyptens neuer Staatschef Mohammed Mursi auch sparen können – und der leidgeprüften ägyptischen Staatskasse hätte dies sicherlich gut getan. Anstatt der erhofften und dringend benötigten Finanzhilfen für die kriselnde Wirtschaft konnte der Präsident bei der Bundeskanzlerin nur die üblichen Belehrungen abholen. »Der Geldsegen fiel aus, Ermahnungen gab es gratis«, kommentierte Spiegel online hämisch. Angela Merkel schrieb ihrem Besucher ins Stammbuch, es komme nun darauf an, »daß die Arbeit, die noch getan werden muß, auch getan wird«. Die gezeigte kalte Schulter ist trotz der prinzipiellen Sympathien der deutschen Außenpolitik gegenüber den Muslimbrüdern kaum überraschend, da Berlin den Verhandlungsdruck auf Kairo aufrechterhalten will.

Derzeit ist nämlich all die »Arbeit«, die Mursi nach Ansicht des Westens auf wirtschaftspolitischer Ebene zu erledigen habe, Gegenstand abermaliger Kreditverhandlungen zwischen Ägypten und dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Das langwierige Ringen um einen IWF-Notkredit in Höhe von 4,8 Milliarden US-Dollar wurde von der ägyptischen Regierung erst Anfang Januar wieder aufgenommen, nachdem die landesweit eskalierenden Proteste im Dezember zu einer Unterbrechung der Gespräche geführt hatten. Diese Pause ist vor allem auf die drakonischen Bedingungen zurückzuführen, die mit dem IWF-Kreditpaket verbunden sind – und die zu einer weiteren Intensivierung der Demonstrationen gegen diesen islamistisch gefärbten Neoliberalismus geführt hätten.

Der IWF will dem Land am Nil dieselbe sozioökonomische Roßkur verpassen, mit der jüngst die südeuropäischen Länder in den Kollaps getrieben wurden. Die Auflagen sehen eine massive Kürzung der Subventionen bei Energie und Lebensmitteln vor. Der Staatssektor soll vermittels Privatisierungen und Massenentlassungen stark reduziert, Lohn- und Konsumsteuern sollen erhöht werden. Nur bei »erfolgreichem« Abschluß dieser Verhandlungen mit dem IWF kann Kairo darauf zählen, auch Finanzhilfen der EU (rund fünf Milliarden US-Dollar) und aus den USA (1,4 Milliarden Dollar) zu erhalten. Die Aussichten auf solch einen Deal – dem sich zuvor jede ägyptische Regierung verweigert hatte – sind laut Finanzminister Mursi Al-Sajed Hegasi inzwischen gut. Die Gespräche würden sehr »geschmeidig« verlaufen, erklärte der Minister am 30. Januar, wobei er bei dieser Gelegenheit für neue Investitionen in Ägypten warb – etwa im Rahmen eines der Public-Private-Partnership-Programme seiner Behörde.

Diese Offenheit der Muslimbrüder gegenüber westlichen Investitionen ist einerseits der Wirtschaftslage geschuldet. So ist das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes, das vor dem Aufstand rund fünf Prozent jährlich betragen hatte, auf nur noch zwei Prozent abgesackt. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt aktuell bei zwölf Prozent. Schlimmer noch, jeder zweite Ägypter unter 25 Jahren ist ohne Erwerbsjob. Es war die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit, die den Aufstand gegen das Mubarak-Regime angefacht hatte. Auch die Inflation wächst, die Teuerungsrate ist inzwischen bei zehn Prozent angelangt. Und weil das Tourismusgeschäft fast zusammengebrochen ist, ausländische Direktinvestitionen kaum noch fließen (ein Rückgang von umgerechnet 2,9 Milliarden Dollar im ersten Quartal 2011 auf 219 Millionen ein Jahr später), befindet sich das bevölkerungsreichste arabische Land mit seinen 80 Millionen Einwohnern am Rande der Staatspleite: Das Haushaltsdefizit liegt bei rund elf Prozent des BIP. Die Devisenreserven sind von 35 Milliarden US-Dollar auf nur noch 15 Milliarden geschrumpft. Das ägyptische Pfund hat gegenüber dem US-Dollar dermaßen stark verloren, daß die Regierung gegen Jahresende Kapitalverkehrsbeschränkungen einführen mußte. Zugleich wendet sie rund 25 Prozent ihrer jährlichen Ausgaben für Lebensmittel- und Energiesubventionen auf – eine Maßnahme, um diejenige Hälfte der ägyptischen Bevölkerung überhaupt am Leben zu erhalten, die längst in bitterster Armut vegetieren muß. Bis zum 22. Juni reichen Regierungsangaben zufolge die Getreidevorräte noch. Die frühere Kornkammer ist einer der größten Lebensmittelimporteure der Welt.

Der Westen nutzt die wirtschaftlich prekäre Lage und erhöht den Druck zur Umsetzung der genannten »Strukturreformen«. Zugleich streben auch Teile der Muslimbruderschaft eine neoliberale Transformation der ägyptischen Wirtschaft an. Ihre Strategie veröffentliche die politisch einflußreichste Gruppierung Mitte 2012 unter dem Titel Al-Nahda (die Renaissance). Kernpunkt ist ebenfalls die weitere Forcierung der Marktreformen, die unter Mubarak eingeleitet wurden, sowie die Verkleinerung des Staatssektors. Diese Betonung des Privaten werde aber wenig zur Etablierung »sozialer Gerechtigkeit beitragen, der wichtigsten Forderung der Revolution des 25. Januar«, kommentierte die Onlinezeitung Al-Ahram. Es sind offensichtlich in erster Linie die anhaltenden Unruhen, die eine Umsetzung der Strukturreformen des IWF bislang blockieren. Bei den Muslimbrüdern rennt der Internationale Währungsfonds hingegen offene Türen ein. Mit ihren intendierten Marktreformen scheinen sie die Strategie der türkischen islamischen Regierungspartei AKP kopieren zu wollen. Deren Machtbasis besteht aus einer islamisch geprägten, konservativen Bourgeoisie.

Derzeit ist Ägyptens Wirtschaftsstruktur vom Staatskapital geprägt, das größtenteils vom Militär kontrolliert wird – einem der wichtigsten Wirtschaftsakteure des Landes. Zudem brachten die Marktreformen der späten Mubarak-Ära einen oligarchisch verfilzten Privatsektor hervor, der von Günstlingen der alten Herrschaftsclique dominiert wird. Mit der angestrebten Marktreform wollen die neuen Herren auch diese militärisch-oligarchische Doppelherrschaft über Ägyptens Wirtschaft überwinden.

* Aus: junge Welt, Montag, 4. Februar 2013


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