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Die "Müllmenschen" von Kairo

Im Slumviertel Al-Duwayqah leben die Bewohner von der Abfallverwertung. Ein Besuch am Rande der Gesellschaft

Von Karin Leukefeld *

Ahmed Zakaria, 24 Jahre, harrte 18 Tage auf dem Tahrir-Platz aus, bis der ägyptische Präsident Hosni Mubarak abtrat. »Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dieses Land gehört mir«, sagt er nun. Alles wolle er tun, um Ägypten wieder aufzubauen, die Zeit der schlechten Gewohnheiten und Gleichgültigkeit seien vorbei. Über die Internetseite »Elmasry Elgedeed« (Das neue Ägypten) hatten sich Ahmed Zakaria und Tausende andere zum großen Kehraus verabredet. Neue und konventionelle Kommunikationswege mobilisierten die »neuen Ägypter« zum Aufräumen des »Platzes der Befreiung« in Kairos Zentrum. Schluß mit Lethargie und Vetternwirtschaft, das zukünftige Ägypten soll freundlich und offen, zuverlässig und sicher für alle seine Bewohner werden.

Nach den Wochen der Revolution türmen sich überall in der Stadt die Müllberge. Familien und Freunde, Arbeitskollegen, Studierende und die Männer vom städtischen Reinigungsdienst arbeiten nach dem Abgang Mubaraks Hand in Hand, um den Abfall zu beseitigen. Aber auch die »Müllmenschen«, wie sie hier genannt werden, sind dabei. Von ihnen, von den Habenichtsen am Rande der ägyptischen Gesellschaft, sei der Aufstand vom 25. Januar allerdings nicht getragen gewesen, sagt der Arzt und Anthropologe Youssef Zeki. Nein, nicht der Zorn und der Hunger brachten das Regime Mubarak zum Einsturz. Dabei hätten gerade die Millionen Slumbewohner allen Grund dazu gehabt.

Nur wenige der jungen Ägypter, die den Tahrir-Platz putzen, kennen die Lebensbedingungen der Ausgegrenzten vom Stadtrand. Diese kommen nachts und sammeln ein, was die Bewohner des Zentrums, der Wohngebiete und Viertel hinterlassen. Küchen-, Haus- und Baumüll, Abfälle aus Krankenhäusern, Büros und Hotels transportieren sie in ihre eigene Stadt, am Fuße des Mokattam.

Das Viertel am Berg

Fliegen! Fliegen, wohin das Auge blickt. Am Boden, an den Fenstern, in den Türen, über dem Obst und Gemüse der kleinen Verkaufsstände, über dem Fleisch der Metzgerläden summen Schwärme von Fliegen. Sogar in den Gesichtern der Menschen sitzen die schwarzen Punkte, werden mit einer Handbewegung davongejagt, um einen Moment später an einer anderen Stelle wieder zu landen. Es ist der Müll in Al-Duwayqah, der die Fliegen magisch anzieht und ihnen ein sattes Leben beschert. Müll auf Straßen und Plätzen, auf Treppen, in Hauseingängen, in Garagen, sogar auf den Dächern stapelt er sich. Abfall wird mit Autos und Fahrrädern, auf Karren und mit Eseln transportiert, in Säcken, Körben und Tüten, als Bündel oder aufgetürmt, ausgebreitet vor den Häusern. Müll, wohin das Auge blickt.

Dazwischen leben die »Zabaleen«, wie die Müllmenschen auf Arabisch heißen. Das Slumviertel Al-Duwayqah wird auch Mokattam genannt, nach dem Hausberg der ägyptischen Hauptstadt, der sich östlich der alten Zitadelle erstreckt. Im siebenten Jahrhundert kamen die Bewohner von Alt-Kairo (Fustat) hierher, um auf dem Plateau des Mokattam zu beten oder einfach nur auf die Stadt zu sehen, die, vom Nil umgeben, wie eine Oase in der flimmernden Wüstenhitze lag.

»Nicht für eine Million Euro würde ich auch nur einen Tag hier leben wollen«, sagt Samir und parkt geschickt seinen Wagen am Rande der schmalen, unbefestigten Hauptstraße. Endlos schieben und drängen sich große und kleine Lieferwagen aneinander vorbei, transportieren Müll in die eine oder andere Richtung, während sich Frauen und Kinder, mit Stapeln frisch duftender Brotfladen auf den Armen oder Köpfen balancierend, geschickt durch den Verkehr schlängeln. Samir war schon oft hier. Das heißt, er ist schon oft hier durchgefahren, erzählt er. Wenn er Touristen zum Kloster Sankt Simeons bringt, das unmittelbar hinter der Siedlung liegt, fährt er zügig an der Müllhalde vorbei, Fenster und Türen bleiben geschlossen.

Auf der Suche

Die Vorfahren der Zabaleen waren koptische Bauern am Oberen Nil. Anfang der 1940iger Jahre lebten sie in ihren Dörfern abgeschnitten von der rasanten Entwicklung in der Kapitale. Es fehlte an Arbeit, Schulen und Krankenhäusern, und so zogen sie in Scharen nach Kairo, auf der Suche nach einem besseren Leben. Immer mehr siedelten sich unterhalb des Mokattam an, wo traditionell schon Kopten wohnten, die ursprünglichen, christlichen Bewohner Ägyptens. Unterschiedlichen Quellen zufolge sind heute noch sechs bis zehn Prozent der 80 Millionen Ägypter Christen.

Die Zabaleen sammeln und verwerten rund 40 Prozent des Kairoer Mülls und können ihn zu fast 85 Prozent recyceln. Im unteren Teil von Mokattam leben Muslime, die nicht daran beteiligt sind. Ihr Wohnviertel ist leicht zu erkennen:. Abfall ist hier nicht gestapelt, es schwirren keine Fliegenschwärme herum, und es hängt auch kein beißender Geruch in der Luft. An der Grenze zwischen dem koptischen und muslimischen Teil liegt das Zentrum der Gesellschaft für Umweltschutz (A.P.E.) – eine kleine eigene Welt. Auf der einen Seite ruft der Muezzin zum Gebet, auf der anderen Seite ragt ein Kirchturm in den Himmel. Sobald man das Eingangstor passiert, herrscht Stille, die nur von dem Zwitschern der Vögel unterbrochen wird. Zwischen Oleanderbüschen und Apfelsinenbäumen führen Wege zu Werkstätten und Schulräumen, etwas abseits liegt eine Gesundheitsstation.

60000 Menschen leben in Mokattam, erzählt Moussa Nazmi, ein junger Mann, der vor 24 Jahren hier geboren wurde. Er habe Glück gehabt, sagt er. Vor zehn Jahren wurde er in die Schule von A.P.E. aufgenommen. Moussa lernte nicht nur die hohe Kunst des Müllrecyclings, er lernte Arabisch lesen und schreiben, später auch Englisch. Inzwischen ist es seine Aufgabe, Ausländern Leben und Arbeit der »Müllmenschen« zu zeigen, nicht zuletzt hofft er auf einen kleinen Zusatzverdienst.

Tötung der Schweine

Als die Zabaleen noch ihre Schweine hatten, erzählt Moussa, gab es im Slum eine große Kompostierungsanlage, in der organischer Müll und Tierkadaver gelagert wurden. 2002 wurde diese Anlage wegen des großen Gestanks nach Katameya verlagert, einem anderen Slum. In Mokattam blieb fruchtbarer Boden, auf dem ein ökologischer Park entstand. Vor zwei Jahren ließ die Regierung die hier gehaltenen Schweine töten – wegen Krankheitsgefahr, Stichwort »Schweinegrippe«. Dabei seien die Tiere stets nützlich, wie der Arzt Ateef Farih sagt, der seit 18 Jahren in dem Slum kostenlose Gesundheitsberatung anbietet. Die Schweine vertilgten den organischen Müll und boten der christlichen Bevölkerung billiges Fleisch und ein zusätzliches Einkommen.

»Wir haben um die Tiere gekämpft«, erinnert sich Moussa mit leuchtenden Augen. Drei Tage lang antworteten die jungen Zabaleen mit Steinen auf Schläge und Tränengas der Polizei. »Doch dann hatten sie ein Dutzend unserer Leute gefangen und sagten, sie würden sie nur freilassen, wenn wir die Schweine herausgeben, was sollten wir machen?!«

Es war nicht die erste Konfrontation zwischen den Zabaleen und der Polizei. Im September 2008 wurden mehr als hundert Bewohner des Slumviertels unter einem Erdrutsch begraben. Doch anstatt zu helfen und die Verschütteten zu bergen, riegelten die offiziellen Stellen das Gebiet ab und verhängten eine Nachrichtensperre. Die Einwohner seien vor der Gefahr gewarnt worden, hieß es, sie hätten ihre Häuser aber nicht verlassen und seien daher selber schuld. »Ja, man hat unsere Leute aufgefordert zu gehen«, bestätigt Moussa. »Doch wohin sie gehen sollten, hat ihnen niemand gesagt. Es gab keine neuen Häuser, also blieben die Menschen.« Und starben. Erst nach der Katastrophe und nach Protesten wurde den meisten der Überlebenden ein neues Wohngebiet zugewiesen, sagt Moussa. »Viele Tote konnten wir nicht beerdigen.«

Hilfe von außen

Die Stadt der Müllmenschen ist eines von etwa tausend überbevölkerten Armenvierteln um Kairo, wo es kaum Strom oder sauberes Wasser gibt, keine Schulen, keine Krankenhäuser. Die Zahl der Slumbewohner in und um Kairo wird auf bis zu elf Millionen geschätzt, Kopten und Muslime. Hier hilft nicht der Staat, hier agieren reiche Geschäftsleute, religiöse Stiftungen und Hilfsorganisationen, auch aus dem Ausland.

Die A.P.E. beispielsweise wurde von Nagib Sawiris gegründet, einem der reichsten Männer Ägyptens. Sawiris ist unter anderem Inhaber der Mobiltelefonfirma Orascom, ihm gehört ein Radio- und Fernsehsender. Während der 18tägigen Revolution war Sawiris einer der Männer im »Rat der Weisen«, die mit Vizepräsident Omar Suleiman verhandeln sollten. Vermutlich deswegen beteiligten sich die Zabaleen nicht an dem Aufstand. Sawiris sorgte dafür, daß es in Mokattam Strom und Wasser gibt, daß Häuser und Schulen gebaut wurden, ein Krankenhaus ist in Planung.

Krankheitserreger

Der Unternehmer ist Kopte und fühlt sich offenbar verpflichtet, mit seinen Möglichkeiten den weniger Privilegierten seiner Glaubensgemeinschaft zur Seite zu stehen, vor allem den Frauen und Kindern. Er eröffnete Kindergärten, Jugendclubs und Schulen, in denen die Kinder auch nach dem Ende des normalen Unterrichts bei den Aufgaben betreut werden. Feriencamps werden organisiert, alles unter dem Motto »Lerne und werde frei«. Für Mädchen und Frauen wurde ein Recycling-Zentrum errichtet, in dem sie nicht nur lernen, Müll zu trennen und zu recyceln. Auch Sprachunterricht steht auf dem Programm. Es gibt eine Webschule, in der Teppiche und Decken, Röcke und Schals aus Stoffresten produziert werden. In einer Werkstatt wird Papier geschöpft und mit Blüten und Stickereien zu Schmuckkarten, Briefpapier und Geschenktüten verarbeitet.

Die Produkte werden auf Basaren und in kleinen Geschäften der koptischen Gemeinden in Kairo vertrieben, erreichen aber über ein internationales Netzwerk von Kirchen und Hilfsorganisationen, auch Kunden im Ausland. Freiwillige Ärzte und Krankenschwestern klären Mädchen und junge Frauen über Schwangerschaftsverhütung auf, unterrichten die Frauen in Hygiene vor und nach Geburten – und im Alltag.

Weil die Frauen meist Müll aus Krankenhäusern und Arztpraxen sortieren, was sie häufig sogar in den eigenen vier Wänden tun, sind sie besonders von Hepatitis B betroffen. Alle Projekte funktionieren nach einem Multiplikatorensystem, sagt der Arzt Ateef Farih, der seit 20 Jahren dreimal wöchentlich unentgeltlich unterrichtet. Die Frauen und Kinder hätten die Aufgabe, ihr Wissen an ihre Familien, Freunde und Nachbarn weiterzugeben.

Angesichts des Alltags in Mokattam ist das keine leichte Aufgabe, gibt Moussa Nazmi zu. Am frühen Nachmittag, nach getaner Arbeit, verschnaufen die Männer inmitten von Müllresten in einem Straßencafé und unterhalten sich bei einer Wasserpfeife. Kinder toben in Müllbergen herum, jagen Katzen und Hunde, während ihre Mütter sich eine kleine Pause bei einer Tasse Tee gönnen, bevor sie weiter mit bloßen Händen den Müll aus den Säcken sortieren, den ihre Männer oder Söhne um sie herum ausgeschüttet haben: Plastik zu Plastik, Metall zu Metall, Holz zu Holz, Glas zu Glas, Papier zu Papier, Stoff zu Stoff, Essensreste zu Essensresten. Wenn die neu sortierten Müllberge groß genug, die Drahtkörbe oder Kisten gefüllt sind, kommen wiederum die Männer, um sie zur nächsten Station der Recyclingkette zu bringen.

Massenarmut

Der Entwicklungsbericht der Vereinten Nationen gibt an, daß der Index für die menschliche Entwicklung (HDI) in Ägypten in den vergangenen 20 Jahren um jährlich 1,5 Prozent gestiegen sei. Damit liegt Ägypten heute auf Platz 101 von 169 Ländern. Gesundheit, Bildung und Durschschnittseinkommen gelten als wesentliche Faktoren des »Wohlstandsindikators«, mit denen die Lebensqualität eines Landes bewertet wird. Doch wie es mit Statistiken und Verallgemeinerungen so ist, haben sie immer zwei Seiten: 40 Millionen der Ägypter gelten als Analphabeten und leben unter der Armutsgrenze von zwei US-Dollar Tageseinkommen.

Obwohl sie viele Gründe gehabt hätten, gegen das Regime Mubarak anzugehen, verließen die Müllmenschen von Kairo ihre Slums erst, als es wieder Arbeit für sie gab, am Tag des Kehraus. Für sie könnte mit einer neuen Regierung eine bessere Zeit beginnen, doch um die Lebensverhältnisse in den Slums zu ändern, werden Engagement, Geld und Zeit benötigt. Hier hat sich die Welt von Facebook und Twitter noch nicht etabliert, hier herrschen Unwissenheit und Gewalt, Abhängigkeit und Hunger. Doch selbst das Elend ist relativ: »Mokattam ist das Four-Season-Hotel im Vergleich zu dem, wie die Menschen am Oberen Nil leben«, sagt Youssef Zeki, der Arzt und Anthropologe. Dort liegt die Armut bei über 60 Prozent, 85 Prozent der Frauen können nicht lesen und schreiben, Stammesstrukturen bevormunden die Menschen. Das Regime Mubarak hatte vor zehn Jahren versprochen, die Armut im Land zu halbieren, doch die 180 Milliarden US-Dollar, die für entsprechende Hilfsprogramme vorgesehen waren, sind niemals bei den Menschen angekommen.

Die dringendste Aufgabe einer jeden Übergangsregierung sei es, den Menschen Brot zu geben, sagt Mohamed Aboulghar, Arzt, Wissenschaftler und Vertreter der Nationalen Reformbewegung auf dem Tahrir-Platz. »Vor der Revolution war für mich das wahrscheinlichste Szenario ein Aufstand der Ärmsten aus den Slums. Aber es geschah etwas ganz anderes. Die normalen Ägypter, die nicht hungern, die in einigermaßen guten Wohnungen leben und Arbeit haben, sie haben diese Revolution gemacht.« Nunmehr müsse der Kampf gegen Korruption und Armut Priorität haben. Dabei könne sich ein Blick nach Brasilien lohnen, auf die Slums und Verelendung: »Dort war die Situation ganz ähnlich. Sie haben große Fortschritte gemacht. Das kann uns auch gelingen.«

* Aus: junge Welt, 19. Februar 2011

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