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In Kairo keinen Augenblick Angst vor den Panzern

Magdi Gohary war zwei Wochen lang täglich auf dem Tahrir-Platz


Magdi Gohary, gebürtiger Ägypter, lebt seit über 50 Jahren in Deutschland. Er ist Vorstandsmitglied der Landesarbeitsgemeinschaft Frieden und internationale Politik in Bayern und Mitglied des Bundesarbeitskreises Gerechter Frieden in Nahost der Partei DIE LINKE. Die jüngsten Ereignisse in Ägypten erlebte er jedoch am Brennpunkt des Geschehens: Mehr als zwei Wochen lang war er täglich auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Nach seinen Eindrücken befragte ihn für das Neue Deutschland (ND) Rolf-Henning Hintze.

ND: Wie sind die beeindruckende Logistik der Demonstration und die Disziplin der Protestierenden auf dem Tahrir-Platz in Kairo zu erklären?

Gohary: Die Furcht vor Schlägertruppen des Innenministeriums war groß. Um auf den Platz zu kommen, musste man sich mehrfach ausweisen und eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen. Wegen meines fortgeschrittenen Alters waren die Jungen sehr verlegen und entschuldigten sich dafür. Später wurden die Ankommenden von einem Spalier singender und skandierender Gruppen empfangen. Alle wussten: Wir ziehen unabhängig von Alter und politischer Gesinnung an einem Strang.

Die Stimmung auf dem Platz war fantastisch. Ab nachmittags gab es Demonstrationszüge von Frauen, Ärzten, Richtern, Anwälten oder Professoren, dazu Delegationen aus allen Provinzen. Außerdem gab es unterschiedlich große Diskussionsrunden. Auf drei Bühnen wurden Reden gehalten, patriotische Lieder gespielt und Gedichte vorgetragen.

Noch einmal zur Logistik. Von Ladestationen für Handys haben wir gehört, aber wie wurde eigentlich ein so banales Problem wie das der Toiletten gelöst? Wie war es mit Waschgelegenheiten?

Am südlichen Platzende wurden die Waschräume der Omar-Akram-Moschee erweitert. Auf der Baustelle vor dem Hotel Nil-Hilton gab es beispielsweise ein kleines WC, das von Klempnern unter den Protestlern erweitert worden war. Daneben ein großes Schild mit der ironischen Aufschrift: Sitz der Regierenden Nationaldemokratischen Partei. Es gab Teeküchen, Wasserverteiler, Ausgabeplätze für kostenloses Essen und Friseure.

Wie wurden die Redner auf dem Platz bestimmt?

Nach meinem Eindruck gingen die Organisatoren so vor: Erstens Hinweise und Ansagen über Gefahren oder Defizite bei der Logistik. Zweitens hatten Angehörige der Getöteten, Honoratioren, bekannte Schriftsteller, Gerichtspräsidenten, Schauspieler, Dichter und andere Künstler Rederecht. Ebenfalls Vertreter von »Kifaya« (Es reicht) und der Bewegung des 16. April. Ich hielt dreimal eine kurze Rede, weil ich von Mitdiskutanten der Organisatoren als Redner vorgeschlagen worden war. Dabei habe ich Solidaritätsgrüße aus Deutschland bekannt gegeben, die ich erhalten hatte.

Offenbar ist in Ägypten ein neues Gemeinschaftsgefühl entstanden. Ist der Eindruck richtig, dass der Kampf gegen das System Mubarak den Ägyptern ein neues Gefühl von Würde gegeben hat?

Einmal hatte ich mit fünf Frauen aus der Oberschicht ein Gespräch über die neue Rolle der Frauen im Aufstand. Viele Männer aus unteren Schichten schlossen sich der Diskussion an. Diese Frauen hatten niemals im Leben mit solchen Menschen diskutiert, sie kannten sie bisher nur als Bedienstete. Die einen hatten viel zu essen, die anderen fast nichts. In unserem Gespräch ging es um den Zusammenhang von Brot und Würde. Die Suche nach Würde war die gemeinsame Klammer der Beteiligten.

Korrespondentenberichte konzentrierten sich auf die Lage in Kairo und anderen Großstädten. In welcher Weise beteiligte sich die Landbevölkerung?

Mit Ausnahme von Scharm el Scheich gab es im ganzen Land keine protestfreie Zone. Viele Menschen aus den Dörfern fuhren in die Kreisstädte und schlossen sich der Volksbewegung an.

Hat die nur in Resten vorhandene ägyptische Linke bei den Protesten eine erkennbare Rolle gespielt?

Alle Menschen mit progressiven Ansichten haben mitgemacht. Rifaat Alsaid, der seit Jahren von der Basis isolierte Vorsitzende der kleinen linken Gruppe »Al Taschamuu« (Die Versammlung), nahm neben Vertretern der sogenannten Oppositionsparteien und der Muslimbruderschaft an einer Dialogrunde mit Vizepräsident Suleiman teil. Dafür wurden er und die anderen von ihrer Basis so heftig kritisiert, dass sie den Dialog abbrachen.

Vorsitzender des Militärrats ist General Tantawi, ein Gefolgsmann Mubaraks. Belastet das nicht die demokratischen Entwicklung? Wie groß ist Tantawis Einfluss?

Tantawi besitzt meines Wissens keine wirkliche Macht innerhalb der Streitkräfte. Er war mit Mubarak eng verbunden und jahrelang Kommandeur der Republikanischen Garde. Die Armeeführung versucht aber, niemandem – Mubarak selbst und Tantawi eingeschlossen – die äußere Würde zu nehmen. Sie weiß, wie hoch das Ansehen der Streitkräfte bei der Bevölkerung ist. Ich habe mit vielen Obersten und Majoren gesprochen und wusste von Anfang an: Diese Menschen werden niemals schießen. Im Notfall würden sie den Schießbefehl verweigern und ihre Waffen gegen die Befehlsgeber richten. Die Armeeführung kannte diese Stimmung sehr gut, sie dürfte auch dem Pentagon bekannt gewesen sein. Die Bevölkerung spürte das und hatte keinen Augenblick Angst vor den Panzern.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Februar 2011


Schluß mit lustig?

Ägyptische Armee will Streiks verbieten

Von Werner Pirker **


Die Absichten der sich als vorgebliche Treuhänder des ägyptischen Volksaufstandes in Szene setzenden Streitkräfte, den revolutionären Prozeß abzuwürgen, sind schon in den ersten Stunden der dem Rücktritt Mubaraks folgenden unmittelbaren Armeeherrschaft offenkundig geworden. Zwar zeigt sich der Militärrat um den Nachweis seiner politischen Korrektheit bemüht, indem er einige von den Demonstranten und wohl auch von der US-Diplomatie gewünschte Reformen wie die Auflösung des von der Diktatur installierten Parlaments und die Außerkraftsetzung der alten Verfassung durchführte. Gleichzeitig ließ er wissen, daß Ruhe wieder erste Bürgerpflicht sei und sozialer Aufruhr zu unterbleiben habe.

Die ägyptische Volksbewegung, so eindrucksvoll sie auf den Straßen Kairos und Alexandrias auch in Erscheinung getreten ist, hat noch keinen revolutionären Durchbruch erzielt, das heißt, keine wirkliche Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse bewirkt. Mubaraks engste Vertraute - angefangen vom neuen Staatschef Omar Suleiman, über Verteidigungsminister Hussein Tantawi, bis zum Stabs­chef Sami Hafes Eman, die alle Washingtons vollstes Vertrauen genießen -- sitzen nach wie vor an den wichtigsten Schalthebeln. Den gegenwärtigen Nutznießern der Volkserhebung ging es nie um die Durchführung, sondern um die Verhinderung eines (wirklichen) Umsturzes. Das meinen sie mit ihrem Staatsstreich getan zu haben.

Um eine weitere Radikalisierung der Volksbewegung abzuwenden, haben sie ihrem Mentor den Rest gegeben. Das entscheidende Element der Radikalisierung war die zum Generalstreik entschlossene neue ägyptische Arbeiterbewegung. Die hat sich in den vergangenen Jahren, vor allem in den Zentren der Textilindustrie, zur stärksten materiellen Kraft der radikalen Systemopposition entwickelt. Sie stellt die Macht- und Demokratiefrage als eine Frage der sozialen Emanzipation der subalternen Klassen. Im übrigen hat auch die sogenannte Facebook-Bewegung ihren Ursprung in der Unterstützung des Kampfes der Textilarbeiter von Mahallah.

Durch nichts sieht sich der von der ägyptischen Oberschicht und den westlichen Hegemonialmächten angestrebte »geordnete Übergang« so sehr bedroht wie von der Bereitschaft der Habenichtse, die Demokratie über den rein konstitutionellen Rahmen hinauszutreiben und ihr einen sozialen Inhalt zu verleihen. Und schon fährt die Armee, die Streiks nicht länger zulassen will, die konterrevolutionäre Faust aus. Doch haben die Generäle noch die Befehlsgewalt, ihre unteren Chargen gegen die Millionenmassen bewaffnet vorgehen zu lassen? Es dürften die verzweifelten Unterschichten und nicht die in Ägypten äußerst moderaten und keineswegs sozialrevolutionären Moslembrüder sein, die der demokratischen Wertegemeinschaft im Westen den Spaß an der Revolution, die sie sich so bunt ausgemalt hat, noch gründlich verderben werden.

** Aus: junge Welt, 16. Februar 2011

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