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Haft für immer

Ägypten: Mubarak zu lebenslangem Gefängnis verurteilt. Proteste der Regimegegner. Anwalt kündigt Berufung an

Von Karin Leukefeld *

Der frühere ägyptische Präsident Hosni Mubarak und sein damaliger Innenminister Habib Al-Adli sind in Kairo zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Beide wurden für schuldig befunden, für den Tod von bis zu 900 Demonstranten verantwortlich gewesen zu sein, die von ägyptischen Sicherheitskräften der Polizei und des Innenministeriums im Verlaufe der Proteste im Januar und Februar 2011 getötet worden waren. Mindestens 6000 Menschen waren damals verletzt worden. Die Zeit unter Mubarak sei eine Ära von »30 Jahren der Dunkelheit« und ein »finsterer Alptraum« gewesen, sagte Richter Ahmet Rifaat. Der habe erst geendet, als das Volk sich gegen Mubarak erhoben habe. Weder Mubarak noch Al-Adli hätten die Tötungen der Demonstranten verhindert. Yasser Bahr, ein Anwalt aus dem Verteidigerteam Mubaraks, kündigte Berufung gegen das Urteil an. Es sei »voll von juristischen Fehlern«, sagte Bahr. Man werde die Berufung zu »eine Million Prozent« gewinnen.

Sechs ebenfalls angeklagte hohe Polizeioffiziere wurden dagegen freigesprochen. Die Anklage habe zu wenige konkrete Beweise vorgelegt, begründete Richter Rifaat die Entscheidung. Sowohl Mubarak als auch seine beiden Söhne Gamal und Alaa wurden zudem vom Vorwurf der Korruption freigesprochen. Die Sache sei verjährt.

Anwälte von Opferangehörigen protestierten nach der Urteilsverkündung noch im Gerichtssaal. »Das Volk will die Justiz säubern«, riefen sie und hielten Banner hoch, auf denen stand: »Gottes Urteil ist die Hinrichtung«. Bei einem Handgemenge im Gericht und davor sollen mindestens 60 Menschen verletzt worden sein. Unter Berufung auf Sicherheitskreise berichtete das staatliche Fernsehen später, der 84jährige Mubarak habe auf dem Transport ins Gefängnis Tora einen Herzinfarkt erlitten. Bisher war Mubarak in einem Militärkrankenhaus untergebracht.

Nach Bekanntwerden des Schuldspruchs, der live im Fernsehen übertragen worden war, zogen Tausende Menschen in Kairo auf den Tahrir-Platz und protestierten gegen die Urteile. Auch in Alexandria, Suez und anderen Städten kam es zu Protesten. Der Freispruch für die Polizeioffiziere wurde zurückgewiesen, einige Demonstranten forderten die Todesstrafe für Mubarak. »Der Gerechtigkeit wurde nicht Genüge getan«, sagte Ramadan Ahmed, dessen Sohn am 28. Januar 2011 getötet wurde. Prozeß und Schuldspruch seien »ein Schwindel«. Mohammed Mursi, der Präsidentschaftskandidat der Muslimbruderschaft , bezeichnete das Urteil als »Farce« und forderte ein neues Verfahren mit »gerechter Bestrafung«.

Ann Harrison, stellvertretende Leiterin der Abteilung für den Mittleren Osten und Nordafrika bei Amnesty International, begrüßte das Urteil gegen Mubarak und Al-Adli. Gleichzeitig kritisierte sie, daß die wahren Umstände der damaligen Ereignisse noch immer im dunkeln lägen. Die ägyptischen Behörden müßten eine »unabhängige Untersuchungskommission« einrichten, die »die Lücke füllt, die das Gericht offengelassen hat«.

Richter Ahmed Rifaat habe sich mit dem Mittelweg zwischen Todesstrafe und Freispruch dem Druck (der Militärs) gebeugt, hieß es von seiten der Kritiker. Er habe die angespannte Stimmung im Land zwischen Anhängern und Gegnern Mubaraks vor der Stichwahl um das Präsidentenamt beruhigen wollen. Bei der Abstimmung am 16. und 17. Juni stehen sich der letzte Ministerpräsident unter Mubarak, Ahmed Schafik, und ein Kandidat der unter Mubarak verbotenen Muslimbruderschaft, Mohammed Mursi, gegenüber. In den Städten Hurghada und Fajjum wurden am Samstag die Wahlkampfzentralen von Schafik angegriffen und beschädigt.

Bis zu 20000 Menschen hatten sich am Samstag auf dem Tahrir-Platz versammelt, Hunderte schlugen dort Zelte auf und blieben über Nacht. Auf Spruchbändern kündigten die Demonstranten eine »neue Revolution« im Namen der 900 »Märtyrer« an. Sie skandierten auch Parolen gegen den Militärrat, der nach dem Abgang von Mubarak im Februar 2011 die Macht übernommen hatte. Einige Demonstranten forderten die Absage der Präsidentschaftswahlen. Amr Magdy, der die Nacht zum Sonntag auf dem Tahrir-Platz verbracht hatte, ist überzeugt, daß der Platz sich wieder mit Demonstranten füllen werde. »Alle Institutionen werden noch immer von Mubarak-Leuten kontrolliert. Der einzige Weg, in Ägypten Gerechtigkeit zu bekommen, ist der Protest.«

* Aus: junge Welt, Montag 4. Juni 2012


Wut über Urteil gegen Mubarak

Erneut wurde der Kairoer Tahrir-Platz zum Sammelpunkt des Zorns

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem **


Ein Zivilgericht hat Ägyptens ehemaligen Präsidenten Mubarak zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach dem Spruch kam es in Kairo zu Ausschreitungen zwischen Befürwortern und Gegnern des ehemaligen Diktators.

Erst im Verlaufe des Sonntags kehrte in Kairo allmählich wieder Ruhe ein. Auf dem Tahrir-Platz, dem Hauptschauplatz der Revolution von 2011, hatten rund 20 000 Menschen die Nacht zuvor in Zelten verbracht. »Das ist unser Platz«, war auf Plakaten zu lesen, und: »Die Revolution geht weiter.«

Tausende Polizisten waren Samstagfrüh in den Straßen des Kairoer Stadtzentrums aufgezogen. Doch gegen die Massen von wütenden Menschen hatte die Staatsmacht keine Chance. Immer wieder gerieten Demonstranten aneinander: jene, die sich ein noch härteres Urteil, am besten die Todesstrafe, gegen den ehemaligen Präsidenten Hosni Mubarak und seine Vertrauten erhofft hatten, und jene, die glauben, dass er zu Unrecht vor Gericht gestellt worden ist. »Wir können von Glück sagen, dass es kein Blutvergießen gab«, sagte ein Polizeikommandeur am Abend gegenüber BBC News: »Der Graben zwischen den Menschen ist sehr tief.«

Und das Urteil hat nichts getan, um dies zu ändern. Nein, verkündete der Richter, weder Mubarak noch seine beiden Söhne, noch der damalige Innenminister Habib al-Adli oder die ebenfalls vor Gericht gestellten Ex-Chefs der Sicherheitsdienste hätten den Befehl gegeben, auf Demonstranten zu schießen. Nein, sie hätten sich auch nicht bereichert. Aber ja: Mubarak und Adli hätten geduldet, dass das Feuer auf die Menschenmengen eröffnet wurde, und seien damit verantwortlich für den Tod von mindestens 850 Menschen.

Während der Verlesung des Urteils wurden die Richter als »Marionetten des Regimes« beschimpft. Später kündigten beide Seiten Revision an. Die Richter seien vom regierenden Militärrat beeinflusst worden, dem Mubarak-Regime so wenig Schuld zuzuschieben wie möglich, kritisierte der Staatsanwalt. Immerhin hätten die Mitglieder des Militärrates früher Mubarak treu gedient.

Die Verteidigung monierte hingegen, das Gericht habe den Schuldspruch »an den Haaren herbei gezogen«, obwohl keinem der Angeklagten ein Fehlverhalten nachgewiesen wurde. Die Frage nach den Verstrickungen von alten und neuen Machthabern ist momentan in Ägypten allgegenwärtig. So wurden in der Nacht zum Sonntag zwei Büros des Präsidentschaftskandidaten Ahmed Schafik angegriffen. Schafik, der sich am 16./17. Juni in einer Stichwahl Mohamed Morsi von der Muslimbruderschaft stellen wird, war der letzte Premier vor dem Sturz Mubaraks.

Bei der israelischen Regierung, wo die Entwicklungen im Nachbarland besonders aufmerksam beobachtet werden, sorgte die Nachricht vom Schuldspruch gegen Mubarak für Bedauern: Mubarak, so hieß es, sei ein starker Partner gewesen, der maßgeblich zu Frieden und Sicherheit in der Region beigetragen habe.

** Aus: neues deutschland, Montag 4. Juni 2012


Fast-Alleintäter Mubarak

Von Roland Etzel ***

Lebenslänglich für Mubarak - vernachlässigt man jene vermutliche Minderheit, die ihn hängen sehen will, und die andere, vielleicht etwas größere Minderheit, die ihm noch die Treue hält, konnte man eigentlich erwarten, dass das Urteil bei den Ägyptern auf große Akzeptanz stößt. Stattdessen erbitterte Proteste.

Die Wut der Demonstranten, von welcher Fraktion auch immer, ist aber nur zu verständlich. Das, was da in Kairo als »Gerichtsverhandlung« ablief, war ein dreistes Bubenstück der regierenden Militärclique, die unverfroren ihren - bis Februar 2011 - Oberbefehlshaber als Alleintäter schuldig sprechen lässt. Die ägyptische »Justiz« begibt sich damit kühn auf neue Pfade, allerdings gänzlich abseits der Rechtsprechung. Sie verurteilt Mubarak, obwohl sie angeblich keine Beweise gefunden hat, wer Befehle für die tödlichen Schüsse auf Hunderte Demonstranten gegeben hat, und darum ging es hier. Das ist wirklich sehr praktisch, denn ansonsten wären die Ermittler ganz schnell bei den jetzt regierenden Generalen angelangt.

Das durfte nicht sein, und so wurden auch alle Chargen darunter für nicht schuldig erklärt. 800 Menschen wurden erschossen, und das Gericht kann nicht ergründen, warum. Die alten Freunde Mubaraks im Westen, die auch die neuen Freunde der ihm nachfolgenden Herrscher sind, hoffen nun inständig, dass Mubarak weiter schweigt, auch im Interesse seiner geräuschlosen Begnadigung, irgendwann nach den Wahlen.

*** Aus: neues deutschland, Montag 4. Juni 2012 (Kommentar)


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