"Diese Urteile müssen geändert werden!"
Auf dem Kairoer Tahrir-Platz will man sich mit den Gerichtsentscheidungen gegen Mubarak und Co. nicht abfinden
Von Oliver Eberhardt, Kairo *
Seit dem Urteil gegen Ex-Präsident
Mubarak gehen die Menschen in
Ägypten wieder zu Tausenden auf die
Straße. Es geht um Gerechtigkeit,
aber auch um die künftige Richtung:
Auf dem Tahrir-Platz versammelt sich
eine gespaltene Gesellschaft.
Als die Sonne untergeht, prallen
für einen Moment zwei Welten
aufeinander. Aus der Ferne rufen
die Muezzine zum Gebet; irgendwo
in der Nähe plärrt aus einem
Radio Madonnas »Like a Prayer«.
Männer mit Bärten, die meisten
von ihnen jung, verneigen sich auf
Pappen, manchmal auch auf Mänteln
oder Plastikplanen, improvisierten
Gebetsteppichen zum Gebet,
während ein paar Jungs daneben
mit ihren Freundinnen zum
Lied tanzen, dessen Text Ende der
80er Jahre in westlichen Ländern
als blasphemisch kritisiert wurde.
Es ist ein Bild des Friedens, der
Koexistenz, »es ist so, wie ich mir
mein Land wünsche«, sagt Mohammad
Khairi, ein Journalist, der
für eine ausländische Nachrichtenagentur
das Geschehen beobachtet:
»Leider ist das hier nur eine
Illusion, ein Traum.«
Am Samstag (2. Juni) waren die Urteile
in den Verfahren gegen den gestürzten
Präsidenten Hosni Mubarak,
seine Söhne und eine Reihe
seiner engsten Vertrauten gesprochen
worden. Das Gericht
verhängte allein gegen Mubarak
und dessen letzten Innenminister
Habib al-Adly lebenslange Haftstrafen
– nicht etwa, weil sie einen
Schießbefehl gegeben haben, sondern
weil ihnen das Gericht vorwirft,
nichts getan zu haben. Seitdem
zieht es allabendlich Tausende,
oft Zehntausende auf den Tahrir-
Platz im Stadtzentrum von
Kairo: Säkulare, Religiöse, Arbeiter
und Studenten, Arme und Reiche,
geeint durch den Glauben,
dass das Gericht keine Gerechtigkeit
gesprochen hat. »Diese Urteile
müssen geändert werden!«, ruft
ein junger Mann, nachdem er sein
Gebet beendet hat: »Wenn das
nicht geschieht, wird es eine neue
Revolution geben.« Die Umstehenden
stimmen ein: »Die Revolution
geht weiter.« Es sei eine Zumutung,
sagt der 22-jährige Student
Tarek, dass auch heute noch
die gleichen Leute das Sagen haben,
die schon zu Mubaraks Zeiten
die Macht hatten: »Mubarak und
seine Söhne sind weg, aber alle
anderen sind noch da.«
Demokratie, Freiheit – egal,
wen man in diesen Tagen hier auf
dem Platz fragt, diese beiden Begriffe
fallen immer und immer
wieder; man sei das Volk, man
vertrete seinen Willen, wird immer
wieder gesagt. »Dieser Platz
entfaltet mittlerweile eine nahezu
mystische Wirkung auf die Menschen
«, sagt der ägyptische Soziologe
Ali Hassan: »Sich hier zu
versammeln, gibt den Leuten das
Gefühl, Dinge verändern zu können.
Man hat in diesem Land nie
Demokratie gelernt.
Die große Frage ist, was passieren
wird, wenn die Menschen
feststellen, dass sie nicht alle die
gleichen Ziele verfolgen, dass in
einer Demokratie auch Entscheidungen
akzeptiert werden müssen,
die einem nicht gefallen.« Das
hat zu einer recht absurden Situation
geführt: Innerhalb von Stunden
versammeln sich Zehntausende
auf dem Tahrir-Platz. Aber
nur 46 Prozent der Wahlberechtigten
haben in der ersten Runde
der Präsidentschaftswahlen abgestimmt
und dabei Ahmed Schafik,
den letzten Premierminister unter
Mubarak, zum zweitplatzierten
Kandidaten gemacht; jenen Schafik,
gegen den sich nun die Forderung
der Demonstranten richtet,
Kandidaten, die Führungspositionen
im alten Regime inne hatten,
von den Wahlen auszuschließen.
Der Militärrat unter Führung von
Feldmarschall Mohammed Hussein
Tantawi und das von islamischen
Parteien dominierte Parlament
blockieren sich gegenseitig.
Zuletzt ist es mehrmals zu Angriffen
auf Wahlkampfbüros Schafiks
gekommen.
»Das Gewaltpotenzial ist bei
Teilen der Öffentlichkeit sicherlich
da«, sagt Hassan. Und Journalist
Khairi fügt hinzu: »Es kann jederzeit
zur Explosion kommen.«
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 7. Juni 2012
Zurück zur Ägypten-Seite
Zurück zur Homepage