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Wackelkandidat am Nil

Bevölkerungsexplosion, Arbeitslosigkeit und Krisenfolgen: Am Ende der Ära Mubarak steht Ägypten vor riesigen wirtschaftlichen Problemen

Von Raoul Rigault *

Die Regionalmacht Ägypten steht an einem Wendepunkt. Die Ära von Staatspräsident Hosni Mubarak, der das Land seit knapp dreißig Jahren im Ausnahmezustand regiert, geht ihrem Ende entgegen. Bei den Wahlen im kommenden Jahr wird der ehemalige Luftwaffengeneral wohl nicht mehr antreten. Ob die Machtübergabe an seinen 46jährigen Sohn Gamal gelingt, ist fraglich. Zudem existiert mit dem ehemaligen Chef der Internationalen Atomenergiebehörde Mohammed ElBaradei seit einigen Wochen ein ernstzunehmender Widersacher, der einen Großteil der Opposition hinter sich weiß.

Wie stark die ökonomische und soziale Instabilität ist, zeigen die aktuellen Turbulenzen an der Kairoer Börse. Da sich der alternde Autokrat nach einer kurzfristigen Gallenblasenoperation Anfang März in Heidelberg nicht in der Öffentlichkeit zeigte und weiterhin Ministerpräsident Ahmed Nasif die Geschäfte führt, brach am Montag der Leitindex GX-30 um 3,8 Prozent ein. Das ist der schwerste Tagesverlust seit dem Platzen der Dubai-Blase Ende November.

Dabei scheint von Krise keine Spur. 4,7 Prozent betrug das Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr. Andere Staaten wären damit hochzufrieden. Doch angesichts der durchschnittlich sieben Prozent in den Vorjahren ist die von der Rezession in den OECD-Staaten verursachte Delle unverkennbar. Und Ägypten braucht hohe Zuwächse, da sich die Einwohnerzahl in den letzten drei Jahrzehnten auf mehr als 83 Millionen verdoppelt hat. Jedes Jahr drängen 600000 Jugendliche neu auf den Arbeitsmarkt, von denen viele keine oder keine angemessene Stelle finden. Das schafft sozialen Sprengstoff. Der Regierung zufolge stieg die offizielle Erwerbslosigkeit infolge der Krise sprunghaft auf 2,37 Millionen. Laut dem BRD-Entwicklungshilfeministerium aber sind allein »mehr als drei Millionen Akademiker arbeitslos«. Im Entwicklungsindex der UNO nimmt Ägypten unter 182 Staaten nur Rang 123 ein. An kuriosen Widersprüchen mangelt es nicht: Während das Land 44,6 Millionen Handy-Besitzer mit Vertrag und 13,1 Millionen Internetnutzer zählt, liegt die Analphabetenrate weiterhin bei 28,6 Prozent.

Die globale Krise hat die strukturellen Probleme verschärft. Der Außenhandel schrumpfte in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres um ein Viertel, wobei die Ausfuhren stärker zurückgingen als die Einfuhren und das Bilanzdefizit zunahm. Bei 23,5 Milliarden Dollar lag es bereits 2008. Nicht einmal mehr die Hälfte der Importe wird durch Exporterlöse gedeckt. Bislang konnten dies Suezkanalgebühren, Tourismus und Überweisungen von Arbeitsmigranten ausgleichen. In Zeiten rückläufigen Schiffsverkehrs, Konsumzurückhaltung der westlichen Mittelschicht und der Verdrängung ägyptischer Arbeiter durch südostasiatische und chinesische Migranten am Persischen Golf funktioniert das Modell immer weniger.

Die Regierung hatte in den vergangenen beiden Jahren viel zu tun, eine Binnenrezession zu vermeiden. Dazu schnürte sie zwei Konjunkturprogramme im Gesamtumfang von umgerechnet vier Milliarden Dollar, beschloß diverse Steuererleichterungen. Die Zentralbank senkte seit Anfang 2009 sechs Mal die Leitzinsen. Im Effekt stiegen die Staatsausgaben um ein Viertel und die Nettoneuverschuldung auf 6,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Der Schuldenberg der öffentlichen Hand wuchs um zwölf Prozent und erreicht nun 139 Milliarden Dollar, was 73,8 Prozent des BIP entspricht. Sorgen bereitet auch die mit 13,2 Prozent hohe Inflation, die zu einer kontinuierlichen Entwertung der Löhne führt.

Mubarak und Co. sind keine Verwalter des Status quo. Dem neoliberalen Lehrbuch folgend betreiben sie seit 2005 eine strikte Privatisierungspolitik. Investitionsminister Mahmoud Mohieldin erarbeitete im Herbst 2008 ein neues Gesetz, um den Privatisierungsprozeß voranzutreiben. Nach russischem Vorbild aus der Jelzin-Ära sollen kostenlos Anteile von 155 staatlichen Unternehmen an alle Ägypter über 21 Jahre ausgegeben werden. Bei Firmen von strategischer Bedeutung, wie Zement-, Stahl-, Arzneimittel- und Textilherstellern, wird der öffentliche Anteil auf 67 Prozent reduziert. Bei geringerer Bedeutung soll der Staatsanteil auf ein Drittel sinken. Ähnlich wie in Osteuropa wird dies die etablierten Oligarchen stärken und neue schaffen.

Bereits jetzt gärt es, wie der Kampf der Tanta-Flax-Belegschaft um die Zahlung ihrer ausstehenden Löhne zeigt. Im Parlament führte der Fall Ende Februar zu einer Schlägerei zwischen Abgeordneten von Regierungsmehrheit und Opposition. Obwoh das Parlament undemokratisch gewählt wurde und faktisch einflußlos ist, entwickelt sich dessen Sitz immer mehr zum Anziehungspunkt für Sozialproteste. Am 1. März fanden dort fünf verschiedene Demonstrationen statt.

In den meisten dieser Fälle stellt sich die Exekutive taub und will den Sozialabbau sogar beschleunigen. Anfang des Monats beschloß das Kabinett die Anhebung des Rentenalters von 60 auf 65 Jahre für alle Berufsanfänger ab 2012 sowie weitere Einschnitte. Finanzminister Youssef Boutros-Ghali verspricht sich davon »eine Erhöhung der Sparquote von 14 auf 18 Prozent des BIP und eine Steigerung des Wachstums auf mindestens neun Prozent«. Analysten hingegen sehen es als einen Versuch, das bestehende Rentenloch durch Kürzungen zu stopfen. Damit fördert das Establishment wider Willen die Erosion des wichtigsten Stützpfeilers der imperialistischen Ordnung im Nahen Osten.

* Aus: junge Welt, 17. März 2010


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