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Düstere Zeiten für Mursi

Ägyptens Verfassungsgericht erklärte auch Wahl der zweiten Parlamentskammer für illegal. Proteste gegen Regierung nehmen zu

Von Christian Selz *

Die Wahlen zum ägyptischen Senat im vergangenen Jahr waren illegal, weil das zugrunde liegende Wahlgesetz verfassungswidrig war. Das entschied das Oberste Verfassungsgericht am Sonntag in Kairo. Nach dem Spruch der Richter, die gleichzeitig die Wahl der verfassungsgebenden Versammlung für illegal erklärten, steht Ägypten nun gänzlich ohne legitime Parlamentskammer da. Der Schura-Rat genannte Senat hatte die gesetzgebende Gewalt erst im vergangenen Jahr erhalten, als die Verfassungsrichter das ebenfalls rechtswidrig gewählte Parlament auflösten. Unmittelbare Auswirkungen hat der Richterspruch vom Sonntag zwar nicht, die Kammer soll bis zu Neuwahlen bestehen bleiben. Für Ägyptens Präsidenten Mohammed Mursi bedeutet die Diskreditierung der islamistisch dominierten Kammer dennoch einen weiteren schweren Schlag, die Proteste gegen seine Regierung werden im Land ohnehin von Woche zu Woche stärker.

Es ist eine handfeste Legitimitätskrise, der Mursi nun gegenübersteht. Der Shura-Rat, dessen Abgeordnete das umstrittene Staatsoberhaupt zu einem Drittel selbst ernennen konnte, ist zu mehr als zwei Dritteln islamistisch dominiert. Stärkste Kraft ist Mursis Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, der politische Arm der Muslimbrüder. Nach ihrer Aufwertung durch die Übernahme der Gesetzgebungskompetenz im vergangenen Jahr wurde die traditionell zahnlose Parlamentskammer über Nacht zum wichtigsten Rückhalt des Präsidenten. Weil lediglich sieben Prozent der Ägypter zuvor aber überhaupt bei den ursprünglich unbedeutenden Schura-Wahlen abgestimmt und etliche Parteien nicht einmal Kandidaten aufgestellt hatten, galt das Ersatzparlament schon vor seiner gerichtlich erklärten Illegalität als fragwürdig.

Die politische Krise fällt in Ägypten nun mit seit Wochen andauernden Protesten gegen regelmäßige Stromabschaltungen zusammen. Die Regierung versucht, die Engpässe derzeit mit vergünstigten Gas- und Öllieferung aus Katar und Libyen zu überwinden, doch das Flickwerk aus solchen Maßnahmen kann über die strukturellen Probleme nicht hinwegtäuschen. Die Stromerzeugung des Landes deckt den Bedarf nicht mehr. Die eigene Gasproduktion ist rückläufig, es fehlt bei ungünstigen Wechselkursen an Devisen für Treibstoffkäufe. Und zu allem Überfluß sind auch die Investitionen in das Stromnetz in den vergangenen Jahren vernachlässigt worden. Für die Ägypter bedeutet das derzeit häufig Abende bei Kerzenlicht und die Aussicht auf einen heißen Sommer ohne Klimaanlagen. Neben Straßenprotesten haben sich bereits Kampagnen gebildet, die dazu aufrufen, Stromrechnungen gar nicht mehr zu begleichen. Doch das sind nicht die einzigen Verluste für den angeschlagenen Staat. Weil die Abschaltungen Produktionsausfälle bedeuten und Investitionen ausbleiben, fehlen Ägypten dringend benötigte Steuereinnahmen – auch um die Krise zu beheben. Zudem dürfte der Strombedarf mit Beginn des Ramadan am 9. Juli, wenn Muslime in den Abendstunden ihr religiöses Fasten brechen, zusätzlich steigen.

Als Rettungsvorschlag präsentierte die Regierung am vergangenen Samstag den Plan, das ägyptische Stromnetz mit dem Saudi-Arabiens zusammenzuschließen. Das 1,2 Milliarden Euro teure Projekt soll die unterschiedlichen Hauptbelastungszeiten – in Saudi-Arabien nachmittags und in Ägypten morgens und abends – auszunutzen. 1320 Kilometer Hochspannungsleitungen und ein 20 Kilometer langes Unterseekabel sollen gebaut und verlegt werden – nach Regierungsangaben beider Länder in nur zwei bis zweieinhalb Jahren. Ob die hektische Umsetzung des seit 2010 geplanten Vorhabens Mursis Kabinett noch retten kann, ist dennoch fraglich. Die Neuwahlen für beide Parlamentskammern stehen noch in diesem Jahr an, Mursi selbst spricht von Oktober. Zudem kündigt ein Bündnis oppositioneller Parteien und Gruppen zu seinem einjährigen Amtsjubiläum am 30. Juni bereits eine Großdemonstration vor dem Präsidentenpalast an. Über sieben Millionen Ägypter haben im Rahmen der Kampagne Tamarod (arabisch für »Rebellion«) bereits eine Petition unterzeichnet, die Mursi zum Rücktritt auffordert.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 4. Juni 2013


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