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"Intifada der Würde und der Demokratie"

Die Volksaufstände sind das wichtigste Ereignis im Mittleren Osten seit drei Jahrzehnten. Ein Gespräch mit Mustafa Barghouti *

Mustafa Barghouti ist Arzt, Vorsitzender und Abgeordneter der gemäßigt linken Palästinensischen Nationalen Initiative Al Mubadara und Aktivist der globalisierungskritischen Sozialforumsbewegung. Bei den Präsidentschaftswahlen im Januar 2005 erzielte er mit 19,8 Prozent der Stimmen hinter Amtsinhaber Mahmud Abbas das zweitbeste Ergebnis.

Wie interpretieren Sie die beispiellose Welle von Massenprotesten gegen die jeweiligen Regimes, die den arabischen Raum derzeit erschüttern?

Das ist eine Intifada der Würde und der Demokratie gegen Einparteienregierungen und korrupte Diktaturen. Endlich hält die Demokratie im Mittleren Osten Einzug. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das auch die Heuchelei der westlichen Regierungen verdeutlicht, die sich erst jetzt, sehr spät und schüchtern für einen Verzicht auf Repressionsmaßnahmen aussprechen. Was gegenwärtig geschieht, ist die bedeutendste historische Veränderung der letzten 30 Jahre in diesem Teil der Region.

Eine Veränderung welcher Art?

Vor allem handelt es sich um eine Umwälzung, deren Ziel die Errichtung demokratischer Grundpfeiler ist, wie glaubwürdige und reguläre Wahlen, Pluralismus und Gewaltenteilung. Der einzige Fall im Mittleren Osten, wo es all das gab, war Palästina. Im Januar 2006 haben hier beispielhafte Parlamentswahlen stattgefunden, deren Ergebnis von den selbsternannten Meistern der Demokratie auf internationaler Ebene, also den USA und Europa, annulliert wurde, indem sie die von der siegreichen Hamas geführte Regierung isolierten. Die Demokratie setzt sich durch, weil die Menschen diese Ungerechtigkeiten nicht länger ertragen. Die Jugendlichen sind der Vetternwirtschaft überdrüssig, die ihnen die Zukunftsperspektiven raubt. Man sollte nicht vergessen, daß ein Viertel der gebildeten Jugend die arabische Welt verläßt.

Welches Gewicht besitzen in diesem Zusammenhang die Enthüllungen der rund 1 700 Dokumente der Palästinensischen Autonomiebehörde, die der im Golfstaat Katar ansässige Fernsehsender Al-Dschasira seit dem 23. Januar veröffentlicht?

Das ist eine große Sache. Sie zeigt drei Dinge: Erstens enthüllt sie die mangelnde Legitimität der Vermittler. Die USA verhalten sich parteiisch zugunsten Israels. Zweitens dokumentieren sie das absolute Desinteresse Tel Avivs am Frieden und an der Zwei-Staaten-Lösung, weil die dortigen Regierungen, unabhängig von den enormen Zugeständnissen der palästinensischen Seite, nicht bereit sind, eine Gegenleistung zu erbringen. Drittens bringen die Verhandlungen nichts, weil sie aufgrund des massiven Ungleichgewichts zwischen den Verhandlungspartnern zu nichts führen.

Welcher Weg bleibt den Palästinensern dann, um einen unabhängigen Staat zu bekommen, der diesen Namen wert ist?

Der gewaltfreie Volkswiderstand. Voraussetzung dafür ist allerdings die Wiederherstellung der palästinensischen Einheit; desweiteren ein Boykott Israels und eine Politik, deren Ziel die Entwicklung zum Wohle der Bevölkerung ist.

Neben der von Mahmud Abbas geleiteten Autonomiebehörde gibt es im Gaza-Streifen die Hamas-Regierung unter Ismail Hanija. Wie beurteilen Sie deren Politik?

Negativ. Die wiederholen dort die Fehler der Fatah mit derselben Klientel- und Vetternwirtschaft.

Mit der Hamas verbindet sich im Westen immer die Angst vor dem Islamismus. Wird Hanijas Bewegung in Gaza die Scharia einführen?

Nein, das glaube ich nicht. Zumindest nicht in absehbarer Zeit.

Die Rolle von Al-Dschasira sorgt zur Zeit in den besetzten Gebieten, aber auch im Libanon und anderswo für heftige Auseinandersetzungen. Die Büros des Senders in Kairo wurden jetzt geschlossen, aber auch die Autonomiebehörde wirft ihm Manipulation vor. Wie beurteilen Sie dessen Arbeit?

Es ist doch nicht Al-Dschasiras Schuld, wenn das Volk auf die Straße geht und gegen die herrschenden Verhältnisse revoltiert. Die Fernsehjournalisten mischen sich einfach unter die Menge und zeigen, was geschieht. Meines Erachtens spielen sie eine wichtige Rolle. Allerdings in dem Sinne, daß sie gute Informationen liefern und nicht, daß sie zum Aufstand anstacheln. Vielleicht gäbe es auch in einigen europäischen Ländern Massenproteste, wenn die Leute dort besser informiert würden.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, 3. Februar 2011


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