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Ägypten droht ein Bürgerkrieg

Ausnahmezustand in drei Städten. Unruhen halten an. Islamisten wollen Bürgerwehren *

Trotz des am Sonntag abend von Ägyptens Staatschef Mohammed Mursi über drei Städte verhängten Ausnahmezustands haben die Unruhen am Montag angehalten. In Kairo lieferten sich Demonstranten und die Polizei den fünften Tag in Folge heftige Auseinandersetzungen, dabei kam mindestens ein Mensch ums Leben. Auch in Port Said, Ismailia und Suez demonstrierten Tausende gegen die Notstandsbestimmungen. Nach Straßenschlachten zum zweiten Jahrestag des Aufstands gegen den damaligen Staatschef Hosni Mubarak in der vergangenen Woche war die Gewalt am Wochenende nach Todesurteilen gegen 21 Fußballfans eskaliert. Die Zahl der insgesamt Getöteten wird mit mehr als 50 Menschen angegeben.

Die islamistische Organisation Gamaa Islamija machte die säkulare Opposition für die jüngste Welle der Gewalt verantwortlich und kündigte die Gründung von Bürgerwehren an. Sollte es den Behörden nicht gelingen, die öffentliche Ordnung wieder-herzustellen, sei es »das Recht des ägyptischen Volkes, Gruppen zu bilden, um privates und öffentliches Eigentum zu schützen und der Aggression gegen unschuldige Bürger entgegenzutreten«, sagte ihr Sprecher Tarek Al-Somr. Die Regierung in Kairo nahm am Montag einen Gesetzentwurf an, der dem Staatschef weitere Sondervollmachten gewährt. So soll Mursi künftig den Einsatz der Armee zum Erhalt der »öffentlichen Sicherheit« anordnen können.

Unterdessen hat das wichtigste ägyptische Oppositionsbündnis für den kommenden Freitag zu neuen Kundgebungen im ganzen Land aufgerufen. Die »Ziele der Revolution« müßten erreicht werden, erklärte die Nationale Heilsfront am Montag. Eine Einladung Mursis zu Gesprächen hatte sie zuvor zurückgewiesen. »Wir werden nicht an einem Dialog teilnehmen, der sinnlos ist«, sagte Mohamed ElBaradei, einer der führenden Köpfe der Heilsfront, in der mehrere liberale und linke Parteien und Bewegungen zusammengeschlossen sind.

Aus: junge Welt, Dienstag, 29. Januar 2013


Die Stunde des Henkers

Ausnahmezustand in Städten Ägyptens

Von Werner Pirker **


Wie in den bleiernen Jahrzehnten der Mubarak-Diktatur herrscht in Ägypten wieder der Ausnahmezustand. Zwar nicht im ganzen Land, sondern nur in den am stärksten von gewalttätigen Auseinandersetzungen betroffenen Städten Port Said, Suez und Ismailia. Die Gefahr einer blutigen Abrechnung des Machtblocks aus Moslembrüdern und Militärs mit der Volksbewegung und damit einer Rückentwicklung zur Gewaltherrschaft ist dennoch offenkundig.

Zwei Jahre nach dem Ausbruch des Volksaufstandes fühlen sich dessen Aktivisten um den Sieg betrogen. Die Demokratisierung, die sie mit dem Sturz des Diktators eingeleitet zu haben meinten, ist über erste Ansätze nicht hinausgekommen. Der alte Staatsapparat blieb im wesentlichen intakt, an den Eigentumsverhältnissen hat sich nichts geändert. Die soziale Situation der Subalternen ist nicht besser, eher schlechter geworden. Es rächt sich, daß der Durchführung von allgemeinen Wahlen keine Konstituierende Versammlung vorausgegangen ist. Statt auf breiter Basis, unter Einschluß aller gesellschaftlichen Gruppen eine neue Verfassung zu erarbeiten, wurde eine verfassungsmäßige Ordnung nach den Vorstellungen der islamistischen Wahlsieger durchgepeitscht. Sie beruht auf weitgehenden Machtbefugnissen des Präsidenten und schreibt die privilegierte Stellung der Armee als Staat im Staat fest.

Während sich auf dem Tahrir-Platz eine Protestbewegung gegen die Regression neu zu formieren begann, verurteilte ein Gericht in Kairo 21 Angeklagte, die für das Blutbad in einem Fußballstadion in Port Said verantwortlich gemacht wurden, zum Tode. Jubel bei den Angehörigen der 74 Anhänger des Kairoer Fußballklubs Al-Ahly, die damals ums Leben kamen. Entsetzen bei den Angehörigen der zum Tode Verurteilten und den Fans des lokalen Klubs Al-Masry, die die Angeklagten aus dem Gefängnis befreien wollten. Bei den Ausschreitungen vor fast genau einem Jahr hatten die Sicherheitskräfte tatenlos zugesehen, was den Verdacht nährte, daß das Massaker ein von oben angeordneter Racheakt an den Al-Ahly-Ultras war, die das Mubarak-Regime an vorderster Front bekämpft hatten. Die Hauptverantwortlichen für den »Fußballkrieg« von Port Said sind deshalb eher nicht in der Fanszene zu suchen.

Es waren die ersten Todesurteile die seit Beginn des ägyptischen Aufruhrs verhängt wurden. Über keinen der für die blutige Abrechnung mit friedlichen Demonstranten Verantwortlichen – von Mubarak bis zu den Kamelreitern – ist ein derart gnadenloses Urteil gefällt worden. Ob sich die unterschiedlich motivierten Protest­energien allerdings zusammenführen lassen, läßt sich noch nicht sagen. Eher scheint es, als sollte mit diesem Urteil eine Fortsetzung des »Fußballkrieges« provoziert und die Eskalation der Gewalt zu einem für die Volksbewegung tödlichen Finale getrieben werden.

Aus: junge Welt, Dienstag, 29. Januar 2013 (Kommentar)


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