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Die wilden Pferde vom Nil

Von Pedram Shahyar *

Vor fast genau zwei Jahren, am 17. Dezember 2010, löste die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi, einem von den Behörden drangsalierten, verzweifelten jungen Mann, in Tunesien eine Revolution aus, deren Wellen nach und nach den gesamten Nahen Osten erfassten. Von Tunis über Kairo, von Bahrain bis nach Daraa in Syrien, selbst bis nach Teheran und Tel Aviv reichte in den folgenden Monaten die Welle des »arabischen Frühlings«. Für »Brot, Freiheit und Würde« gingen Millionen Menschen auf die Straßen, stürzten oder erschütterten die Herrschaftsstrukturen ihrer Länder. Alles Gerede vom Ende der Geschichte entpuppte sich als Lüge: Die Massen waren zurück, und sie machten Geschichte!

Lange bestehende Herrschaftspyramiden wankten und fielen in sich zusammen. Man traute kaum seinen Augen: Auch in Madrid, in Athen und der New Yorker Wallstreet wehte der Wind des Kairoer Tahrir-Platzes. Zum ersten Mal in der modernen Geschichte wurden Formen des Widerstandes aus dem Süden direkt und bewusst im globalen Norden übernommen, gegen die Macht des Kapitals und für wirkliche Demokratie.

Auch wenn jetzt viel »vom arabischen Herbst« geredet wird - vorbei ist diese große Erhebung noch lange nicht. Revolutionen sind keine linearen und berechenbaren Prozesse. Das erlebt man derzeit in Kairo. Niemand weiß, was morgen passiert. Offenheit der Situation ist das Hauptsignum postrevolutionärer Perioden, in denen sich die aktive Menge bisheriger Zwänge entledigt hat. Trotz aller Probleme und Rückschläge: Zumindest in Ägypten, dem politischen Zentrum der arabischen Welt, ist der Wandel der letzten Jahre atemberaubend.

Nach dem Aufstand gegen Husni Mubarak im Januar 2011 erlebten wir im darauffolgenden April die zweite Welle der Revolution gegen den Machtanspruch der Generäle. Wieder war der Tahrir Schauplatz von Demonstrationen und Straßenkämpfen. So gelang es in diesem Jahr dem ersten frei gewählten Präsidenten von den Muslimbrüdern, die Armeeführung von der unmittelbaren Macht zu verdrängen. Beflügelt vom außenpolitischem Erfolg bei der Vermittlung im Gaza-Konflikt, griffen die Islamisten im November dann aber nach der ganzen Macht. Doch sie hatten sich verrechnet. Hunderttausende strömten auf die Straßen. Die dritte Welle der Revolution begann. Die revolutionäre Jugend, immer mehr geprägt von linken und linksliberalen Strömungen, führte viele, sehr unterschiedliche Gruppen zusammen. Zum ersten Mal gelang es ihnen, die Islamisten auf der Straße zu überflügeln. Die wichtige Rolle der Linken dabei blieb in den deutschen Medien bisher völlig unterbelichtet. Ihre Parolen bestimmen die Demonstrationen, der Sozialdemokrat Mohammed al-Baradai und der Linksnasserist Hamdin Sabbahi sind ihre Führungsfiguren.

Noch am fernen Horizont und sehr unscharf - aber in diesen Tagen scheint am Nil das Bolivarianische Projekt auf Arabisch herauf. Die als übermächtig geltenden Islamisten haben sich isoliert. Das ist vielleicht das Großartigste an der ägyptischen Revolution: diese Mentalität, nie wieder - und koste es, was wolle - ein diktatorisches Regime erdulden zu wollen! Die ägyptischen Massen sind nun Vorreiter der großen arabischen Revolution. Sie sind wie ein wildes Pferd, und jeder Reiter, der hier die Zügel zu eng nimmt, wird den Preis mit einigen gebrochenen Knochen bezahlen.

Pedram Shahyar. Unser Autor (Jahrgang 1973) zählt sich zur Interventionistischen Linken und kehrte dieser Tage von einem Aufenthalt in Ägypten zurück.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 15. Dezember 2012


Kein gemeinsamer Nenner

Warum der Verfassungsentwurf die ägyptische Bevölkerung spaltet

Von Fabian Köhler **


Befürworter sehen in ihm die Vollendung des Arabischen Frühlings. Gegner fürchten eine islamistische Diktatur. Vom Presserecht bis zur Finanzierung des Militärs - kaum eine Passage des Entwurfs der ägyptischen Verfassung wird nicht diskutiert. Doch am Tage des Referendums sind die Fronten verhärteter denn je.

»Lasst uns die Verfassung zu Fall bringen«, rief Hamdin Sabahi von der »Nationalen Erlösungsfront« seine Anhänger im ägyptischen Fernsehen auf, mit Nein zu stimmen. Damit hatte sich das größte Oppositionsbündnis endgültig festgelegt. Die Muslimbruderschaft reagierte mit neuen Flugblättern, auf denen sie versuchte, Kritiker vom »demokratischen Charakter« der Verfassung zu überzeugen.

»Wie hältst du es mit dem Islam?« lautet die Gretchenfrage heute in Ägypten. Kaum ein Aspekt der Verfassung entzweit die Bevölkerung so sehr wie die Frage, wie viel Islam im postrevolutionären Ägypten Platz hat. »Die Prinzipien der Scharia sind die Hauptquelle der Gesetzgebung«, definiert Artikel 2 der Verfassung. Ein breites Bündnis aus Säkularen und Linken stellt sich dagegen. Die Verfassung »festigt die islamische Herrschaft in Ägypten«, urteilte George Messiha, ehemaliger Parlamentsabgeordneter und koptischer Christ. Aber auch streng konservative Islamisten lehnen die Formulierung ab. Nicht vage »Prinzipien«, sondern »Gesetze der Scharia« müsse hier stehen. »Gott« und nicht, wie die Verfassung schreibt, »das Volk« sei einziger Souverän. Als höchste legislative Instanz fordern sie nicht Gerichte, sondern Gelehrte der Kairoer Al-Azhar-Universität - der maßgeblichen rechtlichen Autorität im sunnitischen Islam.

Dass die Al-Azhar-Universität überhaupt, wenn auch nur mit »beratender« Funktion, im Verfassungsentwurf auftaucht, kritisieren hingegen ägyptische Juristen. Tausende legten in den vergangenen Wochen aus Protest für die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtes ihre Arbeit nieder. Eine Befürchtung, die nach Meinung der ägyptischen Verfassungsrechtlerin Tahani el-Gibaly auch von Artikel 176 der Verfassung genährt wird. Als »desaströs« bezeichnete sie schon im Oktober die Formulierung, wonach nicht unabhängige Richter, sondern - wie unter dem gestürzten Präsidenten Husni Mubarak - das Staatsoberhaupt selbst die Verfassungsrichter ernennt.

Ausführlich werden hingegen religiöse Freiheiten definiert. Die Artikel 3 und 27 sprechen religiösen Minderheiten das Recht auf eigene Gesetzgebung sowie »Gedankenfreiheit«, die »Wahl geistlicher Führer« und das Recht auf den Bau von Gebetshäusern zu. Explizit als solche definiert werden aber allein Christen und Juden. Andere religiöse Minderheiten wie die Bahai bleiben unerwähnt. Ein Grund, warum die koptische Kirche den Verfassungsentwurf ablehnt. »Es war klar, dass so etwas herauskommt«, zeigte sich deren Sprecher, Bischof Paula, in der Zeitung »Al-Ahram« resigniert. Auch ethnische Minderheiten wie Beduinen und Nubier befürchten Diskriminierungen. Grund dafür ist Artikel 11, der von der »Arabisierung von Wissenschaft und Wissen« spricht.

Um Gleichberechtigung bangen auch Frauenrechtsgruppen wie »Baheya ya Masr«. Zwar legt Artikel 30 fest, dass alle »Bürger vor dem Gesetz gleich« sind, allerdings greife Artikel 10 in die Selbstbestimmung von Frauen ein. Staatliche Aufgabe ist es demnach, »Gleichgewicht zwischen den Verpflichtungen einer Frau gegenüber der Familie und ihren öffentlichen Tätigkeiten« herzustellen.

Trotz der Kritik zeigen sich die Befürworter vom Erfolg des Referendums überzeugt: »Das Volk will Stabilität«, war sich Muslimbruder Hussein Ibrahim diese Woche im Staatsfernsehen sicher. Ein Glaube, der schon Mubarak trog.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 15. Dezember 2012


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