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Kalter Putsch am Nil

Ägyptens Präsident baut seine Macht aus. Massenproteste gegen Muslimbruderschaft. Demonstranten setzen Büros der Regierungspartei in Brand

Von Simon Loidl *

In Ägypten hat eine neue Phase im Kampf um die Neuordnung des Staates nach dem Sturz von Hosni Mubarak im Februar 2011 begonnen. Am Freitag demonstrierten Tausende Gegner von Präsident Mohammed Mursi in mehreren Städten des Landes. In Suez, Ismailija und Port Said steckten sie Büros von Mursis »Partei für Freiheit und Gerechtigkeit« in Brand. Auch in Alexandria wurde nach Informationen der Nachrichtenagentur AFP ein Lokal der aus der Muslimbruderschaft hervorgegangenen politischen Organisation gestürmt. Zuvor war es in der Stadt am Mittelmeer bereits zu Zusammenstößen zwischen Gegnern und Anhängern des Präsidenten gekommen. In Kairo ging die Polizei mit Tränengas gegen Demonstranten vor, die sich zu Tausenden auf dem Tahrir-Platz versammelt hatten.

Auslöser der Proteste war die am Vorabend von Mursi per Dekret erlassene Ausweitung seiner Machtbefugnisse. Der Präsident hatte verfügt, daß sämtliche von ihm »zum Schutz der Revolution getroffenen Entscheidungen« bis zum Inkrafttreten einer neuen Verfassung nicht mehr angefochten werden können. Die verfassunggebende Versammlung, in der Mursis Anhänger die Mehrheit haben, kann nun ebenfalls nicht mehr per Gerichtsbeschluß aufgelöst werden. Erst in der Vorwoche hatten sich mehrere Mitglieder des Gremiums aus Protest gegen die Dominanz der Islamisten aus der Versammlung zurückgezogen. Auch das parlamentarische Oberhaus, in dem die »Partei für Freiheit und Gerechtigkeit« ebenfalls über eine Mehrheit verfügt, schützte Mursi per Dekret vor einer möglichen Auflösung.

Außerdem setzte der Präsident nun im zweiten Anlauf die Entlassung des Generalstaatsanwalts durch. Mursi mußte diese Entscheidung im Oktober zunächst zurücknehmen, da er zu diesem Schritt nicht befugt gewesen war. Am Donnerstag beschränkte er kurzerhand die Amtszeit des Generalstaatsanwalts auf vier Jahre, wodurch Abdel-Maguid Mahmud, der bereits seit 2006 im Amt ist, mit sofortiger Wirkung den Posten verlor.

Als Entgegenkommen an die Protagonisten der Proteste, die im Februar 2011 zum Sturz von Mubarak geführt hatten, wurde Mursis Anordung gewertet, den Prozeß gegen Mubarak neu aufzurollen. Die lebenslange Haft, zu der dieser im Juni 2012 verurteilt worden war, wurde von vielen Ägyptern als zu mildes Urteil kritisiert. Auch weitere ehemalige Angehörige der Mubarak-Regierung sollen sich nun noch einmal vor Gericht verantworten müssen. Verfahren gegen Polizisten, die im Verlauf des Aufstands gegen Mubarak auf Demonstranten geschossen hatten und bereits freigesprochen oder zu milden Strafen verurteilt worden waren, werden allerdings nicht neu aufgerollt – genau dies haben viele Gegner von Mursi während der vergangenen Monate aber immer wieder gefordert.

In Kairo finden bereits seit Anfang der Woche teilweise gewalttätige Proteste statt. Am Montag hatten sich Tausende Menschen auf dem Tahrir-Platz und in der Mohammed-Mahmoud-Straße versammelt, um der 47 Opfer eines Massakers von 2011 zu gedenken. Damals ging das Militär brutal gegen Demonstranten vor, die gegen die politische Macht der Armee nach dem Sturz Mubaraks protestierten. Die Gedenkkundgebungen von Anfang der Woche richteten sich nun gegen die Dominanz der Muslimbruderschaft in der verfassunggebenden Versammlung.

* Aus: junge Welt, Samstag, 24. November 2012


Der Pharao lässt grüßen

Ägyptens Präsident Mursi präsentiert Selbstermächtigungsgesetz

Von Karin Leukefeld **


Durch die internationalen Lobeshymnen über seine Vermittlerrolle im jüngsten Konflikt zwischen Israel und Gaza scheint der ägyptische Präsidenten Mursi die Bodenhaftung im eigenen Land verloren zu haben.

Sehr unterschiedlich haben Parteien und ihre Anhänger in Ägypten auf das neue Selbstermächtigungsgesetz reagiert, mit dem sich Präsident Mohammed Mursi am Donnerstag unbegrenzte politische Macht einräumte. Die Verfügung, so Präsidentensprecher Yasser Ali, diene dem »Schutz der Revolution «. Dafür werde ein gleichnamiges Richterkomitee mit landesweiten Niederlassungen gebildet. Amtszeit der Richter betrage ein Jahr. Ob sie gewählt oder ernannt werden sollen, ist unklar. Weiterhin sollen Untersuchungsverfahren über Morde und versuchte Morde während der Proteste im Januar und Februar 2011 wiederaufgenommen werden, erklärte der Präsidentensprecher. Jeder frühere Vertreter der Regierung Mubarak könne unter Anklage gestellt werden. Um das durchzusetzen, werde Staatsanwalt Abdel Meguid Mahmoud entlassen.

Mahmoud war von Mubarak ernannt worden, eine erste Entlassung durch Mursi hatte er ignoriert. Als neuer staatlicher Ankläger wurde Talaat Ibrahim Aballah vereidigt. Unmittelbar nach seiner Amtseinführung erklärte Aballah, er werde die Verfahren gegen den früheren Präsidenten Husni Mubarak und gegen den ehemaligen Innenminister Habib al-Adly wiederaufnehmen. Alle diese Anordnungen sollen vom nächsten Parlament bestätigt werden. Das wiederum wird erst gewählt, wenn eine verfassunggebende Versammlung eine neue Verfassung und Wahlgesetze ausgearbeitet hat. Bis dahin, so der Sprecher, seien Entscheidungen des Präsidenten nicht antastbar.

Während Mursi von seinen islamischen Anhängern bei den Salafisten und der Muslimbruderschaft landesweit gefeiert wurde, verurteilten die säkularen Kräfte der Opposition den Coup und riefen zu Massenprotesten auf. In Kairo und Alexandria gab es am Freitag gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern Mursis.

Besonders scharfe Kritik kam von der weitgehend außerparlamentarischen Oppositionsbewegung, die Anfang 2011 die Proteste gegen Mubarak initiiert und angeführt hatte. In einer gemeinsamen Pressekonferenz riefen die Oppositionsführer El-Baradei, Ayman Nour, George Ishaq, Hamdeen Sabbahy und Amr Moussa zu Protesten angesichts des »Coups gegen die Rechtsstaatlichkeit« auf. Baradei warf Mursi vor, sich »zum neuen Pharao Ägyptens« ernannt zu haben. Auch die Richtervereinigung wandte sich gegen die Selbstermächtigung Mursis, der alle drei politischen Gewalten an sich gerissen habe. Mit der jüngsten Erklärung habe er die »Hinrichtung jeder richterlichen Unabhängigkeit « angeordnet.

Wenige Tage vor der Selbstermächtigung Mursis hatten sich immer mehr säkulare Vertreter aus der verfassunggebenden Versammlung zurückgezogen. Sie protestierten gegen den Einfluss islamischer und islamistischer Kräfte, die Versammlung habe ihre »legale, moralische und politische Legitimität verloren«, hieß es in einer Erklärung. Die säkularen Kräfte fordern stattdessen einen nationalen Dialog in Ägypten, um sich über Eckpunkte einer neuen Verfassung zu einigen.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 24. November 2012


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