Mursi mit Teilrückzieher
Ägyptens Opposition und das Militär bewegen den Präsident zur Rücknahme seines Vollmachtdekrets
Von Pedram Shahyar, Kairo *
Ägyptens Opposition hat zurückhaltend
auf die Annullierung des umstrittenen
Dekrets von Präsident Mohammed
Mursi reagiert. Die Aktivisten
demonstrieren weiter.
Es ist ein Teilsieg für die Nationale
Heilsfront: Ägyptens Präsident
Mohammed Mursi hat dem Bündnis
liberaler und linker Parteien
nachgegeben und die von der
Heilsfront geforderte Annullierung
des Dekrets vollzogen. Zudem tritt
die Heilsfront für eine Verschiebung
des Referendums über den
ebenfalls umstrittenen Verfassungsentwurf
ein. In dieser Angelegenheit
zeigte sich Mursi am
Samstagabend unnachgiebig: Der
Termin für die Volksabstimmung
steht weiter fest: 15. Dezember.
Mursis teilweises Einlenken ist
ein Rückschlag für die Muslimbrüder.
Die Muslimbrüder galten als
die unangefochtene Nummer 1 in
der politischen Landschaft. Eine in
der Gesellschaft tief verwurzelte
Organisation mit unzähligen erfahrenen
Kadern und ein dichtes
Netz von Wohlfahrtsorganisationen,
die Hunderttausende Menschen
binden. So war es keine
Überraschung, als sie bei den ersten
freien Wahlen in Ägypten im
November 2011 mit etwa 45 Prozent
der Stimmen die mit Abstand
stärkste Fraktion in der Verfassunggebenden
Versammlung bildeten.
Zusammen mit der salafistischen
Partei Al Nour verfügten sie
über eine 2/3 Mehrheit und dominierten
den Verfassungsprozess.
Doch Macht und Stärke werden in
revolutionären Zeiten anders gemessen:
Sie sind viel kurzlebiger,
und lang Aufgebautes kann in
Kürze verschwinden, besonders
wenn man mehr will, als einem
zusteht. In den vergangenen zwei
Wochen verloren die Muslimbrüder
zum ersten Mal eine politische
Schlacht im postrevolutionären
Ägypten. Sie hatten mit einem
präsidialen Dekret nach der alleinigen
Dominanz im politischen
System Ägyptens gestrebt. Sie forderten
gleichzeitig die alten Eliten,
die immer noch große Teile des
Staatsapparates kontrollieren, und
die revolutionäre Jugend heraus,
die ihnen von Anfang an misstraut
hatte.
Dabei waren schon die Präsidentschaftswahlen
im Frühsommer für die Muslimbruder nicht
rund gelaufen. Ihr Kandidat Mursi
bekam gerade mal 25 Prozent, und
setzte sich in der zweiten Runde
mit 52 Prozent äußerst knapp gegen
den Mubarak-Mann Ahmed
Schafik durch. Viele, die hier Mursi
gewählt hatten, hassten Schafik
noch mehr als Mursi – ein Vertrauensbeweis
war das nicht.
Mursi ging nach seinem Sieg in
die Offensive, spaltete und entmachtete
die Armee. Er machte
zwar viele symbolische Gesten für
die revolutionäre Jugend, doch vor
allem sein Alleingang im Verfassungsprozess
führte zu immer
mehr Unbehagen und Angst vor
Islamisierung.
So waren die ersten Monate
seiner Präsidentschaft für die
meisten eine große Enttäuschung.
Wirtschaftspolitisch war alles auf
Kontinuität, Weltmarktintegration
und neue Kredite vom Internationalen
Währungsfonds ausgerichtet.
Der hiermit verbundene Subventionsabbau
führte zu einer
Verteuerung von Energie und
Grundnahrungsmitteln, die insbesondere
die unteren Schichten
trifft. Die oberen Mittelklassen
waren beängstigt von der Gefahr
der Islamisierung und dem Verlust
ihrer individuellen Freiheiten. Die
urbane Jugend wurde immer ungeduldiger
und formierte eine neue
starke links-liberale Opposition um
den Sozialdemokraten Mohammed
al-Baradei und den nasseristischen
Sozialisten Hamdeen Sabbahi.
Ausgerechnet in dieser Situation
versuchten die Muslimbrüder
einen Durchmarsch und griffen mit
dem präsidialen Dekret alle Seiten
gleichzeitig an. Mit der Entmachtung
der Justiz wurde dem alten
Regime seine letzte Bastion geraubt,
und mit den diktatorischen
Vollmachten die revolutionäre Jugend
auf die Barrikaden gerufen.
Die liberalen und moderaten Teile
der alten Eliten, symbolisiert durch
Amre Mussa, fügten sich in ein
Bündnis ein, das unter der Führung
der »Nationalen Heilsfront«
agiert. Es rief die Menschen auf die
Straßen. Der Erfolg der Mobilisierungen
überraschte alle und
überragte die islamistischen
Großdemonstrationen in dieser
Woche. Eine von der revolutionären
Jugend angeführte Opposition
war den Islamisten auf der Straße
überlegen. Ein Fakt, den man in
Ägypten kaum überschätzen kann.
Die Mobilisierung am vergangenen
Freitag, genannt »das letzte Ultimatum
«, zeigte Wirkung. Neben
Kairo und Alexandria fanden auch
in den industriellen Zentren in
Mahalla und Suez und sogar in islamisch
dominierten ländlichen
Gebieten Demonstrationen statt.
Am Samstag verkündete das Militär,
auf der Seite des Volkes zu stehen.
Kurz darauf verkündete Mursi
seinen Teilrückzieher. Unabhängig,
wie die nächsten Tage und das
Verfassungsreferendum verlaufen,
die Islamisten haben es mit einem
ungeduldigen Griff zur Macht geschafft,
Vertrauen und Autorität in
breiteren Schichten binnen kürzester
Zeit zu verspielen. Die
Macht zu gewinnen, ist eine Sache;
zu versuchen, sie alleine zu behalten
und zu missbrauchen, wird im
postrevolutionären Ägypten durch
den lebendigen Massenaktivismus
auf den Straßen ganz schnell bestraft.
* Aus: neues deutschland, Montag, 10. Dezember 2012
Geteilte Opposition
Ägypten: Mursi nimmt Präsidialdekret zurück. Referendum soll stattfinden
Von Karin Leukefeld **
Der ägyptische Präsident Mohamed Mursi hat das präsidiale Dekret über seine Sondervollmachten annulliert. Erstmals war es am Samstag zu einem Treffen zwischen Mursi und einigen seiner Kritiker gekommen. Zehn Stunden lang diskutierten die 54 Teilnehmer des »nationalen Dialogtreffens« Berichten zufolge über die Entscheidung Mursis vom 22. November, sich selbst und den Verfassungsprozeß vor der Justiz unantastbar zu machen. Nach dem Treffen erklärte Mohammad Salim Al-Awa, das präsidiale Dekret sei ab sofort aufgehoben. An dem Termin für das Referendum am 15. Dezember allerdings halte Mursi fest, so Al-Awa.
Die scharfen Auseinandersetzungen zwischen Mursi und seinen Anhängern und der vielschichtigen Opposition stärken unterdessen die Macht des Militärs. Wie zur Warnung überflogen am Sonntag mittag mehrere F-16-Kampfflugzeuge die ägyptische Hauptstadt. Am Samstag hatte ein Armeesprecher im Fernsehen zu einem Dialog zur Beilegung der Krise um die neue Verfassung aufgerufen. Alles andere werde Ägypten »in einen dunklen Tunnel führen, der in einer Katastrophe enden werde«, so der Armeesprecher. Die Differenzen »richten sich gegen die Fundamente des Staates und bedrohen die nationale Sicherheit«.
Sollte der Verfassungsentwurf beim Referendum Mitte des Monats scheitern, muß der Präsident binnen drei Monaten die Wahl einer neuen Verfassunggebenden Versammlung anordnen. Der oppositionelle Anwalt Gamal Eid sagte, auch wenn Mursi sein Dekret vom 22. November zurückgenommen habe, habe er sein Ziel erreicht. Der Verfassungsentwurf sei fertig und vor juristischen Eingriffen geschützt. Bei der Verfassungsdebatte hatten sich diejenigen durchgesetzt, die das islamische Rechtssystem der Scharia als Verfassungsgrundlage befürworten. Kritiker dieser Linie hatten sich zurückgezogen, weil sie sich von religiös und islamistisch orientierten Abgeordneten unterdrückt sahen.
Die Oppositionellen, die nicht an dem Dialogtreffen mit Mursi teilgenommen hatten, wiesen die von Mursi vorgeschlagenen Änderungen als nicht ausreichend zurück. Insbesondere das Festhalten am Termin für das Referendum am 15. Dezember sei unakzeptabel.
Eigentlicher Sieger der innenpolitischen Auseinandersetzung scheint derweil das ägyptische Militär zu sein. Gegenüber Mursi – und damit auch gegenüber der Muslimbruderschaft, die Mursi an die Macht gebracht hat – hat die Armeeführung nun öffentlich erklärt, ihn als Präsidenten und das bevorstehende Verfassungsreferendum zu schützen. Streitkräfte riegelten den Präsidentenpalast ab und fuhren Panzer auf. Die ägyptische Tageszeitung Al-Ahram berichtete, die Regierung arbeite an einem neuen Gesetz, das es Soldaten erlaube, Zivilisten festzunehmen.
Zwar wird die Armee inzwischen von einem Vertrauten von Präsident Mohamed Mursi geführt, sie gilt allerdings auch als enger Partner von US-Regierung und NATO. Washington unterstützt die ägyptische Armee jährlich mit mindestens 1,2 Milliarden US-Dollar, um die südliche Grenze Israels und den strategisch wichtigen Suez-Kanal abzusichern. Mehrfach erklärte die Armeeführung, politisch keine Partei zu ergreifen, sondern lediglich der nationalen Sicherheit verpflichtet zu sein. Nach dem Aufruf von US-Außenministerin Hillary Clinton und anschließend von US-Präsident Barack Obama, den ägyptischen Verfassungskonflikt per Dialog zu lösen, hatte das Militär sich erstmals öffentlich geäußert. Menschenrechtsorganisationen wiesen darauf hin, daß die neue Verfassung nicht nur nach dem islamischen Religionsrecht der Scharia ausgerichtet ist, sondern auch die Sonderstellung und Privilegien der ägyptischen Armee bewahrt.
Die Teilung der ägyptischen Opposition in sehr unterschiedliche Interessengruppen, könnte ihr in dem aktuellen Konflikt erneut eine Niederlage bescheren. Revolutionäre des Tahrir-Platzes 2011 dürften sich zudem in der Gegenwart ehemaliger Mubarak-Anhänger unwohl fühlen, die in den letzten Tagen aktiv an den Protesten gegen Präsident Mursi teilgenommen hatten. Das liberale und sozialdemokratisch orientierte Oppositionsbündnis Nationale Heilsfront des Oppositionspolitikers Mohamed ElBaradei kündigte Beratungen an. Andere Oppositionsgruppen riefen zu weiteren Protesten auf.
** Aus: junge Welt, Montag, 10. Dezember 2012
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