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Sternmarsch zum Kairoer Tahrir-Platz

Massenproteste gegen Präsident Mursi und den Verfassungsentwurf *

Tausende Demonstranten sind am Freitag in der ägyptischen Hauptstadt auf die Straße gegangen, um gegen die Machtpolitik der Islamisten und des Präsidenten Mohammed Mursi zu protestieren.

Mehrere Parteichefs und ehemalige Präsidentschaftskandidaten führten die Demonstrationszüge an, die sich nach dem Freitagsgebet in mehreren Vierteln Kairos bildeten, um zur zentralen Kundgebung auf dem Tahrir-Platz zu ziehen. Sie riefen: »Nieder mit der Herrschaft der Muslimbrüder« und »Nein zur Verfassungserklärung«.

Zunächst hatte sich der Protest liberaler und linker Parteien vor allem gegen die Verfassungserklärung des Präsidenten Mohammed Mursi gerichtet, mit der er seine Machtbefugnisse auf Kosten der Justiz erweitert hatte. Inzwischen sind auch Parolen gegen den Entwurf für eine neue Verfassung zu hören, die in der vergangenen Nacht in einer Hauruck-Aktion fertiggestellt worden war.

Die von Islamisten dominierte Verfassunggebende Versammlung hatte alle 234 Artikel mit großer Mehrheit angenommen, einige sogar einstimmig. Die Arbeit des Gremiums war zuletzt von der liberalen und laizistischen Opposition sowie Vertretern der christlichen Kirchen boykottiert worden. Sie warfen den Islamisten vor, ihre Werte mit aller Macht in der neuen Verfassung durchsetzen zu wollen.

Artikel 2 des Verfassungsentwurfs besagt, dass die »Prinzipien der Scharia« die »wichtigste Quelle der Gesetzgebung« seien. Zudem werden der Islam zur Staatsreligion und das Arabische zur offiziellen Sprache gemacht. Die Dauer einer Amtszeit des Präsidenten wurde auf vier Jahre festgelegt, eine einmalige Wiederwahl ist möglich. Damit soll künftig jeder Staatschef höchstens acht Jahre im Amt sein. Der im Februar 2011 gestürzte Präsident Mubarak hatte 30 Jahre lang geherrscht.

Gestritten wurde in der 15-stündigen Sitzung der Verfassunggebenden Versammlung unter anderem über Fragen der Pressefreiheit, über die Kompetenzen und den Aufbau der Justizbehörden. Der Vorsitzende des Gremiums tobte und drohte in der live vom Fernsehen übertragenen Debatte. Einmal wollte er den Saal verlassen, als das Geschrei zu laut wurde.

Binnen zwei Wochen soll nun das Volk in einem Referendum über die neue Verfassung entscheiden. Der Entwurf werde auf dem »Müllberg der Geschichte« landen, prophezeite der ehemalige Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und heutige Oppositionspolitiker, Mohammed ElBaradei, im Fernsehen. Am Sonnabend wollen die Anhänger Präsident Mursis ihre Unterstützung für den Staatschef kundtun. Viele Ägypter haben Angst, dass es bei den Demonstrationen erneut zu Gewalt zwischen den Anhängern der beiden Lager kommen könnte.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 01. Dezember 2012


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