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Ultimatum an Demonstranten

Ägyptens Präsident spricht von Dialog und droht gleichzeitig mit Räumung

Von Roland Etzel *

Die Republikanische Garde hat Panzer vor dem Präsidentenpalast in Kairo aufgefahren und die Demonstranten aufgefordert, sich umgehend aus dem Gebiet rund um den Palast zurückzuziehen. In der Nacht zu Donnerstag hatte es schwere Zusammenstöße zwischen Anhängern und Gegnern der Muslimbruderschaft gegeben.

Die Lage in Ägypten hat sich am Donnerstag dramatisch zugespitzt: Nachdem die Armee nach gewalttätigen Ausschreitungen am Morgen Panzer vor dem Präsidentenpalast aufgefahren hatte, stellte Präsident Mohammed Mursi den dort versammelten Demonstranten - Anhänger und Gegnern seines Kurses - ein Ultimatum zum Rückzug bis 14 Uhr, nach anderen Angaben 16 Uhr MEZ. Im Falle des Nichtbefolgens werde das Gelände geräumt.

Die Garde habe zudem laut AFP ein Verbot für Protestaktionen rund um alle zur Präsidialverwaltung gehörenden Institutionen erlassen. Ein Teil der Demonstranten, überwiegend Muslimbrüder des Präsidentenlagers, habe sich im Laufe des Nachmittags aus dem inkriminierten Bereich entfernt.

Gegenwind blies Mursi am Donnerstag unerwartet von der höchsten religiösen Instanz der Sunniten, dem Kairoer Al-Azhar-Institut, entgegen. Es forderte den Präsidenten auf, das Dekret vom 22. November zur Erweiterung seiner Machtbefugnisse auszusetzen und nicht anzuwenden. Vielmehr sei ein »Dialog ohne Vorbedingungen« nötig. Das Al-Azhar-Islam-Institut ist jene Einrichtung, die in dem umstrittenen Verfassungsentwurf der Muslimbrüder eine privilegierte Rolle im Gesetzgebungsprozess Ägyptens erhalten soll.

Präsident Mursi erklärte noch am Donnerstag, er werde »auf die Opposition zugehen und zum Dialog aufrufen«. Am Abend wollte er eine Fernsehrede halten und laut AFP »verschiedene konkrete Vorschläge« für eine Lösung der Krise unterbreiten.

In der Nacht zum Donnerstag waren bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten gegen Mursis Kurs und seinen Verteidigern laut dem katarischen Fernsehsender Al Dschasira sieben Personen ums Leben gekommen. Insgesamt 771 Menschen wurden nach Angaben vom Donnerstagabend verletzt. Die Polizei nahm 150 Verdächtige fest. Die Muslimbrüder erklärten, die Todesopfer entstammten ihren Reihen. Die verfeindeten Gruppen hatten sich über mehrere Stunden mit Brandsätzen und Steinen beworfen. In den Städten Ismailija und Suez waren nach Angaben von AFP Hunderte Demonstranten vor die Büros der Muslimbruderschaft gezogen und hatten sie angezündet.

Laut der Kairoer Zeitung »Al-Shuruq« ist erneut ein Berater des Präsidenten aus Protest gegen die Gewalt auf den Straßen zurückgetreten. Mit Mohammed Esmat Seif al-Daula hätten seit Monatsbeginn damit sieben enge Mitarbeiter von Mursi ihr Amt niedergelegt.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 07. Dezember 2012


Präsident ruft Panzer

Ägypten: Tote und Verletzte nach Angriffen von Muslimbrüdern auf Oppositionelle. Palast von Staatschef Mursi abgeriegelt.

Von Sofian Philip Naceur, Kairo **


Die Auseinandersetzungen in Ägypten, nachdem Staatschef Mohammed Mursi seine Machtbefugnisse per Dekret ausgedehnt hatte, drohen zu eskalieren und das Land zu spalten. Nach den friedlichen Massenprotesten der Opposition am Dienstag, als rund 100000 Menschen zum Präsidentenpalast im Nobelstadtteil Heliopolis im Osten Kairos gezogen waren, wurden am Mittwoch und Donnerstag bei Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern des Präsidenten mindestens fünf Menschen getötet und mehr als 600 verletzt. Unter den Toten sind zwei Mitglieder der »Revolutionary Socialists«. Die trotzkistische Gruppe mit Verbindung zur »Socialist Workers Party« in Großbritannien arbeitet mit den Muslimbrüdern zusammen und hatte zur Wahl Mursis aufgerufen.

Die Muslimbruderschaft und ihr politischer Arm, die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP), hatten zu Protesten gegen die Belagerung des Präsidentenpalastes durch die säkulare Opposition aufgerufen. Hunderte Mursi-Gegner hatten die Nacht zu Mittwoch in Heliopolis verbracht, am Morgen dann wurde ihr Protestcamp unweit des Palastes von Anhängern des Präsidenten angegriffen. Daraufhin begannen die heftigsten Straßenschlachten, die Ägypten seit dem Sturz Hosni Mubaraks im Februar 2011 erlebt hat. Kräfte beider Seiten warfen mit Steinen und Molotowcocktails. Auch in anderen Städten des Landes, etwa in Alexandria und Luxor, kam es zu Protesten und Ausschreitungen.

Am Donnerstag morgen fuhren vor dem Sitz von Mursi in Kairo Panzer der Präsidentengarde auf. Der Kommandeur der Garde sagte, daß diese im Machtkampf keine Partei ergreifen und nicht gegen Demonstranten vorgehen würde. Die Polizei errichtete Stacheldrahtabsperrungen um den Palast.

Die paramilitärischen Sicherheitskräfte des Innenministeriums hatten erst in die Auseinandersetzungen eingegriffen, als die Straßenschlachten bereits in vollem Gange waren. Schon bei den Ausschreitungen auf dem Tahrir-Platz im Oktober waren keine Sicherheitskräfte aufgetaucht. Die Gewalt zwischen seinen Anhängern und Gegnern spielt dem Präsidenten in die Hände. Immer wieder betonten Mursi und die FJP, das Land brauche »Sicherheit und Stabilität«. Die demonstrative Abwesenheit der Sicherheitskräfte am Mittwoch in Heliopolis und die Eskalation der Auseinandersetzungen waren machtpolitisch motiviert und könnten dem Präsidenten kurz vor dem Verfassungsreferendum Unentschlossene in die Arme treiben.

Am 15. Dezember soll über den Entwurf einer neuen Konstitution abgestimmt werden. Ein Drittel der Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung hat aus Protest gegen die mangelnde Kompromißbereitschaft der FJP das Gremium bereits verlassen. Die Legitimität der Versammlung ist damit stark beeinträchtigt. Vizepräsident Mahmud Mekki betonte jedoch, das Referendum werde trotz der angespannten Lage wie geplant stattfinden.

Unterdessen forderte das Al-Aschar-Institut in Kairo, das als höchste Instanz des sunnitischen Islam gilt, Mursi auf, das Dekret zur Erweiterung seiner Befugnisse zurückzuziehen. Nur so könne ein Dialog begonnen werden.

Nach der Eskalation der Gewalt sind fünf weitere Mitglieder des Beraterstabs des Präsidenten aus Protest gegen Mursis autokratischen Regierungsstil aus dem Gremium ausgetreten. Vier hatten sich bereits während der vergangenen Tage zurückgezogen.

** Aus: junge Welt, Freitag, 07. Dezember 2012


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