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Muslimbruderschaft feiert Sieg der Verfassung - Opposition kritisiert Referendum

Nach der zweiten Runde des Referendums über die ägyptische Verfassung am 22. Dezember zeichnete sich ein Sieg der islamistischen Muslimbruderschaft von Präsident Mohammed Mursi ab. Nach inoffiziellen Ergebnissen sei der Verfassungsentwurf mit rund 64 Prozent der Stimmen angenommen worden, teilte die Muslimbruderschaft bereits am Sonntag mit - einen Tag vor dem offiziell erst für Montag (24. Dez.) angekündigten Ergebnis.

Die Opposition hat weiterhin erhebliche Zweifel am fairen Ablauf der zweiten Rundes des Verfassungsreferendums. Sie erneuerte ihre Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung. Sie reichte Beschwerde wegen mutmaßlicher Wahlfälschung bei der Generalstaatsanwaltschaft sowie der Wahlkommission ein. Die oppositionelle Nationale Heilsfront wird mit den Worten zitiert: "Das Referendum ist nicht das Endspiel. Es ist nur eine Schlacht in diesem langen Kampf für die Zukunft Ägyptens." und: "Wir werden es nicht zulassen, dass die Identität Ägyptens verändert wird oder wir in das Zeitalter der Tyrannei zurückkehren."

Im zweiten Durchgang des Referendums am Samstag hatten laut Muslimbruderschaft nach Auszählung von 99 Prozent der Stimmen 71 Prozent der Wähler für die neue Verfassung votiert. Die Beteiligung an der zweiten Runde lag den Angaben zufolge bei rund 30 Prozent. Gegen den Entwurf hätten sich sich rund 28 Prozent ausgesprochen. In der ersten Runde der Volksabstimmung am Samstag zuvor (15. Dez.) hatten sich inoffiziellen Ergebnissen zufolge rund 57 Prozent der Abstimmenden für den Verfassungsentwurf ausgesprochen.

Die Muslimbruderschaft wertet das Abstimmungsergebnis als einen Sieg für den amtierenden Präsidenten Mursi. Die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, der politische Arm der Muslimbruderschaft, erklärte am Sonntag, die Verabschiedung der Verfassung könne eine "historische Gelegenheit" sein, Spaltungen zu überwinden und einen Dialog zu beginnen, um Stabilität herbeizuführen. Dem widerspricht Karin Leukefeld in ihrem Kommentar weiter unten.

Dass sich auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) zum Ausgang des Referendums in Ägypten "besorgt" äußert, war zu erwarten. "Anerkennung wird eine neue Verfassung nur finden können, wenn das Verfahren zu ihrer Annahme über alle Zweifel erhaben ist", sagte Westerwelle am 23. Dez. in Berlin. Vorwürfen über Unregelmäßigkeiten müsse deshalb "zügig, transparent und konsequent nachgegangen werden". Da sich die Zweifel nicht wirklich zerstreuen lassen, wird Berlin bei seiner Kritik bleiben - die im Übrigen ja nicht erst der Durchführung des Referendums, sondern dem Verfassungsentwurf generell galten.

Quellen: dapd, ap, 24./25. Dezember 2012


Ägyptischer Vizepräsident Mekki tritt zurück

Zweite Runde des Referendums über umstrittene Verfassung verlängert mekki **

Der ägyptische Vizepräsident Mahmud Mekki tritt zurück. Dies berichtete das staatliche Fernsehen am Samstag. Präsident Mohammed Mursi hatte den Richter Mekki im August zu seinem Stellvertreter ernannt. Eigentlich habe er sein Amt bereits im November niederlegen wollen, so Mekki. Er habe diesen Schritt aber wegen der Unruhen in seinem Land sowie wegen des Konflikts zwischen Israel und der Hamas verschoben. Gründe für seine Entscheidung nannte er in der von Staatsmedien veröffentlichten Erklärung nicht.

Der 58-jährige Mekki hatte vor der Präsidentenwahl im Juni Rufe nach einer eigenen Kandidatur abgelehnt und erklärt, er wolle politisch unabhängig bleiben. Unter dem langjährigen Staatschef Husni Mubarak, der im Februar 2011 gestürzt worden war, gab es keinen Vizepräsidenten. Der Posten wurde erst unter dem aus der islamistischen Muslimbruderschaft hervorgegangenen Staatschef Mursi geschaffen.

Unterdessen wurde die zweite und letzte Runde der Volksabstimmung über die umstrittene Verfassung in Ägypten um vier Stunden verlängert. Statt bis 19.00 Uhr blieben die Wahllokale bis 23.00 Uhr geöffnet, teilte die Wahlkommission mit. Grund sei der große Andrang von Wählern. Auch bei der ersten Wahlrunde am vergangenen Samstag waren die Wahllokale vier Stunden länger offen geblieben.

Vor einer Woche war zunächst in zehn der 27 Provinzen über den Entwurf für das neue Grundgesetz abgestimmt worden. Am Samstag nun entschieden die Bürger in den übrigen 17 Provinzen über den Text. Bei der ersten Runde hatte sich eine Mehrheit für den Entwurf abgezeichnet, der durch eine von den Islamisten dominierte Versammlung ausgearbeitet worden war.

Die Opposition kritisiert, dass die vielfach vagen Bestimmungen des Verfassungstextes die Bürgerrechte nicht ausreichend garantieren und einer weiteren Islamisierung der Gesetzgebung den Weg bereiten. In den vergangenen Wochen hatte es teils gewaltsame Zusammenstöße zwischen beiden Lagern gegeben.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 22. Dezember 2012


Fragwürdige Stabilität

Von Karin Leukefeld ***

Das Referendum in Ägypten ist kein Sieg für die Muslimbruderschaft und ihren Präsidenten Mohammed Mursi. Landesweit konnten sie nur 32 Prozent der Wähler mobilisieren, weniger als die Hälfte der Menschen, die bei den Wahlen Anfang 2012 für sie gestimmt hatten. Die Muslimbrüder befassen sich mehr mit der Sicherung ihrer Macht als mit den Nöten der Bevölkerung. Weder von der Regierung noch vom Präsidenten gibt es Fortschritte im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Im Gegenteil. Mit dem Antrag auf einen IWF-Kredit von 4,8 Milliarden Dollar hat die islamische Regierung dem Abbau von Subventionen im großen Stil zugestimmt. Staatliche Finanzhilfe für Benzin, Strom und Gas soll reduziert, Steuern auf Grundnahrungsmittel sollen angehoben werden. Das trifft die Ärmsten der Armen, die Brot und Arbeit erhofft haben. Damit sich kein Widerstand formiert, sollen die Gewerkschaften nur noch »friedlich« streiken dürfen. Die neuen Machthaber dienen sich den gleichen Eliten in Wirtschaft und Militär an wie zuvor Mubarak. Die neue Verfassung sichert dem Militär seine Privilegien zu.

Der Erhalt der militärischen Macht ist im Interesse der alten und neuen Bündnispartner Ägyptens. Den USA, Saudi-Arabien und Europa geht es um die »Stabilität der Region«. Damit ist nicht ein besseres und selbstbestimmtes Leben für die 85 Millionen Ägypter gemeint, sondern die »Sicherheit Israels« und die freie Fahrt durch den Suezkanal für Öltanker vom Golf und Kriegsschiffe der NATO.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 24. Dezember 2012 (Kommentar)


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