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Das Militär wollte nicht schießen

Politikwissenschaftler Werner Ruf (Kassel) über den Rücktritt von Präsident Mubarak und die Demokratiebewegungen in Tunesien und Ägypten *


Präsident Mubarak wollte einen friedlichen Übergang ermöglichen, blieb dann aber zunächst doch im Amt. War das logisch?

Werner Ruf: Nein. Denn Mubarak war in den vergangenen Wochen zum absoluten Hassobjekt der Demonstranten geworden. Wäre er weiter im Amt geblieben, hätte das die Proteste radikaler und möglicherweise gewalttätig werden lassen. .

Warum ist Mubarak dann doch zurückgetreten?

Ruf: Ich vermute, dass die USA hinter den Kulissen den Druck auf ihn erheblich verstärkt hatten, endlich zu gehen. Und das Militär wollte nicht schießen. Zumindest Teile der Streitkräfte waren wohl nicht bereit, die Demonstrationen mit brutaler Gewalt niederzuschlagen.

Die Demonstranten machen seit Wochen klar, was sie nicht wollen, nämlich Mubarak. Aber wissen sie auch, was sie wollen?

Ruf: Unter der Decke gibt es da mehr Gruppen und Strukturen, als wir manchmal sehen können. Da gibt es Gewerkschafter, viele säkulare Intellektuelle, die hoch politisiert sind, dazu auch die Muslimbrüder. Diese Kräfte dringen auf die Möglichkeit, sich frei zu artikulieren, und sie werden schon bald Parteien bilden, politisches Profil gewinnen und Demokratie proben können.

Im Westen wird oft der Begriff Demokratiebewegung für die Demonstranten genutzt. Ist der überhaupt treffend?

Ruf: Ja. Wir haben uns jahrelang vorgeredet, die arabischen Völker seien demokratieunfähig. Jetzt zeigt sich, dass das nicht der Fall ist. Und Demokratie ist ja keine Hülse, Demokratie ist die Form, wie ein Volk seinen Willen ausdrückt. Wie das in der arabischen Welt letztlich aussehen wird, muss man abwarten. Aber auch in Europa haben wir ja unterschiedliche Formen - in der Schweiz eine Basisdemokratie, in Frankreich eine Präsidialdemokratie.

Was bedeuten die Ereignisse in Tunesien und Ägypten für die arabische Welt?

Ruf: Sie zeigen, dass Demokratie machbar ist. Und dass jetzt Mubarak gestürzt wurde, ist ein Fanal für andere arabische Länder

Im Westen wird immer wieder die Gefahr durch die Muslimbruderschaft beschworen. Zu Recht?

Ruf: Es handelt sich vor allem um eine angebliche Gefahr. Wir haben inzwischen Muslime überall in der Welt und stellen sie fast überall unter Generalverdacht. Und seit der Kommunismus gescheitert ist, wird der Islam gerne als neues Feindbild hochgehalten, egal ob in der geostrategischen Debatte oder in Neukölln. Wir sollten rationaler mit dem Thema umgehen.

Was bedeutet das für die Muslimbrüder?

Ruf: Die Bilder auf den Straßen zeigen, dass die junge Generation sich nicht mehr gängeln lassen will, auch nicht von Islamisten. Die Muslimbüder bilden in Ägypten auch gar keine geschlossene Front. Und wenn Sie in diesen Tagen islamistische blogs lesen, in denen die Demonstranten, gerade auch Frauen, diskutieren, dann kommen da keine Vorstellungen vom Gottesstaat zum Ausdruck.

Wie sollte sich der Westen in dieser Situation verhalten?

Ruf: Er hätte sich längst von diesen furchtbaren Diktatoren und Kleptokraten distanzieren müssen, die jede Opposition - nicht nur die islamistische - unterdrückt haben. Als Folge gibt es für den Westen jetzt kaum Alternativen zum Regime. Insofern fällt ihm nun die eigene Politik auf die Füße.

Muss uns die Revolution im Iran 1979 nicht warnen?

Ruf: Im Iran mit seinem schiitischen Islam gibt es einen organisierten Klerus, den gibt es im sunnitischen Islam wie in Ägypten nicht. Und wenn die Muslimbrüder tatsächlich an die Regierung wollen, werden sie im demokratischen System mitmachen müssen. Schon dessen Spielregeln zwingen zu legalem Handeln. Das zeigt sich deutlich in Ländern, in denen Islamisten im Parlament sitzen wie in Jordanien oder Marokko.

Das Volk von Ägypten ist dabei - wie zuvor schon das in Tunesien - sich ihres Herrschers zu entledigen. Wenn man einmal vom Iran 1979 absieht: Hat es das in der arabischen Welt schon einmal gegeben?

Ruf: Es gab die antiimperialistischen Bewegungen gegen die Kolonialherren, da entstanden zum Beíspiel die Muslimbrüder. Und es gab den arabischen Nationalismus, personifiziert durch den Ägypter Gamal Abdel Nasser. Pikanterweise wurde er vom Westen bekämpft, in dem man islamistische Kräfte im Lande unterstützte.

Muss sich Israel vor einem Umbruch in Ägypten fürchten, das doch jahrelang ein stabiler Partner war?

Ruf: Das kommt auf Israels Politik an. Wenn es eine Zweistaatenlösung ermöglichen und die Siedlungen in den besetzten Gebieten zurückbauen würde, damit ein geschlossenes Territorium für einen Palästinenserstaat entsteht, dann bietet das auf Dauer mehr Sicherheit als militärische Aggression, wie sie die derzeitige Regierung betreibt.

* Prof. Dr. Werner Ruf (73) geboren in Sigmaringen, studierte unter anderem Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte in Freiburg, Paris, Saarbrücken und Tunis. Von 1982 bis 2003 lehrte er Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel. Er lebt in Edermünde.

Langfassung des Interviews, das am 12. Februar 2011 in der Printausgabe der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) erschien. Das Interview führte für die HNA Wolfgang Blieffert. (www.hna.de)



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