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Streitfrage: Was versprechen sich Linke von der ägyptischen Protestbewegung?

Beiträge von Werner Ruf und Steffen Stierle


Seit Wochen protestieren Menschen in Ägypten gegen die Regierung von Husni Mubarak. Angespornt von dem Volksaufstand in Tunesien fordern hunderttausende Ägypter den sofortigen Rücktritt des Präsidenten. Doch Mubarak, der seit 30 Jahren am Nil herrscht, hat offenbar die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Er hatte angekündigt, im September bei der Präsidentschaftswahl nicht wieder zu kandidieren. Das reicht den Demonstranten nicht. Wie das Ägypten nach Husni Mubarak aussehen wird, hängt auch von den Menschen ab, die in Kairo, Suez und anderen Städten des Landes demonstrieren. Doch wer sind die Protagonisten der "ägyptischen Revolution"? Was treibt sie an? Und welche Rolle spielt "der Westen", der Mubarak bisher gern hofiert hat.

Unter der Dunstglocke der Repression

Von Werner Ruf *

Jahrzehntelang debattierten die herrschende Politik und ihre "Experten" über die "Demokratieunfähigkeit der arabischen Völker - und da ereignet sich plötzlich im wohl kleinsten aber gebildetsten dieser Völker, in Tunesien; eine Revolution. Ausgelöst durch einen verzweifelten Akt des sozialen Protests, eine Selbstverbrennung, geht das Volk auf die Straße, die kleptokratische Diktatur reagiert mit ihrem klassischen Mittel der Repression, die Spirale von Protest und Gegengewalt schaukelt sich hoch, das Volk rebelliert, reklamiert sein Recht als Souverän, der Tyrann flieht wie ein Dieb in der Nacht. Und der Westen, der ihn mehr als zwei Jahrzehnte an der Macht hielt, vom kleptokratischen Charakter des Systems nichts wissen wollte, dem Land wegen seiner konsequent neoliberalen Wirtschaftspolitik Bestnoten ausstellte - applaudiert!

Der Funke der Befreiung sprang über auf Jordanien, Jemen, Ägypten. Dort sind es Millionen, die auf die Straße gehen, friedlich die Abdankung des Systems Mubarak fordern, und selbst als die Provokateure und Schlägergarden der alten Machthaber versuchen, den Volksaufstand in Gewalt zu verwandeln (was die Schlägergarden Ben Alis auch in Tunis versucht hatten), um die Volksbewegung zu spalten, die "Gemäßigten" um des Erhalts der "Stabilität" willen zum Einlenken zu bewegen, gelingt dies nicht. Und wieder berichten die Medien von al Jazeera bis CNN, von New York Times bis FAZ euphorisch über den heldenhaften Widerstand des Volkes gegen die Staatsmacht. Vergessen bleibt, dass vor gut drei Monaten in Ägypten Parlamentswahlen stattfanden, die wohl der größte Wahlbetrug in der Geschichte dieses an Wahlbetrügen reichen Landes waren - Kommentare in den Medien? Nicht dass jemand sich daran erinnerte!

Was also ist geschehen, dass plötzlich das Volk als Inhaber der Souveränität solche Aufmerksamkeit findet? In Ägypten hatte die Kifaya-Bewegung (deutsch: "Es reicht!") schon vor zwei Jahren gezeigt, dass die Situation immer unhaltbarer wurde. Und die Kanzleien des Westens wissen seit langem, dass Ungerechtigkeit, Ausplünderung und Repression einen Punkt erreicht haben, an dem ein Funke genügt, um Explosionen zu verursachen. Und diese sind jetzt da, und niemand weiß, welches das nächste arabische Land sein wird, in dem die alten Despoten davon gejagt werden.

Viel war gleich geblieben, viel hat sich in diesen Staaten verändert: Die Regime, repräsentiert durch seit Jahrzehnten an der Macht befindliche alte Männer, schienen unangreifbar, gestützt auf Geheimdienst, Polizei und Folter. Aber: Die Bevölkerung ist gewachsen, die Jugendlichen sind immer zahlreicher geworden und haben, selbst mit hoch qualifizierter Ausbildung, keinerlei soziale Perspektiven. Unter der Dunstglocke der Repression durch die "reale Macht" hat sich eine Zivilgesellschaft entwickelt, die nicht mehr bereit ist, sich weiter unterdrücken und ausbeuten zu lassen. Es sind neben der Masse der Lumpenproletarisierten gerade auch die von sozialem Abstieg bedrohten Mittelschichten, die Freiheit, Demokratie, Partizipation reklamieren. Die globalisierte Welt ist kleiner geworden: Medien, Internet, Blogs kommunizieren Ideen weltweit, bilden Netzwerke, gerade die Jugendlichen wissen, was in der Welt geschieht, vernetzen sich.

Der Slogan "Eine andere Welt ist möglich" ist nicht nur ein Hoffnungsschimmer, er suggeriert auch: Gemeinsames Handeln kann diese Welt verändern - welch eine Botschaft für die Millionen Menschen gerade im arabischen Raum, die keinerlei Perspektive und nichts außer ihrem sozialen und politischen Elend zu verlieren haben! Vor diesen Bewegungen wanken selbst die klassischen Repressionsinstrumente: Die tunesische Armee half, den Diktator zu verjagen, die ägyptische Armee zeigte sich zumindest neutral und ging gegen die Marodeure und Provokateure des Regimes in Stellung. Kommt - ex oriente lux - aus dem arabischen Raum die neue Demokratie-Bewegung?

Vielleicht signalisiert die arabische Demokratiebewegung jedoch nur eine qualitativ neue Phase des Erhalts imperialistischer Herrschaft: In Tunesien scheint eine pluralistisch-bürgerliche Herrschaft gesichert. Im geostrategisch zentralen Ägypten aber kann man wohl auch auf die alten Strukturen - Geheimdienst und Armee, beide eingebunden in das Netz von Korruption und Abhängigkeit - nicht verzichten. Nach der Katastrophe des militärischen regime change in Irak könnten Tunesien und Ägypten der Modellfall sein für einen regime change light, für Formen eines demokratischen Systems, in dem die Mittelschichten ihre Interessen verfolgen können und mittelfristig die Interessen des Westens sichern. So kann die Lage stabilisiert und eine gewisse Glaubwürdigkeit westlicher Politik wieder hergestellt werden.

* Prof. Dr. Werner Ruf, Jahrgang 1937, hat bis 2003 Politikwissenschaft an der Universität Kassel gelehrt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Nordafrika und der Nahe Osten.


Bankrott eines Entwicklungsmodells

Von Steffen Stierle **

Unmittelbarer Auslöser der nordafrikanischen Revolutionen waren, wie so oft, staatliche Übergriffe auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen, die eine ohnehin unterschwellig zornige Bevölkerung als ungerecht und illegitim empfand. Diese Übergriffe hatten sozusagen die Rolle des Tropfens, der das Fass zum Überlaufen bringt. Aber dahinter steckt natürlich viel mehr.

In erster Linie ist das ein gewaltiges Demokratiedefizit. Seit Jahrzehnten werden diese Länder unter grober Missachtung der Menschenrechte autokratisch regiert. Die Verfolgung von Oppositionellen, Folter, Presse- und Internetzensur sowie Repression gegen regierungskritische Bewegungen gehören vielerorts zum Alltag der Regierungspraxis. Eine bedeutende Rolle spielen aber auch die gewaltigen sozialen Ungleichgewichte. Gerade in ländlichen Regionen sind häufig mehr als die Hälfte der Menschen von extremer Armut betroffen, während Gesundheitswesen und lebensnotwendige Infrastruktur wie Wasserversorgung nur völlig unzulänglich vorhanden sind. Nach Altersgruppen betrachtet, sind es vor allem die jungen Menschen, die unter den sozialen Problemen leiden.

Durch diese beiden Motive - Demokratie und soziale Gerechtigkeit - lässt sich der Antrieb der Bewegungen freilich nicht vollständig erklären. Sie sind äußerst heterogen. Für viele Akteure stehen beispielsweise religiöse Motive im Vordergrund. Bei der Bewertung dieser Akteure kommt übrigens ein äußerst fragwürdiges Demokratieverständnis zahlreicher westlicher PolitikerInnen zum Vorschein. Man kommt zwar nicht mehr umhin, die Anliegen der Menschen im Widerstand anzuerkennen und mehr Demokratie zu fordern, artikuliert aber zugleich Vorbehalte gegen allzu freie demokratische Prozesse, sofern die Gefahr besteht, dass islamistische Kräfte dabei an Einfluss gewinnen. Als wäre Demokratie nur, wenn dem Westen das Ergebnis passt. Das ist ein Anknüpfungspunkt für solidarische politische Arbeit in Europa.

Die Demokratiefrage bietet noch weitere Anknüpfungspunkte. So wurde das Verhältnis der europäischen Regierungen zu jenen in Nordafrika bisher in erster Linie von wirtschaftlichen Interessen geprägt. Beispielsweise wird die Bundesregierung bisher auch von einer hörbaren Kritik der Menschenrechtsverletzungen des Mubarak-Regimes abgesehen haben, weil sie damit fundamental den Interessen der eigenen Rüstungsindustrie widersprochen hätte. Erst vor wenigen Tagen verkündete sie einen Stopp der Rüstungsexporte nach Kairo. Solange die öffentliche Aufmerksamkeit nicht vorhanden war, dominierten die Interessen der deutschen Exportindustrie gegenüber den Menschenrechten der ägyptischen Bevölkerung. Ähnliches gilt für die Beziehungen zu Tunesien. Vor kurzem noch galt Ben Ali in Berliner Regierungskreisen als milder Diktator und ausgezeichneter Partner.

Ebenso wie die Demokratiefrage hat auch jene nach sozialer Gerechtigkeit eine bedeutende globale und globalisierungskritische Dimension. So ist beispielsweise in vielen dieser Länder der Internationale Währungsfonds (IWF) seit Jahrzehnten präsent und treibt dort sein neoliberales Entwicklungsmodell voran. Das ist eine wichtige Ursache dafür, dass es vielerorts in den letzten zwanzig Jahren faktisch keine sozialen Fortschritte gegeben hat.

Eine interessante Frage ist zudem jene nach den Lebensmittelpreisen. Diese sind zuletzt rasant gestiegen. Teilweise haben sie bereits das Niveau der Nahrungsmittelblase von 2008 erreicht. Die soziale Situation der ärmsten Menschen in den weniger entwickelten Ländern verschärft sich dadurch unmittelbar. Nahrungsmittelspekulation ist deswegen ebenfalls eine Ursache der Revolutionen. Aber auch über den Beitrag der Spekulation hinaus werden die Preise für Grundnahrungsmittel stark von der neoliberalen Globalisierung und ihren inneren Zwängen getrieben. Die erbarmungslose Liberalisierungs- und Privatisierungspolitik hat dazu geführt, dass der Großteil der afrikanischen Länder selbst dann auf Nahrungsmittelimporte angewiesen ist, wenn keine Klimakatastrophen oder Konflikte die Ernten versauen. Damit gehen eine enorme Abhängigkeit vom Weltmarkt und eine entsprechende Anfälligkeit für Preisschwankungen einher.

Insofern sind die Revolutionen nicht nur die Bankrotterklärung für die Diktaturen der betroffenen Länder, sondern auch für das neoliberale Entwicklungsmodell und die marktförmige Verteilung von Lebensnotwendigem ganz allgemein. Ebenso stellen sie die national-egoistischen Geostrategien der entwickelten Länder des globalen Nordens fundamental infrage. Sie haben also eine beachtliche globalisierungskritische Dimension und verdienen daher unsere Solidarität und Unterstützung.

** Steffen Stierle, 1981 geboren, ist Volkswirt und Mitglied im Koordinierungskreis von Attac Deutschland.

Beide Beiträge erschienen am 12. Februar 2011 im Neuen Deutschland in der Rubrik "Debatte"



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