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Straßenschlachten in Kairo

Gedenkveranstaltung für Massakeropfer mündet in Gewalt

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Während Ägyptens Staatspräsident Mohamed Mursi derzeit für seinen Einsatz bei den Verhandlungen in Kairo über einen Waffenstillstand zwischen Israel und der palästinensischen Hamas gelobt wird, liefern sich Ägyptens Sicherheitskräfte und Demonstranten seit Tagen blutige Straßenschlachten in Kairos Innenstadt. Am Montag versammelten sich Tausende Menschen auf dem Tahrir-Platz und in der Mohamed-Mahmoud-Straße, um der 47 Toten des Massakers von 2011 zu gedenken. Angehörige der Opfer legten Blumen nieder und wetterten gegen die amtierende Regierung und die Militärs, die seit dem Sturz Hosni Mubaraks bis zum Amtsantritt des neuen Präsidenten Mursi das Land regiert hatten. Das Militär ging im Herbst 2011 gegen Demonstrationen vor und versuchte durch das gewaltsame Abwürgen der Revolutionsdynamik seine privilegierte Stellung in Ägypten zu behaupten. Höhepunkt dieser Machtvorführung seitens der herrschenden Clique um Armee und Muslimbrüder war das Massaker in der Mohamed-Mahmoud-Straße.

Am Montag abend mündete die friedliche Gedenkveranstaltung, die sich auch gegen die Regentschaft der schon unter Mubarak amtierenden Militärs und die Dominanz von Muslimbrüdern und Salafisten in der verfassungsgebenden Versammlung richtete, in offene Gewalt. Nach Angaben politischer Aktivisten bewarfen jugendliche Randalierer die Sicherheitskräfte mit Steinen und Molotowcocktails. Während Polizei und Paramilitärs bei Protesten in Kairo in den vergangenen Monaten meist zurückhaltend agierten oder wie bei den Straßenschlachten zwischen Muslimbrüdern und der säkularen Opposition Mitte Oktober erst gar nicht auftauchten, setzten die dem Innenministerium unterstellten Zentralen Sicherheitskräfte (CSF) vor allem Montag und Mittwoch Gummigeschosse und Tränengasgranaten gegen Demonstranten ein.

Eine Krankenschwester des Notfalllazaretts berichtet von über 300 Verletzten. Gaber Salah, ein Mitglied der liberalen »Bewegung des 6. April« liegt nach Angaben seines Vaters in kritischem Zustand im Koma. Nachdem die Ausschreitungen am Mittwoch mit unveränderter Härte weitergingen, zog das Innenministerium weitere CSF-Truppen zusammen und verwandelte das seit der Revolution abgeriegelte Areal um Parlament und Innenministerium in eine Festung.

Am Dienstag waren Unbekannte in das Büro des ägyptischen Ablegers von Al-Dschasira am Tahrir eingedrungen und hatten Feuer gelegt, das Büro brannte komplett aus. Am Mittwoch verschanzten sich CSF-Einheiten auf Dächern in der Mohamed-Mahmoud-Straße und wurden stundenlang von Jugendlichen mit Steinen und Molotowcocktails beworfen. Die Beamten antworteten mit Tränengas und warfen Steinblöcke vom Dach.

Zahlreiche oppositionelle Parteien und Jugendorganisationen verurteilten die Gewalt scharf, riefen aber für Freitag erneut zu einer Solidaritätsdemonstration für die Opfer des Massakers von 2011 auf. Ein Funktionär der Muslimbrüder bezeichnete die Proteste als »organisiertes Chaos«. Erst am Mittwoch brach das Kabinett sein Schweigen zu den Ereignissen, Premierminister Hisham Qandil betonte, seine Regierung würde alle »notwendigen Schritte« unternehmen, um »Angriffe auf öffentliches und privates Eigentum« zu beenden.

Der inzwischen ins Regime integrierte politische Arm der Muslimbruderschaft rief immer wieder dazu auf, nicht an Protesten gegen die Militärs teilzunehmen. Auch die Streikbewegung vom Sommer wurde von Präsident Mursi und der Bruderschaft wiederholt scharf kritisiert. Alle Anstrengungen von Arbeitern und linken und säkularen Opposition, die Errungenschaften der Revolution zu erhalten, wurden seitens der Militärs und den Mursi nahestehenden Muslimbrüder ausgehöhlt und systematisch diskreditiert. Das Regime setzt nach wie vor auf den Westen, um Militärhilfe aus den USA und Darlehen von EU und Internationalem Währungsfonds zu bekommen. Als Gegenleistung wird der neoliberalen Wirtschaftsdoktrin der Weg geebnet und die Streikbewegung wie die linksliberale Opposition an den Rand gedrängt.

* Aus: junge Welt, Freitag, 23. November 2012


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