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Dutzende Tote in Kairo

Blutige Zusammenstöße zwischen Mursi-Anhängern und dem Militär

Von Oliver Eberhardt, Kairo *

Die Suche nach einem neuen Regierungschef in Ägypten dauert an. Bei Protesten gegen die Absetzung von Präsident Mursi wurden allein seit Sonntag mindestens 80 Menschen getötet.

Am Montagnachmittag ist die Lage rund um die Rabaa al-Adawiyah-Moschee in Kairo extrem gespannt: Mittlerweile suchen immer mehr Demonstranten die Konfrontation mit den Soldaten, die schwer bewaffnet nur wenige Meter entfernt Stellung bezogen haben. Das Militär versucht, Tränengas einzusetzen – das allerdings nicht funktioniert. Es ist zu heiß.

Die Situation in Nasr City, einem Stadtteil von Kairo, droht zu eskalieren, seit Soldaten in den Morgenstunden vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garden wenige hundert Meter von der Moschee entfernt, das Feuer auf eine Menschenmenge eröffneten, die, so die Polizei, versucht hatte, die Basis zu stürmen. Nach Angaben des Militärs hätten viele der Demonstranten Waffen dabei gehabt; Beobachter bestreiten diese Version. In der Anlage soll der abgesetzte Präsident Mohammed Mursi festgehalten worden sein. Ein Sprecher des Militärs erklärte allerdings, der internierte Politiker sei mittlerweile »zu seinem Schutz« an einen »geheimen Ort« verlegt worden.

Auch anderswo in Ägypten kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und dem Militär. Nach offiziellen Angaben vom Montag wurden seit Sonntag mindestens 80 Menschen getötet. Während überall in Ägypten Zehntausende für Mursi auf die Straße gingen, fanden sich auf dem Tahrir-Platz im Kairoer Stadtzentrum am Sonntagabend geschätzte 250 000 Menschen zu einer Großdemonstration gegen Mursi ein.

Militärführung und Präsidialamt sind derweil weiter auf der Suche nach einem neuen Regierungschef, der für so viele politische und gesellschaftliche Gruppierungen wie möglich akzeptabel ist. Der von der liberalen Tamarud-Bewegung favorisierte Mohammad el-Baradei ist nun aus dem Rennen, weil er von den islamischen Kräften im Land abgelehnt wird. Stattdessen hat das Büro von Übergangspräsident Adli Mansur den Wirtschaftsexperten Siad Bahaa Eldin ins Spiel gebracht. Der 48jährige, der für eine Reihe von internationalen Finanzinstitutionen gearbeitet hat, und würde damit die aktuell sehr geringen Chancen des Landes auf dringend benötigte Kredite erhöhen.

Doch auch er ist umstritten. Die ultraorthodoxe Nur-Partei lehnt ihn ab, weil er wie el-Baradei der Nationalen Heilsfront angehört, einem Parteienbündnis, dass der Tamarud-Bewegung nahe steht. Die Nur-Partei hatte sich vorige Woche auf die Seite der Proteste gegen Mursi gestellt; nun fordert sie im Gegenzug, dass der neue Regierungschef religiös sein soll. Das wiederum wird von Tamarud und Nationaler Heilsfront abgelehnt. Diesem Dilemma will man nun entkommen: Die Öffentlichkeit müsse sich von dem Gedanken lösen, dass der Premier für alle akzeptabel sein wird, heißt es in einer Pressemitteilung des Präsidialamtes.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 9. Juli 2013


Massaker in Kairo

Ägypten: Mursi-Anhänger niedergeschossen. Muslimbrüder rufen zum Aufstand. Salafistische Partei »Das Licht« zieht sich aus Regierungsgesprächen zurück

Von Christian Selz **


Bei blutigen Auseinandersetzungen vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garde in Kairo sind am Montag morgen nach Angaben des Gesundheitsministeriums 51 Menschen getötet und 435 weitere verletzt worden. Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete, feuerte die Armee auf Anhänger des früheren Präsidenten Mohammed Mursi, die sich in großer Zahl vor der Kaserne versammelt hatten, in der das in der vergangenen Woche abgesetzte Staatsoberhaupt festgehalten werden soll. Nach Angaben der Armee hätten »bewaffnete Terroristen« versucht, die Militäreinrichtung im Morgengrauen zu stürmen. Dabei seien ein Offizier getötet und 40 Soldaten verletzt worden. Die Mursi nahestehenden Muslimbrüder behaupten dagegen, das Militär habe auf friedliche Demonstranten gefeuert und diese beim Morgengebet »massakriert«. Interimspräsident Adli Mansur kündigte an, die »Zwischenfälle« von einer Kommission untersuchen zu lassen und forderte Demonstranten auf, sich von Kasernen und »zentralen Staatseinrichtungen« fernzuhalten.

Die Sicherheitslage in Ägypten wird unterdessen immer prekärer, eine politische Lösung mit jedem Blutvergießen schwieriger. Nach dem Kugelhagel in Kairo rief Mursis Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), der politische Arm der Muslimbrüder, zu »einem Aufstand des großartigen ägyptischen Volkes gegen die, die versuchen, die Revolution mit Panzern zu stehlen«. Sie forderte »die internationale Gemeinschaft, internationale Gruppen und alle freien Menschen der Welt« auf, »zu intervenieren, um weitere Massaker zu stoppen«. Sicherheitskräfte ordneten später die Schließung der FJP-Zentrale an, nachdem die Polizei angab, dort Waffen entdeckt zu haben, die mutmaßlich gegen Mursi-Gegner eingesetzt werden sollten.

Die Suche nach einem neuen Regierungschef kam derweil auch am Montag nicht voran. Als Reaktion auf das Blutbad an den Mursi-Anhängern zog sich die salafistische Partei »Das Licht« aus den Verhandlungen über eine Übergangsregierung zurück. Das erklärte Parteisprecher Nader Bakkar am Montag über den Internetdienst Twitter. Die islamistische Partei hatte die Regierung Mursi unterstützt, sich seit Beginn der Massenproteste gegen den inzwischen gestürzten Präsidenten allerdings neutral verhalten. Mit ihrem Austritt aus den Gesprächen bringt »Das Licht« nun allerdings auch das Vorhaben der Armee zum Scheitern, möglichst alle Gesellschaftsgruppen in der neu zu bildenden Regierung zu vereinen. Ägypten droht damit eine weitere Radikalisierung der Mursi-Anhänger.

Eine neue Extremistengruppe namens Ansar Al-Scharia hatte nach einem Reuters-Bericht vom Sonntag bereits vor dem Massaker im Internet mit Anschlägen gedroht. Die Absetzung Mursis sowie die Schließung von TV-Sendern und der Tod von islamistischen Demonstranten liefen auf eine Kriegserklärung gegen den Islam in Ägypten hinaus, erklärte die Gruppe.

** Aus: junge welt, Dienstag, 9. Juli 2013


Außer Kontrolle

Islamisten rufen zum Aufstand auf

Von Werner Pirker ***


Die ägyptischen Islamisten sind offenbar nicht gewillt, ihre Entmachtung durch die Streitkräfte hinzunehmen. Sie sehen sich in der Rolle von Verteidigern der legitimen, auf den demokratischen Errungenschaften von 2011 beruhenden Ordnung und die Militärs in der Rolle ruchloser Usurpatoren. Die einjährige Regierungszeit der Moslembrüder war allerdings ebenso wie die ihr vorausgegangene Militärherrschaft von dem Bestreben gekennzeichnet gewesen, die Volkssouveränität möglichst in Grenzen zu halten. In dieser Absicht dürfte auch der jüngste Militärputsch erfolgt sein. »Das Volk will den Sturz des Regimes«, skandierten die Millionenmassen – und die Armee kam dieser Bitte nach. Das war es vorerst wieder mit der Volkssouveränität.

Die Generäle haben den vor einem Jahr gebildeten Ordnungsblock mit den Islamisten aufgekündigt. Doch sie wissen auch, daß es sich in einem Land wie Ägypten nicht gegen den politischen Islam regieren läßt. Deshalb haben sie die Salafisten in die neuen Machtstrukturen zu integrieren versucht. Doch die verlangten einen zu hohen Preis und scheinen inzwischen eher willens zu sein, sich dem Aufruf der Moslembrüder zum Aufstand gegen die Ungläubigen anzuschließen. Der von der westlichen Wertegemeinschaft in Syrien nach Kräften unterstützte Dschihad gegen das säkulare Assad-Regime hat auch Ägyptens Glaubenskrieger in Stimmung gebracht und könnte eine vom Westen nicht mehr beherrschbare Entwicklung auslösen.

Der »arabische Frühling«, der sich zuletzt mehr im Einklang mit der westlichen Hegemonialpolitik als in Gegnerschaft zu ihr zu entwickeln schien, verläuft, zumindest was Ägypten betrifft, nicht mehr nach westlichen Planvorgaben. Zwar waren die US-Dienste mit großer Wahrscheinlichkeit in die Putschpläne des ägyptischen Militärs eingeweiht. Doch die volle Kontrolle über die Situation haben sie längst verloren. Sie folgen der Logik der Ereignisse, doch sie bestimmen sie nicht mehr. Strategisches Ziel des westlichen Hegemonialkartells ist es, den arabischen Aufruhr im kapitalistischen Rahmen zu halten und falls möglich der eigenen »Regime Change«-Strategie dienstbar zu machen. Der Islamismus – in seiner gemäßigten, wie in seiner radikal-terroristischen Variante – bot sich dafür als temporärer Verbündeter an.

Doch auch der politische Islam ist kein homogener Block. Allein ein breites Bündnis aus islamischen und säkularen Kräften kann einen revolutionär-demokratischen Bruch mit der Oligarchie herbeiführen. Es wäre verheerend, wenn sich die gesellschaftlichen Konflikte in einem Kulturkampf zwischen Islamisten und säkularen Kräften entladen würden, denn aus einem solchen würden Islamisten und Oligarchie als Sieger hervorgehen. Die Millionen, die gegen die regierende Moslembruderschaft demonstrierten, bildeten überwiegend gläubige Menschen. In diesen Tagen wurde die Frontlinie vom sozialen Antagonismus bestimmt – eine Errungenschaft, die nicht verschenkt werden sollte.

*** Aus: junge welt, Dienstag, 9. Juli 2013 (Kommentar)


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