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Verrat der Militärs

In Ägypten geht die Übergangsregierung mit Tausenden Prozessen gegen Protestierende vor. Bis zu 50000 Verurteilte

Von Cam McGrath, Kairo (IPS) *

Nach dem Sturz des früheren Staatschefs Hosni Mubarak hat der als Übergangsregierung etablierte Militärrat (SCAF) eine eiserne Diktatur über Ägypten errichtet. Vor allem die Verfolgung von Zivilisten durch Militärgerichte stößt zunehmend auf den Protest von Menschenrechtsorganisationen. So wurden allein in den vergangenen drei Monaten in mehr als 7000 Prozessen häufig im Minutentakt Zivilpersonen von solchen Gerichten verurteilt. Die Anklagen lauteten auf Brandstiftung, Plünderung oder Verstöße gegen die nächtliche Ausgangssperre. Auch politisch motivierte Proteste und Kritik an der amtierenden Regierung wurden geahndet. Der Anwalt und Rechtsaktivist Adel Ramadan von der Ägyptischen Initiative für Bürgerrechte (EIRP) spricht von einer Härte der Justiz in nie da gewesenem Ausmaß. »Da sich in einem einzigen Schnellverfahren bis zu 35 Beschuldigte zu verantworten hatten, schätzen wir die Zahl der verurteilten Zivilisten auf über 50000«, sagte er der Nachrichtenagentur IPS. Die Situation sei heute schlimmer als vor dem Regimewechsel: »Selbst unter Mubaraks Regierung gab es im Jahr kaum mehr als drei Militärprozesse.«

Keine Revision

Bei den Verhandlungen bleiben die Beschuldigten ohne juristischen Beistand und werden schnell zu hohen Strafen verurteilt. Selbst gegen Todesurteile gibt es keine Revision. Dies sei besonders bedenklich, meinte Ramadan, da Offiziere dafür bekannt seien, Geständnisse auch durch Folter zu erpressen. »Als Verteidiger sind nur dem SCAF genehme Anwälte zugelassen, die lediglich eine juristische Show abliefern«, berichtete er. »Sie können höchstens fünf Minuten mit ihrem Klienten sprechen und die Anklageschrift einsehen, bevor sie den Fall einem Militärrichter vorlegen.«

Viele Ägypter hatten die Soldaten bejubelt, die während der Massendemonstrationen gegen Mubaraks Regime ausgerückt waren. »Das Volk und die Armee sind eins«, sangen sie damals. Doch der von Mubaraks ehemaligem Verteidigungsminister Mohammed Hussein Tantawi geführte SCAF hat dieses Vertrauen schnell verspielt. Als ehemaliger Militärgefangener klagte der Journalist Rasta Azab gegen den Beschluß der Übergangsregierung, Zivilisten vor Militärgerichte zu stellen. Die Behörden schmetterten die Anklage jedoch als »Versuch, die Beziehungen zwischen Volk und Militär zu zerstören« ab.

Einmischen

Dagegen macht jetzt die Menschenrechtsgruppe »No to Military Tribunals« mobil. Zu den Initiatoren gehört Mona Seif, die im Februar gemeinsam mit ihrer Mutter erlebt hatte, wie brutal das Militär auf dem Tahrir-Platz in Kairo gegen friedliche Demonstranten vorgegangen war. Sie mischten sich ein und erreichten, daß die Soldaten einen verhafteten 33jährigen Demonstranten freiließen. Seif berichtete IPS, der Mann sei später wieder festgenommen, gefoltert und von einem Militärgericht zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Erst auf Druck der Medien nehme die Öffentlichkeit von solchen Fällen Notiz, betonte die Aktivistin. Allerdings seien die großen Menschenrechtsgruppen und Medien mehr am Schicksal weithin bekannter politisch profilierter Aktivisten interessiert als an den kriminellen Übergriffen, die viele Menschen seit dem Sturz Mubaraks erleiden mußten. »Wir wollen mit unserer Kampagne auch erreichen, daß sich das öffentliche Interesse nicht nur auf die wenigen hundert Demonstranten richtet, die das Militär festgenommen hat, sondern auch auf die übrigen Zehntausenden, die aus anderen Gründen verhaftet wurden«, erklärte Seif.

* Aus: junge Welt, 17. Mai 2011


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