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"Wir wollen den Machtwechsel"

Gespräch mit Amin Iskander über die Ziele der ägyptischen Oppositionsbewegung*

Frage: Sie haben in den vergangenen Tagen bei Veranstaltungen mit jeweils 500 bis 1000 Teilnehmern in Port Said, Fayoum und anderen ägyptischen Städten zum Boykott der Präsidentenwahl am 7. September aufgerufen. Ende Juli noch waren Sie und 35 weitere Anhänger der ägyptischen Oppositionsbewegung bei einer Demonstration in Kairo mißhandelt, festgenommen und in eine Militärkaserne abtransportiert worden. Wie geht Hosni Mubarak jetzt, kurz vor der Wahl, mit seinen Kritikern um?

In einigen Provinzen sind in den letzten Wochen Anhänger der Bewegung zu Verhören auf die Polizeistationen einbestellt worden. Hier und da kam es zu Verhaftungen, aber meistens nur für einige Stunden. Das Regime wollte uns offenbar zeigen, daß es die Macht hat und präsent ist, aber die Gewalt hat nachgelassen. Bei einer Demonstration von Schriftstellern und Intellektuellen war das Polizeiaufgebot riesig: 20000 Polizisten bei rund eintausend Teilnehmern. Aber es ist nichts passiert. Auch in Fayoum ging es friedlich zu, und bei einer Demonstration Ende August auf dem Talaat-Harb-Platz mitten in Kairo ist ebenfalls nichts passiert. Ich denke, das Regime will die Straße nicht provozieren. Die Präsenz der Satelliten-Fernsehsender spielt natürlich auch eine Rolle, und der internationale Druck auf das Regime Mubarak ist ebenfalls nicht zu unterschätzen. Die Frage ist aber, wie sich die Situation nach den Wahlen entwickelt. Die internationale Aufmerksamkeit wird dann sicher erst einmal nachlassen, und die Repression könnte wieder zunehmen.

F: Sie gehören zu den Mitbegründern der ägyptischen Bewegung für Veränderung, die unter dem Slogan »Kifaya« (Es reicht) für einen Regierungswechsel agiert. Beschreiben Sie einmal die Ziele der Bewegung?

Im Schatten der Notstandsgesetze ist seit den achtziger Jahren ungeheurer Reichtum aus dem Land geschafft worden. Ägypten ist heute so arm, daß wir unter ähnlichen Umständen leben wie vor der Revolution von Abdel Nasser im Jahr 1952. Wir wollen den Machtwechsel auf der Basis einer Verfassungsänderung, die echte demokratische Wahlen erlaubt, und die Abschaffung aller Gesetze, die die bürgerlichen Freiheiten einschränken. Außerdem müssen die drängendsten sozialen Probleme endlich angegangen werden, vor allem die hohe Arbeitslosigkeit. In Ägypten hat schätzungsweise ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung kein Erwerbseinkommen. Die anstehenden Präsidenten- und Parlamentswahlen halten wir für nicht legitim. Deshalb rufen wir als Bewegung zum Boykott auf.

F: Im Frühjahr 2005 stellte die US-Botschaft in Kairo über eine Million Dollar für die »Förderung der Demokratie und der Zivilgesellschaft« in Ägypten zur Verfügung. Nur eine Handvoll ägyptischer Organisationen war bereit, diese finanzielle Unterstützung anzunehmen. Ausgerechnet ein Mitbegründer Ihrer Oppositionsbewegung, Saad Eddin Ibrahim, hat jahrelang umfangreiche US-amerikanische Hilfe angenommen. Ayman Nour, ebenfalls ein Mitbegründer von »Kifaya«, wurde im Frühjahr 2005 von der US-Botschaft in Kairo zum persönlichen Gespräch geladen. Wie steht die Kifaya-Bewegung zur US-Finanzierung?

Es gibt keine Beziehungen zwischen der »Kifaya«-Bewegung und Saad Eddin Ibrahim oder zu anderen Individuen bzw. Organisationen, die vom Ausland finanziert werden. Wir waren seit unserer Gründung immer gegen ausländische Finanzierung der zivilen Gesellschaft, sei es durch die USA oder einige europäische Staaten. Von Organisationen, die bereit waren, Gelder anzunehmen, haben wir uns ausdrücklich distanziert. Wir haben uns auch dagegen ausgesprochen, UN-Wahlbeobachter zuzulassen, weil wir darin einen Versuch sehen, die zivile Gesellschaft bei uns zu korrumpieren und uns als Bewegung unsere Glaubwürdigkeit zu nehmen. Die ägyptische Bevölkerung ist sehr empfindlich, was ausländische Geldgeber angeht.

F: Wie finanziert sich Ihre Bewegung?

»Kifaya« ist ein Zusammenschluß von Individuen. Parteien und Organisationen können nicht aufgenommen werden. Jeder, der kann, zahlt einen Beitrag. Wir haben einige wohlhabende Akademiker und Unternehmer im Boot, die sich politisch engagieren. Dr. Abul Ghal, ein Professor für Fortpflanzungsmedizin, ist dabei, der Unternehmer Hani Enan und andere engagierte Geschäftsleute.

F: In Ägypten gibt es seit Jahren Protest, aber es wurde nie eine breitere Bewegung daraus. Wie erklären Sie sich, daß die Opposition gerade jetzt an Fahrt gewinnt?

Erstens haben Forderungen nach Demokratie in Ägypten eine lange Tradition. Bei uns entstand schon im Jahr 1860 das erste Parlament. Die Ägypter machten sich frühzeitig das Prinzip der repräsentativen Demokratie zu eigen. Doch nach dem Tod von Nasser 1970 herrschte der Ausnahmezustand. Unter Mubarak wurde dieser Zustand zur Normalität. Das politische Leben in Ägypten kam in den 24 Jahren seiner Herrschaft nahezu zum Stillstand. Aber ökonomisch schafften die Ägypter es immer, irgendwie zu überleben. Sie gingen in die arabischen Golfstaaten, um den Unterhalt der Familien in Ägypten zu verdienen. Mittlerweile ist aber auch dort nicht mehr viel zu verdienen. Gleichzeitig werden die Quellen des nationalen Reichtums verkauft – im Rahmen der sogenannten Privatisierung. Tausende Arbeiter und Produktivkräfte in Ägypten sind auf die Straße gesetzt worden. Immer mehr Ägypter können nicht mal mehr ansatzweise würdig leben. Das Faß läuft über. Manche Väter machen drei Jobs parallel, nur um die Familie vor dem Hunger zu bewahren. Natürlich gibt es auch internationale Faktoren, die es zur Zeit erleichtern, Demokratie zu fordern. Aber die Sehnsucht nach Veränderung ist in Ägypten hausgemacht. Eine ganze Generation hier hat nur Hosni Mubarak an der Macht gesehen! All die jungen Leute von heute kennen nichts anderes als den Ausnahmezustand, Verzweiflung, willkürliche Verhaftungen und Armut. Und jetzt soll unser republikanisches System auch noch zu einer Erbregentschaft umfunktioniert werden. Wegen all dem sind die Ägypter auf die Straße gegangen. So ist die Kifaya-Bewegung entstanden.

F: Die politischen Parteien genießen in Ägypten wenig Vertrauen. Wie wollen Sie es schaffen, die Bewegung zu vergrößern und gleichzeitig der Institutionalisierung zu entgehen?

Wir sind keine Partei, und wir werden keine werden. Wenn die Bewegung anfängt, sich zu institutionalisieren, fallen wir auseinander, und das wäre schlecht. Wir müssen eine lose Initiative bleiben. Wenn z. B. in 15 Provinzen demonstriert wird, müssen die Leute in jeder Provinz sich selbst aussuchen können, wo ihre Demo stattfinden soll – solange der Ort zivil ist und nicht religiös. Wir demonstrieren vor Gerichtsgebäuden und historisch bedeutsamen Orten. Wir wollen eine staatsbürgerliche Kraft sein, die echte Änderungen fordert. Das politische Kräfteverhältnis in Ägypten ist traditionell geprägt von der Macht der herrschenden Clique und der Sicherheitsinstitutionen auf der einen Seite und auf der anderen Seite von den Muslimbrüdern als Bewegung und als geistig-ideologische Strömung. Dies waren bislang die beiden Kräfte, die hauptsächlich miteinander konkurrierten. Die einen waren an der Macht, die anderen in der Opposition. Wir sehen uns als dritte Kraft: eine Kraft, die vor allem für soziale Gerechtigkeit und eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes einsteht.

F: Bislang sagt die Oppositionsbewegung vor allem, was sie nicht will. Wie sieht das politische Programm der Bewegung aus?

Die Frage wird uns häufig gestellt: »Schluß mit Mubarak, okay, aber was ist die Alternative?« Wir wollen einen Gesellschaftsvertrag, der die Basis für ein neues Verfassungsprojekt werden könnte. Aber wir sind keine Partei. Bei uns sind die unterschiedlichsten politischen Richtungen der ganzen Gesellschaft vertreten. Die gemeinsame Losung ist: staatsbürgerliche Rechte und Anteil am nationalen Wohlstand für alle.

F: Wer soll diesen Gesellschaftsvertrag verabschieden, und wer sind die Verfasser?

Wir haben bisher drei Basisdokumente herausgegeben, die eine Art Prinzipienerklärung und Ideen für die Zukunft Ägyptens enthalten, mit verfaßt von Juristen und Politikwissenschaftlern wie Nadir Fergany, Mustafa Kamel Es-Sayid, Dr. Muhammad Said Idris, Dr. Mohammed Sayid Said, Dr. Said Sattal von den Muslimbrüdern und Gamal Fahmi vom Rat des Journalistenverbandes. Diese Dokumente müssen breit diskutiert werden, und wir planen schon seit Juni eine nationale Konferenz mit mehreren hundert Mitgliedern aus verschiedenen Organisationen. Aber wir haben bislang keine behördliche Erlaubnis erhalten, uns zu versammeln. Es gibt noch ein Papier, das wir die »Anliegen der Epoche« nennen. Wir haben uns mehrmals getroffen und beraten, wie ein Übergang zur Demokratie aussehen könnte. Es sollte in einer Übergangsphase eine Regierung der nationalen Einheit geben, mit drei Zielen: Abschaffung des Ausnahmezustandes, Überwachung der Parlamentswahlen durch wirklich unabhängige Richter und Trennung der staatlichen Institutionen von der herrschenden Quasieinheitspartei NDP, die die Medien und die lokalen Machtstrukturen kontrolliert. Es ist unmöglich, neutrale und faire Wahlen abzuhalten, solange der Staat und die Einheitspartei so eng miteinander verbunden sind wie jetzt. Wenn diese Übergangsphase vorbei ist, sollte man eine neue Verfassung verabschieden und echte freie Präsidentschaftswahlen abhalten. Die Amtszeit des Präsidenten sollte auf zweimal vier Jahre begrenzt werden.

F: Es gibt Befürchtungen, daß sich nach einem Machtwechsel neoliberale Akteure noch mehr ausbreiten und sich die bereits jetzt sehr prekäre wirtschaftliche Situation der Ägypter weiter verschlimmert; durch noch mehr Privatisierung, noch mehr Entstaatlichung. Welche wirtschafts- und sozialpolitischen Konzepte haben Sie?

Wir haben kein ausgefeiltes, detailliertes Wirtschaftsprogramm, weil wir keine politische Partei sind. Es gibt unter uns Liberale, Kommunisten, Islamisten. Wir alle wollen Demokratie. Für den Rest sind die Parteien zuständig. Kifaya hat aber Eckpunkte für die Wirtschafts- und Sozialpolitik verabschiedet, die schriftlich vorliegen. Wir haben gegen Arbeitslosigkeit demonstriert, gegen Privatisierungen, für mehr soziale Gerechtigkeit, gegen Korruption. Mehr können und wollen wir nicht machen. Die Details müssen von den Parteien kommen.
»Kifaya« ist wie ein Pfeil, der gegen die Diktatur abgeschossen wird. Ist das System erst einmal gestürzt, dann können die Beteiligten zu ihren unterschiedlichen Programmen zurückkehren.

F: In der Oppositionsbewegung sind Linke und Islamisten vereint. Manche Linke befürchten allerdings, die Muslimbrüder wollten die Bewegung nutzen, um ihren Einfluß auszubauen. Die Muslimbrüder gelten als am besten organisierte politische Kraft in Ägypten, und man geht davon aus, daß sie bei freien Wahlen aus dem Stand 25 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen würden. Sehen Sie die Gefahr, daß die Oppositionsbewegung von den Muslimbrüdern geschluckt wird?

Zwischen der Führung der Muslimbrüder und dem Regime gibt es schon seit den siebziger Jahren heimliche Deals, Katz- und Mausspiele, mit denen wir nichts zu tun haben wollen. Die Muslimbrüder sind nicht offiziell anerkannt, aber sie handeln unter dem Tisch immer wieder Abkommen mit den Mächtigen aus. Sie würden das Regime deshalb nicht direkt herausfordern. Auf der anderen Seite realisieren sie, daß die demokratische Opposition durchaus Mobilisierungspotential besitzt. Das möchten sie nutzen, und sie würden Kifaya gern vereinnahmen. Für uns ist das ein Problem.
Aber es gibt ja innerhalb der Muslimbrüder auch Leute, die das Lavieren ihrer Führung kritisieren und die für eine Modernisierung plädieren. Wenn diese Kräfte sich autonom organisieren würden, hätten wir akzeptable Partner. Aber letztlich sind wir ja ein Zusammenschluß von Einzelpersonen. Und die Muslimbrüder in unseren Reihen sind als Individuen dabei, nicht als Parteimitglieder oder Vertreter einer Organisation. Insgesamt bin ich zuversichtlich, daß mittelfristig auch die Muslimbrüder die Ideen der zivilen Gesellschaft akzeptieren werden. Die Zeit der festgefügten, allumfassenden Ideologien ist vorbei.

F: Sie waren früher in der Führung der nasseristischen Partei und haben jetzt eine neue linke Partei gegründet, »Karama« (Würde). Was sind die wichtigsten Programmpunkte der Partei, und was unterscheidet sie von anderen linken Miniparteien in Ägypten?

In unseren Reihen gibt es neben der Mehrheit der Nasseristen auch unorganisierte Islamisten und Marxisten. In bezug auf die Wirtschaft fordern wir soziale Gerechtigkeit und eine auf den Binnenmarkt ausgerichtete Wirtschaftsplanung. Der Staat muß präsenter sein als jetzt, die Privatisierungen müssen aufhören. Die Karama-Partei gründet auf das Modernisierungsprojekt Abdel Nassers. Wir wollen den Nasserismus aber nicht ideologisch verabsolutieren, sondern die positiven Aspekte herausgreifen und fortentwickeln. Wir alle glauben, daß eine Lösung der Probleme in der Demokratie und im Regimewechsel liegt und nicht in der Revolution. Wichtig ist uns, die arabische Identität neu zu definieren und sie in Bezug zu den spezifisch ägyptischen Interessen zu setzen.

F: Warum das Beharren auf dem Arabertum? Hat der arabische Nationalismus bei der Lösung der Probleme nicht völlig versagt?

Das kommt auf die Perspektive an. Selbstverständlich ist es Unsinn, wie früher auf einen Führer zu warten, der die arabische Einheit herstellt. Wir müssen Minderheiten schützen und achten, ebenso wie andere Kulturen und Völker. Wenn ich arabische Einheit sage, dann meine ich vor allem die arabische Identität. Wir Ägypter sind Araber. Ägyptens Sicherheit ist mit der Palästinas, des Sudans, Libyens verknüpft; wir haben keine Wahl. Eine starke Identität gibt uns in der heutigen Welt Stärke und verschafft uns eine bessere strategische Position. In einer Zeit, da sich alle in Blöcken organisieren, ist es Unsinn, daß die arabischen Staaten jeweils ihr eigenes Süppchen kochen. Entscheidend ist aber, daß die Zusammenarbeit von den Bürgern ausgeht, daß sie von unten gestaltet wird und daß die Menschen das Arabertum nicht von irgendwelchen politischen Führern aufgezwungen bekommen. Es ist auch nicht nötig, daß ein arabischer Staat eine Führungsrolle übernimmt. Die Araber sollen einander ergänzen.

* Amin Iskander gehört zum nationalen Koordinationsrat der äyptischen Oppositionsbewegung. Der studierte Landwirtschaftsingenieur war Mitbegründer und jahrelang Führungsmitglied der linksgerichteten »Nasseristischen Partei«. 1997 trat er aus. Der 53jährige gehört zu den Mitbegründern der Oppositionsbewegung »Kifaya« und der Linkspartei »Karama«

Interview: Martina Sabra

Aus: junge Welt, 3. September 2005 (Wochenendbeilage)


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