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Weiter Willkür in Ägypten

Übergriffe von Sicherheitskräften bleiben auf der Tagesordnung und meist ungeahndet

Von Juliane Schumacher, Kairo *

Die juristische Aufarbeitung der Ära Mubaraks kommt in Ägypten nur zäh voran. Vollkommen außen vor bleiben dabei die Verbrechen von Polizei und der Sicherheitspolizei Amn el-Dawla.

Es gibt Momente, in denen die Revolution und ihre Errungenschaften noch einmal wirklich deutlich werden: Als sich jetzt der Todestag des Bloggers Khaled Said jährte, der von Mubaraks Polizei auf offener Straße totgeprügelt wurde, da zog eine Menge von rund tausend Demonstranten vors Innenministerium, rief Slogans gegen Folter und Polizeigewalt und sprühte das Konterfei Saids über die ganze Mauer des Ministeriums, vor den Augen der Polizei. »Unglaublich«, kommentierten fast alle, die zusahen, fotografierten, »nie im Leben hätte ich geglaubt, dass das einmal möglich sein würde!«

Der Moment des Triumphs ist die eine Seite der Medaille, die andere, dass vier Monate nach Mubaraks Rücktritt immer noch – oder wieder – Protest gegen Polizeigewalt nötig ist. Die Köpfe des alten Regimes, Mubarak, seine Söhne, Minister, sind inzwischen alle in Haft oder Haft gewesen. Auch wenn Beobachter davon ausgehen, dass viele der Prozesse verschleppt oder gegen Zahlungen eingestellt werden wie im Fall Suzanne Mubaraks – immerhin laufen Prozesse. Einer Aufarbeitung dessen, was Polizei und die Sicherheitspolizei Amn el-Dawla unter Mubarak verbrochen haben, fehlt indes komplett: Diese haben nicht nur willkürlich Menschen verhaftet, sondern auch systematisch gefoltert und getötet. Einer ägyptischen Menschenrechtsorganisation zufolge hat rund ein Viertel der in den letzten Jahren Mubaraks Festgenommenen die Haft nicht überlebt.

Juristische Folgen gibt es für die Täter bisher nicht: Gegen die Mörder Khaled Saids wurde zwar aufgrund des hohen öffentlichen Drucks ein Prozess eingeleitet, nach einem Jahr gibt es jedoch noch immer kein Urteil, dieses wird wieder und wieder vertagt. Dasselbe gilt für die Sicherheitskräfte, die während der Revolution zusammen mit bezahlten Schlägern über 800 Menschen töteten. Bisher gab es ein einziges Urteil.

In den letzten Wochen hatten die Angehörigen der »Märtyrer« der Revolution immer wieder protestiert oder zu Besetzungen aufgerufen, zuletzt am 3. Juni, nachdem wichtige Prozesse erneut um Wochen vertagt wurden. Mehrmals gab es schwere Auseinandersetzungen im Gerichtssaal. Es geht bei den Protesten nicht nur um eine Aufarbeitung der Vergangenheit – die Angst ist groß, dass sich dieselben Praktiken fortsetzen, wenn keine Maßnahmen dagegen ergriffen werden. Und die bisher einzige Maßnahme war die Ankündigung, in der Nachfolgeorganisation der Sicherheitspolizei, Amn el-Watani, einen Teil der bisherigen Beamten auf andere Polizeieinheiten zu verteilen. Mit der Folge, dass Ägypten auch nach Mubaraks Rücktritt bereits wieder Foltertote zu beklagen hat: Vergangene Woche prügelten Polizisten auf der Azbakiya-Polizeistation in Kairo einen Minibus-Fahrer zu Tode, den sie nach einem Streit bei einer Kontrolle festgenommen hatten. Eine wütende Menge versuchte daraufhin die Polizeistation zu stürmen, zündete Autos an, es gab mehrere Verletzte.

Diese Kontinuität von Willkür und Gewalt führt dazu, dass ein Großteil der Bevölkerung der Polizei ihr Verhalten vor und während der Revolution nicht verziehen hat. Während der Revolution war die Polizei verschwunden, auch nach Mubaraks Rücktritt war für 40 Tage keine Polizei zu sehen. Als die ersten Einheiten auf die Straße geschickt wurden, wurden sie von wütenden Menschenmassen gejagt, ein Polizeiwagen wurde angezündet, zwei Polizisten kamen darin um. In manchen Städten wie Suez, wo besonders heftige Kämpfe stattfanden, ist es für die Polizei weiterhin unmöglich, auf die Straße zu gehen, für die öffentliche Ordnung sorgen das Militär oder die Menschen selbst. Aber auch in Kairo erscheint nur ein geringer Prozentsatz der Polizisten zur Arbeit – obwohl die Regierung nach der Revolution den Lohn der Polizisten verdoppelt hat. Auch das ein Grund zum Protest: »Wenn sie nicht arbeiten, sollen sie auch keinen Lohn erhalten«, fordert eine Aktivistin. »Und warum findet nicht endlich eine Säuberung der Polizei statt?«

* Aus: Neues Deutschland, 11. Juni 2011


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