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Kairos Straßenhändler unter Druck

Von der Polizei aus dem Stadtzentrum vertrieben, verlieren viele ihren Job

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Die ägyptische Regierung hat am Wochenende begonnen, Tausende Straßenhändler aus dem Stadtzentrum Kairos zu vertreiben. Ein Großaufgebot der Polizei geleitete Hunderte Menschen, die in der belebten Einkaufsstraße Talaat Harb nahe des Tahrir-Platzes im Herzen der Hauptstadt ihre Stände betrieben hatten, zu einem von der Regierung bereitgestellten Areal am Busbahnhof Turgoman in Innenstadtnähe. Sie lieferte sich kleinere Auseinandersetzungen mit protestierenden Händlern, die keinen der begrenzten Standplätze abbekommen hatten oder mit Gewalt vertrieben wurden. Allein in der Talaat-Harb-Straße wurden Dutzende Mannschaftswagen und Hunderte Beamte postiert, die mit Schußwaffen ausgerüstet vor beinahe jedem Gebäude Spalier standen. Auch die Armee war mit Panzern angerückt, um Händler daran zu hindern, ihre alten Standplätze wieder einzunehmen. Nach Angaben ägyptischer Behörden und der Straßenhändler-Berufsgenossenschaft ist auf dem Areal beim Busbahnhof Turgoman Platz für rund 1700 Verkaufsstände.

Ein Tropfen auf dem heißen Stein, heißt es aus den Reihen der Genossenschaft und der Händler, die an anderen Orten im Stadtzentrum ihre Waren feilboten. Allein im Großraum Kairo wird die Anzahl fliegender Händler auf über 100000 geschätzt. Andere Quellen sprechen von mehreren Millionen Straßenhändlern landesweit. Die Regierung des seit Juni 2014 amtierenden Präsidenten Abdel Fattah Al-Sisi machte die Händler zuletzt immer wieder für die anhaltenden Verkehrsprobleme in Kairo verantwortlich. Sie würden auf den ohnehin völlig überlasteten Straßen den Verkehrsfluß noch zusätzlich beeinträchtigen. Zudem wird ihnen vorgeworfen, keine Steuern zu zahlen und für die angespannte Sicherheitslage im Land mitverantwortlich zu sein.

Turgoman soll nach Angaben der Regierung nur eine Übergangslösung sein, bis an anderer Stelle ein neuer größerer Platz für die Händler gefunden ist. Die Versprechen werden von Genossenschaft und Händlern jedoch skeptisch betrachtet. Zudem beklagen Händler, daß Turgoman zu weit abseits der Geschäftsstraßen liege und die Laufkundschaft ausbleiben werde. Dabei verlangen die Händler lediglich einen angemessenen Ort für ihre Stände und ein Ende der staatlichen Repression. Auch am Sonntag kam es zwischen Händlern und Beamten zu teils gewaltsamen Auseinandersetzungen, da die Vergabe der rund 1700 Standplätze nach Genossenschaftsangaben intransparent und unfair vonstatten gegangen sein soll.

Menschen, die wie Straßenhändler im informellen Sektor arbeiten, werden in Ägypten weiter konsequent kriminalisiert. Meist haben Händler keine Lizenz und sind der Willkür der Polizei ausgeliefert. Diese ging zuletzt verstärkt mit Gewalt gegen Straßenhändler vor, ließ viele vorübergehend verhaften und ihre Ware konfiszieren. Händler müssen immer wieder Beamte bestechen, um ihre Arbeit fortsetzen zu können oder ihre beschlagnahmte Ware zurückzuerlangen. Die Korruption im Polizeiapparat hat sich seit der Revolution 2011 noch weiter verstärkt und setzt Händler somit zusätzlich unter Druck.

Zudem hat die andauernde politische Instabilität und die regelmäßig aufflammende politische Gewalt dem Tourismussektor Ägyptens, der etwa ein Viertel der landesweiten Arbeitsplätze bereitstellt, einen heftigen Schlag versetzt. Viele Menschen, die ihre Jobs in der Branche verloren haben, halten sich heute als Tagelöhner oder Straßenhändler über Wasser. Die Vorwürfe der Regierung gegenüber den Händlern sind vor allem deshalb kritisch zu sehen, weil die politische Führung am Nil kaum Anstrengungen unternommen hat, um Arbeitsmöglichkeiten für Menschen bereitzustellen, die ihre Jobs im Tourismus verloren haben. Der informelle Sektor trägt 25 bis 40 Prozent zur gesamten Wirtschaftsleistung Ägyptens bei und ist seit der Revolution im Tourismus weiter gewachsen. Ähnlich wie in Tunesien, Marokko oder Algerien sind Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungssektor nicht in der Lage, ausreichend Arbeitsplätze bereitzustellen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 28. August 2014


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