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Hungerstreiks am Nil

Ägypten: Protest gegen das Demonstrationsgesetz weiten sich aus

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Die Proteste gegen das im November 2013 in Kraft getretene Demonstrationsgesetz in Ägypten weiten sich erneut massiv aus. Da Ägyptens Innenministerium weiterhin auf jedwede Form der öffentlichen Demonstration konsequent mit Repression reagiert, setzt auch die säkulare Opposition am Nil inzwischen auf Hungerstreiks als Protestform. Anhänger der Muslimbruderschaft protestieren bereits seit Mitte 2013 immer wieder mit diesem Mittel gegen ihre Internierung. Nachdem inhaftierte säkulare Aktivisten um den bekannten Blogger Alaa Abdel Fattah bereits Mitte August aus Protest gegen ihre Haftbedingungen und die zweifelhafte Prozeßführung in einen Hungerstreik getreten waren, schlossen sich am Wochenende zahlreiche Menschen aus Solidarität mit den Inhaftierten der Hungerstreikkampagne an. Innerhalb der Gefängnisse sind mittlerweile etwa 60 Personen im Hungerstreik, inklusive einiger Anhänger der Muslimbruderschaft. Rund 90 weitere Personen aus dem linksliberalen Lager streiken in Solidarität außerhalb der Haftanstalten.

Am Wochenende versammelten sich Dutzende Unterstützer der Aktivisten vor dem Menschenrechtsrat im Stadtzentrum von Kairo und zogen am Samstag zu den Hauptsitzen mehrerer liberaler und linker Parteien, die die Kampagne unterstützen und ihre Türen für die Streikaktion geöffnet haben. Neben der linksliberalen Verfassungspartei schlossen sich die Sozialdemokratische Partei Ägyptens, die Sozialistische Volksallianz und die sich noch in der Gründungsphase befindende linke Partei für Brot und Freiheit der Kampagne an. Zu ihren Forderungen gehört die Neufassung oder Abschaffung des Protestgesetzes sowie die sofortige Freilassung der auf Grundlage des kontroversen Regelwerks inhaftierter Aktivisten. Einer gestrigen Demonstration von rund 200 Menschen vor dem Sitz des Journalistensyndikats in Kairo begegnete das Innenministerium derweil mit der Stationierung von Polizeieinheiten vor dem Syndikatsgebäude.

Das Gesetz erlaubt dem Staat, auf Grundlage sehr vage formulierter Kriterien Demonstrationen zu verbieten, und wird von Oppositionellen und Menschenrechtsorganisationen als Instrument betrachtet, jedwede Form des unerwünschten Protestes zu kriminalisieren. Das Gesetz verstoße gegen internationale Standards und ziele darauf ab, die Opposition mundtot zu machen. Die Strafen bei Zuwiderhandlungen sind drakonisch.

Gemeinsam mit 24 anderen war Abdel Fattah im November 2013 kurz nach Verabschiedung des Regelwerkes bei einer Demonstration im Stadtzentrum Kairos wegen angeblicher Verstöße gegen das Gesetz angeklagt worden. In Abwesenheit verurteilte ein Kairoer Gericht die Angeklagten zu 15 Jahren Haft, einer Strafe von 10000 Euro und einer fünfjährigen Sonderüberwachung. Abdel Fattah und die Aktivisten Hamada Al-Nubi und Wael Metwalli wurden unmittelbar nach der Urteilsverkündung vor dem Gerichtsgebäude verhaftet, wo sie sich einer Demonstration gegen das Gesetz angeschlossen hatten. Während das Gericht Abdel Fattah, Al-Nubi und Metwalli die Freilassung auf Kaution verweigert, befinden sich die anderen 22 Angeklagten auf freiem Fuß. Das derzeit laufende Berufungsverfahren wurde am Donnerstag erneut vertagt. Auch das Berufungsverfahren gegen Abdel Fattahs 19jährige Schwester Sana Seif und 20 weitere Angeklagte wurde vertagt. Seif wurde im Juni bei einer Protestkundgebung vor dem Präsidentenpalast im Osten Kairos verhaftet. Auch ihr wird vorgeworfen, an einer nicht genehmigten Demonstration teilgenommen zu haben.

Vor allem der kompromißlose Umgang des Staates mit Abdel Fattah wirkte als Katalysator für die derzeitige Verschärfung der Proteste gegen das Gesetz, meint der Sprecher der Verfassungspartei, Khaled Dawud. Der vom Staatspräsidenten ernannte Nationale Menschenrechtsrat kündigte zwar an, zügig eine Neufassung des Gesetzes anstoßen zu wollen, doch Dawud bezweifelt die Ernsthaftigkeit der Ankündigung. Nach Dawuds Angaben sitzen derzeit elf Mitglieder seiner Partei wegen Verstößen gegen das Gesetz hinter Gittern.

* Aus: junge Welt, Montag 15. September 2014


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