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Polizeistaat am Nil

Hunderte Tote und Tausende Verhaftete: Drei Jahre nach dem Sturz von Präsident Mubarak sind die alten Repressionskräfte wieder an der Macht

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Die Streitkräfte und die Polizei sind die Schutzschilde des Landes«, erklärte Ägyptens Verteidigungsminister und Armeechef, Feldmarschall Abdel Fattah Al-Sisi, in seiner Rede in der Polizeiakademie kurz vor dem dritten Jahrestag des Beginns der ägyptischen Revolution im Januar 2014. An gleicher Stelle erklärte Interimspräsident Adli Mansour das »Ende des Polizeistaates« und sagte, der Polizeiapparat des Landes werde zu Unrecht für Verbrechen »einzelner Mitglieder und Anführer« des Innenministeriums verantwortlich gemacht. Die Glorifizierung von Armee- und Polizeiapparat kennt am Nil inzwischen keine Grenzen mehr. Seit der Absetzung von Präsident Mohammed Mursi durch die Armeeführung am 3. Juli 2013 ertrinkt das Land im Nationalismus, und das Interimsregime unter Mansour, Al-Sisi und der Übergangsregierung von Premierminister Hazem Al-Beblawi setzt alles daran, das Militär und vor allem die Polizei in der Öffentlichkeit zu rehabilitieren. Trotz andauernder Polizeigewalt auf den Straßen und in den Gefängnissen des Landes preisen regimenahe politische Kräfte den Armee- und Polizeiapparat als Garant der Stabilität und dessen unverzichtbare Rolle im »Kampf gegen den Terror«.

Die Wirklichkeit sieht indes anders aus. Während die im Dezember zur »terroristischen Vereinigung« erklärte Muslimbruderschaft seit ihrer Entmachtung im Juli 2013 das wesentliche Ziel staatlicher Repression war, hat der Staat seit November seine Kampagne gegen Andersdenkende und Oppositionelle auch auf das säkulare politische Lager ausgeweitet. Heute, drei Jahre nach dem Sturz des 30 Jahre lang autokratisch regierenden Staatspräsidenten Ägyptens Hosni Mubarak, ist der alte Polizei- und Militärstaat restauriert. Verteidigungs- und Innenministerium waren trotz Mubaraks Fall am 11. Februar 2011 keineswegs Ziel einer tiefgreifenden Strukturreform oder einer Säuberungswelle neuer politischer Kräfte. Es rollten Köpfe, jedoch nicht viele und vor allem keine aus dem Sicherheitsapparat. Mubaraks 2011 verbotene Nationaldemokratische Partei (NDP) formiert sich heute neu. Zahlreiche NDP-Kader und Weggefährten Mubaraks aus der Privatwirtschaft waren 2011 untergetaucht oder hatten aufgrund von Korruptionsklagen das Land verlassen. Ehemalige NDP-Politiker wie Ahmed Schafik sind heute politisch wie juristisch rehabilitiert, und zahlreiche neoliberal und armeefreundlich ausgerichtete Parteien buhlen um die Gunst der Generäle. Die Armee braucht ein neues ziviles Feigenblatt.

Die Entmachtung der in weiten Teilen der Bevölkerung verhaßten Muslimbrüder hat den alten Kräften wieder Oberwasser verschafft. Geschickt präsentieren sich Ägyptens Militär und das exekutive Übergangsregime als Vorkämpfer für die Rückkehr zur Demokratie und unverzichtbare Kraft im Antiterrorkampf. »In ihrem Vorgehen gegen die Bruderschaft hat sich die ägyptische Regierung den allseits bekannten Diskurs der ›Terrorismusbekämpfung‹ angeeignet, der schon während der Herrschaft Mubaraks benutzt wurde«, heißt es in einem jüngst veröffentlichten Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. »Anstatt Ägyptens Sicherheitskräfte zu zügeln, haben ihnen Behörden effektiv ein Mandat zur Repression überreicht.« Seit dem 3. Juli 2013 sind inoffiziellen Zahlen zufolge mindestens 1400 Menschen durch politische Gewalt getötet worden, meist durch die Hände von Sicherheitskräften. Nicht ein einziger Soldat oder Polizist ist nach dem Massaker bei der Räumung des Protestcamps der Muslimbrüder am 14. August 2013 an der Moschee Rabaa Al-Adawija im Osten Kairos, bei der mindestens 650 Menschen getötet wurden, zur Rechenschaft gezogen worden. Seit dem 3. Juli sind lediglich vier Anklagen gegen Sicherheitsbeamte wegen Menschenrechtsverstößen anhängig. Alle vier stehen in Zusammenhang mit dem Tod von 37 Menschen bei ihrem Transfer ins Abu-Zaabal-Gefängnis in einem Polizeitransporter im Sommer 2013. Auch während der 17 Monate andauernden Militärherrschaft unter Feldmarschall Hussein Tantawi von Februar 2011 bis Juni 2012 ist Ägyptens Justiz untätig geblieben. Nur drei einfache Soldaten wurden in dieser Zeit wegen Totschlags verurteilt.

Auf der anderen Seite geht der Sicherheitsapparat seit November 2013 vermehrt gegen die linksliberale und säkulare Opposition vor. Funktionäre und einfache Mitglieder der Revolutionären Sozialisten, der Bewegung des 6. April oder der gemäßigt islamistischen Partei »Starkes Ägypten« sind ebenso betroffen von der Welle von Verhaftungen wie Journalisten. Behörden hätten gegen sämtliche bekannten Regimegegner Haftbefehle ausgestellt, um die Opposition mürbe zu machen und zu bedrohen, sagt ein Aktivist der Revolutionären Sozialisten. Das Zentrum für soziale und wirtschaftliche Rechte, eine in Kairo ansässige Menschenrechtsorganisation, gibt an, daß zwischen dem 30. Juni und dem 31. Dezember 2013 landesweit mindestens 21317 Menschen festgenommen wurden. Die meisten sind Mitglieder oder Sympathisanten der Muslimbrüder. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Repressive Praktiken sind wieder Normalität: Internierte haben keinen Kontakt zu Anwälten, ihre Familien wissen nicht, wo sie festgehalten werden, Geheimdienst- und Polizeibeamte foltern, ohne Strafen fürchten zu müssen. Polizeistaat und Militärdiktatur am Nil sind zurück.

Stimmungsmache gegen Journalisten

Während Ägyptens Opposition unter einer massiven Kampagne gegen sich zu leiden hat, geht der Staat weiter rigoros gegen Journalisten vor. Am 29. Dezember 2013 wurden vier Mitarbeiter des englischsprachigen Ablegers des TV-Senders Al-Dschasira von der Staatssicherheit in Kairo verhaftet. Eine Mitarbeiterin wurde freigelassen, während der australische Korrespondent Peter Greste, Bürochef Mohamed Fahmy und Produzent Baher Mohamed weiter im Hochsicherheitsgefängnis Tora im Süden Kairos festgehalten werden. Der den Muslimbrüdern nahestehende Sender aus Katar, dessen ägyptischer Ableger Mubasher Misr im Sommer 2013 verboten wurde, steht damit weiter ganz oben auf der Abschußliste von Regierung und Militär. Im Januar erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen insgesamt 20 angebliche Mitarbeiter des Senders. Den vier Ausländern wird die Verbreitung von Falschinformationen und Störung der öffentlichen Sicherheit vorgeworfen, während die 16 ägyptischen Angeklagten unter Terrorverdacht gestellt wurden. Ihnen wird die Mitgliedschaft in einer »terroristischen Vereinigung« zur Last gelegt. Die zu den vier angeklagten Ausländern gehörende freie Journalistin Rena Netjes aus den Niederlanden hat inzwischen das Land verlassen. Sie habe nie für Al-Dschasira gearbeitet, sondern nur ein Interview für den Sender gegeben, gab sie zu Protokoll.

Die Organisation »Reporter ohne Grenzen« wertete Ägypten 2013 als drittgefährlichstes Land für Journalisten. Fünf Reporter wurden im Jahresverlauf getötet und mindestens 80 festgenommen. Auch 2014 ist keine Besserung in Sicht. Allein am 25. Januar wurden 19 Berichterstatter festgenommen. Seit Jahresbeginn stieg die Zahl der Verhaftungen damit auf 46 an. Ein inzwischen außer Kontrolle geratenes Problem für die nationale und internationale Presse sind Angriffe aus der Zivilbevölkerung. Immer wieder werden Reporter von Zivilisten tätlich angegriffen. Erst im Januar war ein ARD-Team Ziel einer solchen Attacke. Reportern wird oft vorgeworfen, für Al-Dschasira zu arbeiten. Die Kampagne von Regierung, Armee und alten Regimekadern, die der ausländischen Presse Spionage vorwirft und abweichende Meinungen gezielt zu diskreditieren versucht, wird vom Staatsrundfunk und dem Gros der Privatpresse am Nil mitgetragen – und befördert aggressiv die Stimmung gegen ausländische Journalisten.

Die Auslandspresse aus Europa und Nordamerika echauffiert sich seit Monaten über die schwierig gewordenen Arbeitsumstände. Dabei haben Ausländer jedoch meist wenig zu befürchten und können Verurteilungen und Haftstrafen schlicht durch Ausreise entgehen, während Ägypter die ganze Härte der Repression zu spüren bekommen, wie der Fall der Journalisten Jeremy Hodge und Hossam Meneai zeigt. Beide waren Mitte Januar in ihrer gemeinsamen Wohnung in Giza verhaftet worden. Der US-Amerikaner Hodge kam nach wenigen Tagen frei, blieb körperlich unversehrt und verließ kurz darauf das Land. Meneai wurde tagelang geschlagen und bedroht und sitzt nach wie vor in Haft.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 11. Februar 2014


Rundumschlag mit Antiterrorgesetzen

Ägyptens neue Verfassung und das im November 2013 in Kraft getretene neue Demonstrationsgesetz geben Behörden und Sicherheitskräften faktisch einen Freifahrtschein, um jedwede unerwünschte Opposition mundtot zu machen und zu kriminalisieren. Politische Aktivisten, Linke, Muslimbrüder und Menschenrechtsorganisationen können heute keine Kritik an Militär und Regierung üben oder mit Journalisten sprechen, ohne Verhaftung und Verurteilung befürchten zu müssen. Während die Vormachtstellung der Armee per Verfassung ausgebaut und die Militärgerichtsbarkeit für Zivilisten mit Verfassungsrang ausgestattet wird, kriminalisiert das neue Protestgesetz Demonstrationen und Streiks. Die politisch motivierte Verfolgung der Opposition durch Ägyptens Exekutive wird damit legitimiert.

Ein Mitarbeiter einer regional operierenden Menschenrechtsorganisation aus Kairo bezeichnet das Regelwerk als »legalen Mechanismus für die selektive Bestrafung« unerwünschter politischer Meinungen. Artikel 7 des Gesetzes verbietet Proteste, die »die allgemeine Sicherheit, die öffentliche Ordnung und die Produktion« behindern. Zudem erklärt das Gesetz viele Aktivitäten zu »Aufrufen zur Störung des öffentliches Interesses« oder zu Versuchen, den »Transport- oder Verkehrsfluß zu behindern und Privateigentum zu beschädigen«. Diese vagen Formulierungen erlauben Behörden praktisch, jede Demonstration oder öffentliche Äußerung juristisch zu verfolgen. Seit dem Anschlag auf ein Polizeihauptquartier in Kairo am 24. Januar 2014 habe eine Verlagerung der politisch motivierten Verfolgung säkularer Aktivisten eingesetzt, sagt ein Menschenrechtler. Seit dem Anschlag würden diese kaum noch auf der Basis des Protestgesetzes verhaftet und angeklagt, sondern vermehrt auf der Grundlage der Antiterrorgesetze. Das Regime hat damit seine Antiterrorkampagne gegen Islamisten auf die säkulare Opposition ausgeweitet und droht, jede Person unter Terrorverdacht zu internieren, die sich der neuen Staatsdoktrin widersetzt oder »verdächtig« erscheint.

(spn)




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