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Verschiedene Strategien

Politischer Islam: Ägyptens Muslimbrüder stehen vor einem Scherbenhaufen. Die islamische Ennahda-Partei in Tunesien hat sich dagegen gehalten

Von Sofian Philip Naceur *

Der 14. August 2013 war eine Zäsur in Ägyptens moderner Geschichte. Der Tag ist ein Symbol geworden für den repressiven Umgang des ägyptischen Sicherheitsapparates und des restaurierten alten Regimes am Nil mit der Muslimbruderschaft. Sechs Wochen zuvor war Mohammed Mursi vom Militär als Staatspräsident abgesetzt worden. Innen- und Verteidigungsministerium begannen daraufhin mit ihrer Jagd auf Anhänger des gestürtzten Präsidenten. Tausende Mitglieder und Sympathisanten der Bruderschaft wurden inhaftiert, ihre politischen Strukturen im Inland zerschlagen, und eine beispiellose Kampagne gegen die Organisation wurde lanciert. Der Aufstieg des politischen Islams in Ägypten war damit gestoppt, die Strategie der Bruderschaft, auf demokratische Prinzipien zu setzen und zugleich die Macht langfristig zu sichern, gescheitert. Die Muslimbruderschaft hatte mit dem Wahlsieg Mursis im Juni 2012 den Zenit ihrer politischen Macht erklommen und damit ihren raschen institutionellen Aufstieg im Staatsapparat Ägyptens gekrönt.

Doch nur ein Jahr nach Mursis Amtseinführung stand die Organisation vor einem Scherbenhaufen, ging es den pragmatisch ausgerichteten Islamisten der Muslimbrüder doch vor allem um eines: politische Macht. Sicher, die Bruderschaft will eine Islamisierung der Gesellschaft, doch hat sie sich strategisch angepaßt und kompromißbereiten Kadern den politischen Aufstieg erlaubt. Allerdings wollten Ägyptens moderate Islamisten zu schnell die Weichen in Richtung dauerhafter politischer Einfluß am Nil stellen. Die Muslimbruderschaft hatte sich verkalkuliert und die alten Seilschaften des 2011 partiell gestürzten Regimes Hosni Mubaraks und die feindliche Haltung des Militärapparats gegenüber der über 80 Jahre alten Organisation unterschätzt.

»Der größte Fehler, den die Muslimbrüder gemacht haben, war, mit den radikalislamistischen Salafisten der Partei Das Licht zu koalieren«, sagt Abdul Bar Zahran von der neoliberalen Partei der Freien Ägypter. Im Gegensatz zu den moderaten Islamisten Tunesiens und Marokkos setzten die ägyptischen Muslimbrüder auf einen radikalen Koalitionspartner. Die Salafisten und der politische Arm der Muslimbruderschaft, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), ließen trotz massiver Proteste gegen ihr kompromißloses Vorgehen in der verfassungsgebenden Versammlung im Dezember 2012 ein neues, islamistisches Grundgesetz durch die Institutionen peitschen. Nicht zu Unrecht wurde Mursi vorgeworfen, er würde die Macht monopolisieren. Doch Ägyptens altes Regime war immer noch mächtig und nutzte die Unzufriedenheit breiter Teile der Gesellschaft mit den damals noch regierenden Islamisten geschickt aus. Im Juli 2013 bekamen Mursi und seine Bruderschaft die Quittung für ihre verfehlte, übereifrige Machtpolitik und wurden gewaltsam gestürzt.

Derweil haben die moderaten Islamisten Tunesiens, Algeriens und Marokkos andere Wege eingeschlagen, auch um dem ägyptischen Szenario zu entgehen. Die gemäßigten Islamisten der algerischen Bewegung für die Gesellschaft und den Frieden (MSP) koalierten mit den militärnahen politischen Kräften im Land und saßen von 1997 bis 2012 auf der Regierungsbank. Der marokkanische König Mohammed VI. reagierte auf die regimekritischen Proteste in seinem Land während der arabischen Revolten 2011 mit einer partiellen Öffnung des politischen Systems. Seither stellt die moderat islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) mit Abdelilah Benkirane den Premierminister. In beiden Fällen hat die Regierungsbeteiligung die Islamisten geschwächt und kompromittiert, haben sie doch gezeigt, daß sie nicht zu progressiven politischen Reformen und spürbaren Verbesserungen der wirtschaftlichen Lage fähig sind. Algeriens MSP droht das Abtauchen in die Bedeutungslosigkeit. Marokkos PJD muß sich 2015 bei den Parlamentswahlen behaupten. Ihr droht eine empfindliche Wahlniederlage.

In Tunesien haben die moderaten Islamisten von Rachid Ghannouchis Ennahda-Partei zwar eine Mehrheit im Parlament, doch auch hier droht ihnen bei den im Herbst anstehenden Parlamentswahlen ein Verlust an Stimmen. Insbesondere Tunesiens Islamisten haben eine andere Strategie als die ägyptischen Muslimbrüder eingeschlagen. Sie pflegen zwar ebenso Verbindungen zu salafistischen Kräften im Land. Doch sie koalierten mit zwei kleinen säkularen Parteien und gingen geschickt auf die anderen politischen Lager Tunesiens zu. Nach der Ermordungen der Oppositionspolitiker Chokri Belaïd und Mohammed Brahmi in Tunis im Januar und Juni 2013 zog sich Ennahda nach Massenprotesten und einem Generalstreik schrittweise aus der Regierung zurück und machte den Weg frei für einen lagerübergreifenden politischen Übergangsprozeß. Vor der Parlamentswahl setzt Ennahda auf moderates Auftreten, auch wenn sie wie die Islamisten in Ägypten hin und wieder mit Schlägertrupps auf die Straßen zieht, Frauen angreift und versucht, die linksliberalen Strukturen an den Universitäten unter Druck zu setzen. So verkündete Ennahda bei den Präsidentschaftswahlen keinen eigenen Kandidaten aufzustellen. Die Partei strich zudem mehrere Politiker von ihren Kandidatenlisten für die Parlamentswahl, die zum radikalen Flügel der Partei zählen. Ennahda will eine Integration ins politische System.

Das ägyptische Szenario war ein Warnschuß. Ennahda muß zwar kein Eingreifen des Militärs befürchten – Tunesiens Armee ist unpolitisch und nicht ansatzweise so einflußreich wie ihre Kollegen am Nil – doch das Land hat eine entwickelte und starke Zivilgesellschaft, die seit der Revolution mehrfach gezeigt hat, daß sie mit Massenprotesten und Generalstreiks jede Regierung unter massiven Druck setzen kann, wenn sie dem Ruf der Straße nicht folgt. Tunesien wird mit dem politischen Islam leben müssen, schließlich scheint Ennahda bisher die einzige pragmatisch orientierte Partei in der Region zu sein, die fähig ist, sich auf Kompromisse einzulassen, und die aus den Erfahrungen in den Nachbarländern gelernt hat.

* Aus: junge Welt, Freitag, 15. August 2014


»Fortsetzung der Konterrevolution«

Von Sofian Philip Naceur **

Zum ersten Jahrestag der gewaltsamen Auflösung ihrer Protestcamps hat die Muslimbruderschaft in Ägypten zu landesweiten Demonstrationen aufgerufen. Anhänger der Bruderschaft hatten an der Rabaa-Al-Adawija-Moschee in Nasr City und dem Nahda-Platz in Giza rund sechs Wochen lang gegen die in ihren Augen illegitime Absetzung des islamistischen, der Bruderschaft nahestehenden Präsidenten Ägyptens Mohammed Mursi am 3. Juli 2013 protestiert. Am frühen Morgen des 14. August begannen ägyptische Sicherheitskräfte mit der gewaltsamen Räumung der beiden Protestlager. Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bezeichnete die brutale Räumung der Camps als den »schwerwiegendsten Fall unrechtmäßiger Massentötungen in Ägyptens moderner Geschichte«.

Während die Muslimbruderschaft den Jahrestag symbolisch zu nutzen weiß, um ihre Opferrolle zu pflegen und erneut ihr Fußvolk auf die Straßen zu schicken, betreibt auch das restaurierte, vom Militär dominierte alte Regime Symbolpolitik. »In einer der größten Schlachten der Geschichte gegen den Terrorismus haben Polizisten ihr Leben geopfert, um Ägypten zu beschützen«, sagte der Sprecher des Innenministeriums Hani Abdel Latif am vergangenen Samstag in Kairo. Er bezeichnete die Protestlager als »Verbrechen im Herzen der Hauptstadt« und betonte, die Regierung habe von Beginn an versucht, die Situation gewaltfrei in den Griff zu bekommen. Ägyptens Polizei werde am Donnerstag der getöteten Kollegen gedenken. Weiterhin kündigte Abdel Latif an, das Innenministerium werde gegen jede Gesetzesüberschreitung während des Jahrestags hart vorgehen.

Ohnehin geht Ägyptens Staatsapparat weiter gegen die Muslimbrüder und ihre Unterorganisationen vor. Erst vergangene Woche hatte das höchste Verwaltungsgericht am Nil den politischen Arm der Bruderschaft, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), auflösen lassen. Im Zuge der staatlich geführten Kampagne gegen die Muslimbrüder ist damit kurz vor den Parlamentswahlen auch die politische Partei der Islamisten kaltgestellt worden. Begründet wurde das Urteil mit Verstößen gegen das Parteiengesetz. So seien rund 80 Prozent der FJP-Gründungsmitglieder auch Mitglieder der zur »Terrorvereinigung« deklarierten Bruderschaft gewesen. Zudem hätten FJP-Politiker offen zur Gewalt aufgerufen, hieß in der Urteilsbegründung. Auf ihrer Website bezeichnet die FJP das Urteil als »politisch motiviert« und als »Fortsetzung der Konterrevolution«.

** Aus: junge Welt, Freitag, 15. August 2014


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