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Generäle rechnen gnadenlos ab

529 Todesurteile bei Massenprozess gegen Muslimbrüder in Ägypten *

Ein Gericht in der ägyptischen Stadt Al-Minya hat am Montag 529 Personen unter anderem wegen Mordes zum Tode verurteilt. 16 Angeklagte wurden nach Angaben der Justiz freigesprochen. Ägyptische Menschenrechtler sprachen in ersten Reaktionen von einem Skandalurteil. Die Staatsanwaltschaft in der Großstadt 250 Kilometer südlich von Kairo hatte den Anhängern der Muslimbrüder die Teilnahme an gewalttätigen Protesten und Mord vorgeworfen. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Nur 135 Verurteilte sind im Gewahrsam der Justiz. Die übrigen Angeklagten wurden in Abwesenheit verurteilt.

Es handelte sich um den Prozess mit der bisher höchsten Zahl von Todesurteilen in der Geschichte Ägyptens. Auch die Zahl der Angeklagten ist rekordverdächtig. Insgesamt bezog sich die Anklageschrift auf über 1200 Personen. Die Angeklagten hatten im Sommer 2013 gegen die Entmachtung von Präsident Mohammed Mursi durch das Militär demonstriert. Mursi-Anhänger hatten damals im ganzen Land ihrer Empörung über die Absetzung des gewählten Staatschefs Luft gemacht. Nach der blutigen Zerschlagung ihrer Protestcamps in Alexandria und Kairo durch die Sicherheitskräfte, bei der mehr als 1000 Menschen getötet wurden, kam es in der Provinz Minya zu Unruhen mit Todesopfern.

Die Staatsanwaltschaft warf den Angeklagten den Mord an einem stellvertretenden Bezirks-Polizeikommandeur, Angriffe auf Regierungsgebäude und Brandschatzung von Kirchen der Kopten vor. Das Verfahren wurde in nur zwei Tagen durchgezogen. Die Verteidigung beanstandete, sie habe keine Gelegenheit gehabt, ihre Argumente vorzubringen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 25. März 2013


Ein Urteil als politisches Signal

In Ägypten wurden über 500 Anhänger der Muslimbrüder zum Tode verurteilt

Von Oliver Eberhardt **


Im Eilverfahren hat ein ägyptisches Gericht 529 Mitglieder der Muslimbruderschaft zum Tode verurteilt. Vorgeworfen wird ihnen der Sturm auf zwei Polizeistationen.

Nie zuvor hat es in Ägypten ein Urteil gegen so viele Angeklagte gleichzeitig gegeben; nie zuvor, sind sich Verteidiger und Staatsanwälte einig, war ein Strafprozess in Ägypten, wo sich Verfahren selbst in erster Instanz über Jahre hinziehen können, so schnell vorbei.

Der zweite Verhandlungstag vor dem Strafgericht in Al-Minya, einer Stadt am Nil 250 Kilometer südlich von Kairo, hatte gerade erst begonnen, als Richter Said Jussef bereits die Urteile verkündete. 529 der Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, nur 16 freigesprochen.

Die Staatsanwaltschaft wirft den Beschuldigten, die allesamt der Muslimbruderschaft nahestehen sollen, vor, im August vergangenen Jahres am Sturm auf zwei Polizeistationen beteiligt gewesen zu sein. Dabei wurde ein Polizist getötet; vier weitere Staatsdiener wurden schwer verletzt. Vor Gericht erschienen waren nur 156 der Angeklagten; die anderen Beschuldigten befinden sich auf der Flucht oder sind auf Kaution frei.

Bereits zu Beginn des ersten Verhandlungstages hatten die Anwälte einen Befangenheitsantrag gegen den Richter gestellt, der ohne Erörterung sofort abgewiesen wurde. Am Montag verwehrten dann Sicherheitskräfte einem Großteil der Verteidiger den Zutritt zum Gerichtssaal; als diejenigen, die hineingelassen worden waren, dann versuchten, ihre Gegenargumente vorzubringen, begann der Richter damit, die Urteile zu verkünden. »Wir kamen nicht zu Wort, konnten die fast 3000 Seiten starken Ermittlungsakten nicht durchsehen, hatten keine Möglichkeit zu prüfen, über welche Beweise gesprochen wurde«, sagt Khaled el-Kumi, einer der Anwälte.

Die Todesurteile sind weitab von endgültig; allgemein wird damit gerechnet, dass wenn nicht alle, dann doch ein Großteil davon in den nächsten Instanzen wieder einkassiert wird. Doch dieser Prozess dürfte Jahre dauern. Zunächst einmal schreibt ägyptisches Recht vor, dass die Urteile dem Großmufti in Kairo zur Bestätigung vorgelegt werden, sein Spruch ist für die Justiz indes nicht bindend. Darüber hinaus werden die Verurteilten in die Berufung gehen. Mit ihnen befinden sich nun gut 1500 Menschen in Ägypten in Todeszellen. Wie oft die Strafe tatsächlich vollstreckt wird, wird nicht bekannt gegeben.

»Dieses Urteil ist ein politisches Signal«, sagt Mohammad Zaree, Leiter des Instituts für Menschenrechtsstudien. »Jeder, der sich gegen die Übergangsregierung stellt, muss damit rechnen, für Jahre im Gefängnis zu verschwinden, ohne zu wissen, was am Ende mit ihm passieren wird.« Und inhaftiert ist bereits eine große Zahl an Menschen. Aus Statistiken des Justizministeriums lässt sich errechnen, dass sich seit dem Umsturz im vergangenen Juli mindestens 16 000 Personen für wenigstens 24 Stunden im Polizeigewahrsam befanden; mindestens 8000 sitzen nach wie vor ein – Sympathisanten des abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi, aber auch junge Menschen, die einst an der Revolution gegen Präsident Husni Mubarak beteiligt waren und sich in den vergangenen Monaten gegen die Übergangsregierung stellten, in der über Generalstabschef Abdelfattah al-Sisi de facto das Militär das Sagen hat.

Ein Sprecher von Justizminister Nayer Adel Moneim Othman erklärte, das Verfahren sei nach ordnungsgemäßen Ermittlungen in »vorbildlicher Geschwindigkeit« abgeschlossen worden. »Die Beweise waren eindeutig.«

Die Stellungnahme von Übergangspräsident Adly Mansur, einem Verfassungsrichter, fällt allerdings zurückhaltender aus: Er vertraue darauf, dass alle Beteiligten in der Berufung die Gelegenheit erhalten, ihre Argumente vorzubringen.

Ob es sich bei dem Massenurteil um eine neue Linie im Vorgehen der ägyptischen Regierung gegen Kritiker handelt, oder ob sich hier ein Richter den »Krieg gegen den Terror« auf die Fahnen geschrieben hat, könnte sich schon bald zeigen: An diesem Dienstag beginnt vor dem Gericht in Al-Minya ein Prozess gegen 683 weitere Angehörige der Muslimbruderschaft.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 25. März 2013


Betriebsunfall Arabischer Frühling

Roland Etzel zu den Todesurteilen in Ägypten ***

Der ägyptische Frühling 2014 hat am Montag ein jähes Ende gefunden. Über 500 Todesurteile, das muss man wohl als bisherigen Höhepunkt im Machtrausch der Militärregierung ansehen. Und es es waren die Generäle, wer sonst? Dass der grausige Spruch das Werk eines dieses Namens werten Gerichts ist, noch dazu einer Provinzialbehörde, glaubt kein Mensch. Am wenigsten die Ägypter selbst.

Und genau das sollen sie auch. Selbst wenn es noch ein paar Begnadigungen geben mag: Hier wird, wenige Wochen vor den vom Militär angesetzten Wahlen, ein martialisches Exempel statuiert. Niemand zwischen Alexandria und Assuan soll jetzt noch einen Gedanken verschwenden an Demonstrations-, Presse- oder sogar Wahlfreiheit. Nicht dass es diese in vollendeter Form am Nil je gegeben hätte, aber die Verhältnisse hatten zwischen Februar 2011 und Juli 2013 zumindest die Entwicklung in Richtung eines demokratischeren Gemeinwesens offen gelassen.

Mit den Todesurteilen vom Montag wollen Ägyptens Generäle der Welt auch ganz unverhohlen sagen: Der sogenannte Arabische Frühling war nicht das Ende, sondern höchstens ein Betriebsunfall der ägyptischen Militärherrschaft. Und niemand widerspricht. Sogar die geistige Elite des Landes scheint dagegen nicht einmal mehr Worte zu finden.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 25. März 2013 (Kommentar)


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